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Quelle: dpa/Hannes P Albert

Interview | Flüchtlings-Großunterkünfte

"Keinerlei Privatsphäre und keinerlei Perspektive"

Eine Massenschlägerei in der Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Tegel hat gezeigt: In Großunterkünften können Spannungen schnell eskalieren. Peter Hermanns kümmert sich in Berlin um die Unterbringung Geflüchteter und kennt die größten Probleme.

rbb|24: Herr Hermanns, wie würden Sie die Lebensumstände in den Ankunftszentren und großen Geflüchteten-Unterkünften in Berlin beschreiben?

Peter Hermanns: Die Lebensumstände sind höchst prekär. Es gibt im Grunde keinerlei Privatsphäre, und es gibt auch keinerlei Perspektive, wann Menschen dort ausziehen können. Das ist ein großes Problem. Wenn Menschen nach Deutschland kommen, sind sie meiner Erfahrung nach hoch motiviert, sich hier eine Existenz aufzubauen. Es gibt immer Ausnahmen, aber in der Regel wollen sie sehr schnell die Sprache lernen, wollen arbeiten und eine Wohnung haben. Das wird aber verhindert, wenn die Aufenthaltsdauer in den Unterkünften so lange ist und die Perspektive fehlt, wann sie da raus können.

In den Unterkünften ist zudem der Raum begrenzt – mehrere fremde Menschen hausen zusammen auf zehn bis fünfzehn Quadratmetern. Was bedeutet es, so zu leben?

Ich nenne mal ein paar praktische Beispiele: Jemand möchte telefonieren und ist in einem Raum von zwölf Quadratmetern mit drei anderen. Derjenige hat keine Möglichkeit, geschützt zu reden. Natürlich gibt es Gemeinschaftsräume. Da sitzen aber auch viele und gemütlich sind die auch nicht. Noch schwieriger ist es dann, wenn jemand lernen will. Derjenige hat in seiner Umgebung keine Ruhe. Das geht alles mal im Einzelfall, aber es geht nicht für eine lange Zeit ohne Folgen. Wir schaffen uns so Probleme. Ich will nicht näher auf den Vorfall in Tegel eingehen, aber so etwas kommt nicht von ungefähr – es ist eher verwunderlich, dass das nicht öfter passiert.

Sie arbeiten nicht in Tegel und wollen daher nicht spekulieren - verständlich. Dennoch ist die Suche nach dem möglichen Auslöser für die große Auseinandersetzung dort interessant: Neben einer Alltagssituation wurden als möglicher Grund rivalisierende Volksgruppen genannt. Ganz grundsätzlich gefragt: Was kommt häufiger vor?

Ich kenne es aus der Praxis, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam in Unterkünften untergebracht sind. Natürlich gibt es da Ressentiments. Wie überall, muss man sagen - das ist ja nichts, was abhängig von Menschen mit Fluchtgeschichte ist. Als Betreiber haben wir dann die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass daraus keine Konflikte und Auseinandersetzungen entstehen. Das geht aber nur, wenn es eine angemessene Privatsphäre gibt. In Gemeinschaftsunterkünften bei maximal zwei Personen auf einem Zimmer lässt sich das in der Regel gut steuern. In den Großunterkünften entstehen die Konflikte aber verstärkt auch aus Alltagssituationen. Die Geschichte mit einer Essensschlange aus Tegel ist symptomatisch - bei so was kommt es auch immer darauf an, wie das organisiert ist. Wenn die Leute eine Stunde warten müssen, kann es zum Beispiel zu Konflikten kommen, das hatten wir hier in Tempelhof auch schon. Hygiene ist noch so ein Thema. Wenn sie eine Gemeinschaftsdusche benutzen, machen einige die Haare nach dem Duschen weg, andere nicht. Das sind Kleinigkeiten. Wenn sich das aber häuft, gibt es ein Eskalationspotenzial.

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Trotzdem gibt es auch diesen Fall: Menschen flüchten, aus unterschiedlichen Ländern und Regionen und landen hier in einer Unterkunft mit anderen, die einer Volksgruppe angehören, mit der sie in ihrer Heimat verfeindet sind. Wie realistisch ist es, das Aufeinandertreffen hier zu verhindern?

Das ist genau die Frage: Sollen sie sich denn gar nicht über den Weg laufen - oder eben doch, um einen Austausch zu ermöglichen? Wenn ich Menschen in der Unterkunft unterbringe, achte ich natürlich darauf, dass diejenigen, von denen man vermuten könnte, dass sie Konflikte in ihrem Heimatland miteinander hatten, nicht gemeinsam in einem Raum ihren Schlafplatz haben. Wir haben aber davon ausgehend gute Erfahrungen gemacht, im Rahmen von Gruppenangeboten – zum Beispiel beim Sport – Menschen zusammenzubringen. Natürlich entscheiden sich manche auch, sich weiter aus dem Weg zu gehen. Andere dagegen kommen ins Gespräch. Ich glaube, niemand, der aus einem Kriegsgebiet kommt, hat erstmal vor, Auseinandersetzungen hier weiter auszutragen. Es gibt aber Umstände, die Situationen eskalieren lassen. Wenn ich als Betreiber mitbekomme, dass es Ressentiments gibt, muss ich das aufgreifen und mit allen ins Gespräch kommen.

Kommt es in Unterkünften auch zu Radikalisierungen?

Natürlich gibt es die. Ich finde, wir sollten in der öffentlichen Diskussion aber auch mal einen Perspektivwechsel vornehmen: Die meisten Menschen haben ja gar keinen radikalen Standpunkt. Und es gibt viele andere, die sich hier entradikalisiert haben. Das hat ganz entscheidend damit zu tun, wie wir mit den Menschen umgehen. Wir müssen auf die Menschen zugehen, nah an den Menschen sein, mit ihnen reden, aber auch Raum geben für ihre Perspektive. Nur wenn sich jemand wahrgenommen fühlt, kann er von einer radikalen Sicht auf Dinge abrücken und sich einlassen auf anderes. Damit sind wir in der Vergangenheit schon erfolgreich gewesen. Natürlich gibt es Radikalisierungen. Sie sind aber nicht die einzige mögliche Entwicklung.

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In Tegel wurde kürzlich ein Drittel der Sicherheitsleute entlassen, aus Gründen, die auch mit ihrem Dienst im Ankunftszentrum zu tun haben. Wie viel Einfluss hat man denn als Betreiber einer Unterkunft überhaupt auf die Auswahl der Sicherheitsleute?

Also erstmal ist es so, dass die Sicherheitsfirmen nicht den Auftrag vom Betreiber haben, sondern vom Land Berlin. Das heißt, es gibt zwischen Betreiber und Security-Firma kein Vertragsverhältnis. Trotzdem kenne ich es so, wenn es Probleme mit Mitarbeitern gibt, dass seriöse Firmen sofort reagieren und die Leute auch austauschen. In Bezug auf das, was offenbar in Tegel geschehen ist, ist noch zu sagen: Eigentlich muss die Sicherheitsfirma Nachweise darüber erbringen, dass alle Qualifikationen vorhanden sind bei ihren Mitarbeitern - nicht gegenüber dem Betreiber, sondern gegenüber dem Land.

Der Sicherheitsdienst hat eine sehr zentrale Rolle und eine Machtposition gegenüber den Bewohnern. Worauf muss man da achten als Betreiber?

Es gibt unterschiedliche Dinge, auf die man beachten muss: Erstmal sollten Männer und Frauen sowie alle relevanten Sprachen vertreten sein beim Sicherheitsdienst, damit die Mitarbeiter auch eine andere Gesprächsebene finden mit den Bewohnern. Es ist aber gleichzeitig auch wichtig, dass nicht bestimmte Bewohnergruppen von den Securitys bevorzugt werden. Deshalb sollten an Rundgängen immer unterschiedliche Mitarbeiter beteiligt sein und in Konfliktfällen noch Leute vom Betreiber. Die Mitarbeiter der Sicherheitsfirmen müssen außerdem geschult sein für Deeskalationen. Die haben ja die Aufgabe, Konflikte zu entschärfen. Manchmal hat man aber eher das Gefühl, sie eskalieren noch weiter. Wenn wir so etwas mitbekommen, suchen wir sofort das Gespräch mit der zuständigen Firma.

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In Tegel ist die Unterkunft fast abgeschottet von der Außenwelt. Auch woanders gibt es das. Was bedeutet so eine Lage für die Integrationsmöglichkeiten?

Das ist eine eigene Kleinstadt. Selbstverständlich ist das hinderlich für Integrationsbemühungen. Einer der entscheidenden Faktoren für das Miteinander von Menschen mit Fluchtgeschichte und ohne ist das Kennenlernen, die Kommunikation, das Soziale. Es gibt eine Untersuchung über das Entstehen von posttraumatischen Belastungsstörungen, und da ist die fehlende soziale Unterstützung der Hauptfaktor als Auslöser. Wenn ich Menschen isoliere, fördere ich die Entstehung von Störungen. Im Grunde schaffen wir damit so etwas wie Ghettos. Das kann aber nicht unser Plan sein. Unser Plan muss es sein, dass wir als Gesellschaft gut miteinander harmonieren und auskommen.

Was würden Sie sich wünschen, um das besser erreichen zu können: Wird vor allem Platz benötigt? Oder eine bessere Betreuung der Geflüchteten mit mehr Personal?

Die Großunterkünfte sind dafür im Grunde völlig ungeeignet. Die sind nur an den Start gekommen, weil es keine Alternativen gibt. Es fallen uns jahrelange Versäumnisse auf die Füße – was den Bau von neuen Wohnungen angeht, aber auch was die Gemeinschaftsunterkünfte angeht, von denen manche vor dem Krieg in der Ukraine geschlossen wurden, weil man gesagt hat: Jetzt werden nicht mehr so viele Menschen kommen. Dann kam dieser Krieg und es mussten wieder neue aufgemacht werden. Zusätzlich haben wir jetzt wieder diese großen Unterkünfte. Sicherlich sind Zweierzimmer immer besser als Räume für vier oder noch mehr Personen. Je privater, desto besser. Dazu kommt aber der Punkt: Öffnung nach außen. In kleineren Unterkünften ist es so, dass viel mehr zivilgesellschaftliche Akteure Zutritt haben. In den Großunterkünften ist es aber eine Sicherheitsfrage, sie nicht zu sehr zu öffnen. Für die Menschen dort ist das ein Problem. Die brauchen die sozialen Kontakte. Dazu kommt, dass wir weniger Ehrenamtler haben als noch 2015/16. Da müssen wir als Zivilgesellschaft auch wieder mehr hinkommen. Wir sind mitverantwortlich, wie die Gesellschaft funktioniert, das kann der Staat nicht allein leisten. Darüber hinaus: Wir finden immer weniger Fachkräfte. Es gibt die Jobs, aber es gibt immer weniger Menschen mit entsprechender Qualifikation. Deshalb würde ich mir wünschen, dass wir kurzfristig auch mehr Quereinsteigern die Möglichkeit geben und sie nachqualifizieren. Das ist bisher nur sehr schwer möglich.

Wenn die Öffentlichkeit von Geflüchtetenunterkünften erfährt, geht es meistens um Krisen – zu wenig Platz, Auseinandersetzungen, lange Wartezeiten. Wie halten Sie es aus, da zu arbeiten?

Mir ist es schon wichtig, zu betonen, dass so eine Einrichtung nicht permanent nur aus Konflikten besteht. Ich spreche nicht unbedingt von den großen Unterkünften, die Bedingungen dort sind tatsächlich besonders hart. Aber auch dort regiert nicht das Chaos, sondern der Wunsch der Menschen, in Frieden leben zu können. In den Gemeinschaftsunterkünften allerdings, wo es gewisse Standards gibt, auch für die Räume und Privatsphäre, gibt es viele schöne Situationen – zum Beispiel Feste und Gruppenaktivitäten. Da kann man viel Spaß miteinander haben, und den haben wir auch. In den großen Unterkünften und Ankunftszentren muss allerdings das Ziel sein: Die Menschen müssen möglichst schnell woanders hin. Und für alle Menschen in Unterkünften gilt: Nur mit einer eigenen Wohnung eröffnet sich die Chance auf ein dauerhaft zufriedenstellendes Leben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Sendung: Fritz, 01.12.2023, 13:30 Uhr

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