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Video: rbb24 Abendschau | 27.12.2023 | Thomas Rostek | Quelle: dpa/Christin Klose

"Praxis in Not"

Viele Arztpraxen in Berlin und Brandenburg zwischen den Jahren geschlossen

Ein bundesweiter Ärzteprotest sorgt vielerorts für geschlossenen Praxen. Viele Patientinnen und Patienten müssen sich wohl bis nach Neujahr gedulden - Notfälle ausgenommen. Kritik kommt vom Bundesgesundheitsminister.

In Berlin und Brandenburg könnten nach Weihnachten bis ins neue Jahr zahlreiche Arztpraxen geschlossen bleiben. Zusätzlich zu urlaubsbedingten Schließungen hat der Virchowbund zur bundesweiten Protestaktion "Praxis in Not" aufgerufen. Er ist der Interessenverband von etwa 144.000 niedergelassenen und ambulanten Haus- und Fachärzten. Nach eigenen Angaben rechnet er damit, dass sich etwa 70 Prozent der Praxen an dem Protest beteiligen könnten.

Der Vorsitzende des Virchowbunds, Dirk Heinrich, riet Patientinnen und Patienten vom Arztbesuch ab. Insgesamt unterstützen mehr als 20 Verbände die Aktion. Die Ärzte waren dazu aufgerufen worden, ihre Patienten vorab zu informieren, ob sie ihre Praxis schließen. Mit der Protestaktion will sich der Virchowbund für die Medizinischen Fachangestellten einsetzen.

Aktionen auch in Berlin

Niedergelassene Ärzte schließen Praxen am Montag aus Protest

Ärzte mit Praxen sehen sich vom Bundesgesundheitsminister übergangen. Weil Betriebskosten steigen und sich aus ihrer Sicht die Aufnahme von Neupatienten kaum noch lohnt, protestieren sie. Das hat am Montag teils Folgen für die Versorgung.

Arztpraxen, die sich beteiligen sollten im Vorfeld auf den ärztlichen Bereitschaftsdienst verweisen und eine Vertretung für dringende Notfälle nennen. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisiert die Protestaktion. Ihr Vorstand Eugen Brysch sagte, die geschlossenen Praxen würden vor allem alte und schwache Menschen treffen.

Lauterbach: kein Verständnis für Proteste über Feiertage

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte im Vorfeld den Zeitpunkt kritisiert. Er habe zwar Verständnis für die Proteste, aber nicht dafür, dass über die Feiertage gestreikt werde, sagte Lauterbach am Donnerstag dem rbb. Jetzt wo jeder Zehnte krank sei, die Praxen voll seien und die Menschen die Versorgung bräuchten, dürften die Praxen nicht schließen.

"Wir müssen eine Reform machen. Das ist über viele Jahre nicht gelaufen. Wir haben zu viel Bürokratie in den Praxen. Daran wird jetzt gearbeitet." Als Beispiele nannte Lauterbach die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung, die geplante Einführung elektronischer Rezepte sowie die Abschaffung sogenannter Budgets für Hausärzte. Er will sich im Januar mit Ärzte-Vertretern zu einem Krisengipfel treffen, um über die Überlastung und die Bürokratie zu sprechen.

Im Fokus des Protests: Medizinische Fachangestellte

Die Aktion "Praxis in Not" wird regelmäßig vom Virchowbund initiiert, zum Protest gegen die Gesundheitspolitik der jeweiligen Bundesregierung. Dieses Mal konzentriert sich die Kritik auf den Umgang mit Medizinischen Fachangestellten (MFA).

Ein Arzt oder eine Ärztin sei noch keine Praxis, so der Virchowbund. Am Laufen gehalten werde die nur mit Hilfe ihrer MFA. Sie nähmen nicht nur Termine an und gingen ans Telefon. Sie mäßen Blut, setzten Spritzen, legten Wundverbände an. Und wenn es sein müsse, wischten sie auch mal Erbrochenes auf, führt Dirk Heinrich als Beispiel an, um zu verdeutlichen, dass die Arbeit mit Patientinnen und Patienten fair entlohnt werden müsse.

Mit den Praxisschließungen zwischen den Jahren werden Ärztinnen und Ärzte aufgefordert, sich mit ihnen zu solidarisieren. Die letzte fand am 2. Oktober statt, einem Brückentag. 70 Prozent der Berliner Praxen hätten sich damals an einer Schließung beteiligt, zwischen den Jahren dürften ähnlich viele mitmachen, schätzt Heinrich.

Fachkräftemangel in Berliner Arztpraxen

Suche medizinische Fachangestellte – biete Kreuzfahrt

Medizinische Fachangestellte (MFA) haben eine breit gefächerte Ausbildung, aber oft nur ein kleines Gehalt und viel Stress. Viele wandern aus den Praxen ab in besser bezahlte Jobs. Mit gravierenden Folgen. Von Oda Tischewski

Kritik: Jeder 5. Patient für lau versorgt

Die Kritik des Virchowbunds: Den MFA ist bis heute kein staatlicher Corona-Bonus ausgezahlt worden, anders als Pflegenden und Klinikpersonal.

Den eigentlichen Skandal sieht Heinrich allerdings bei der generell unterschiedlichen Bezahlung von MFA, Pflegenden und Sozialversicherungsfachangestellten. Bei allen würde es sich um dreijährige Lehrberufe im Gesundheitswesen handeln, doch MFA würden seit Jahren schlechter bezahlt. "Wir bezahlen unsere Verwaltung besser als diejenigen, die tatsächlich mit Patienten arbeiten."

Bisher hätten Ärztinnen und Ärzte diese Defizite in vielen Fällen selbst ausgeglichen, sagt Heinrich weiter. Aber auch sie könnten inzwischen Gehaltserhöhungen und andere Boni wie Prämien und Inflationsausgleiche kaum noch zahlen. Denn sie selbst würden darunter leiden, dass 20 Prozent ihrer Arbeit von den Krankenkassen nicht honoriert werd.

"Wenn fünf Patienten kommen, dann wird einer nicht gezahlt. Sie können auch sagen, die letzten zwei Wochen im Quartal arbeiten sie ohne Geld", sagt Heinrich. "Das heißt, sie müssen das Geld für ihre medizinischen Fachangestellten für den Betrieb der Praxen von zu Hause noch mitbringen. Das würde in jeder anderen Branche zu massivsten Streiks führen."

Spitzenverband der Krankenkassen widerspricht Kritik

Mit den Praxisschließungen soll auf diese Schieflage aufmerksam gemacht werden. Offiziell handelt es sich um keinen Streik, sondern wird offiziell als Urlaub gelabelt. Doch Heinrich hofft, wie er sagt, mit der Protestaktion "Praxis in Not" diesmal größeren Druck auf das Bundesgesundheitsministerium auszuüben. "Wenn die Politik nicht reagiert, wird der Streik im nächsten Jahr eben mal eine ganze Woche gehen."

Der Spitzenverband der Krankenkassen GKV kann den Vorwurf des Virchowbunds nach eigener Aussage nicht verstehen. "Die Zukunft der ambulanten Versorgung sehen wir nicht so düster wie die Vertretungen der Ärztinnen und Ärzte - im Gegenteil", heißt es in einer Stellungnahme an den rbb.

So habe man sich erst im September auf ein Honorarplus von 1,6 Milliarden Euro insgesamt verständigt, die aus den Krankenkassenbeiträgen der Versicherten bezahlt werden müssten. "Faktoren wie steigende Praxiskosten oder die Inflation fließen regelmäßig in die Honorarverhandlungen ein."

Bei den Verhandlungen im September hätten sich beide Seiten auch darauf geeinigt, dass die Lohnentwicklung der MFA bei der nächsten Verhandlung 2024 stärker berücksichtigt wird, sagt GKV-Sprecher Helge Dickau dem rbb.

Notruf 112

Rettungsdienste beklagen Bagatellanrufe - Jüngere werden zunehmend aggressiv

Wer die 112 wählt, sollte eigentlich wissen, dass man die Nummer nur in wirklichen Notsituationen nutzt. Doch trotz umfangreicher Aufklärung hat sich der Missbrauch sogar noch verstärkt. Von Bendrik Muhs

Virchowbund erwartet volle Praxen im neuen Jahr

So lange will der Virchowbund nicht warten. Die Schließungen versteht er nach eigenen Angaben auch als eine Art Belohnung für die MFA: Wer nicht mehr Geld bekommt, bekommt dann wenigstens frei.

"Im neuen Jahr wird es dann sehr voll sein in den Praxen, durch zu hohe und lange Wartezeiten. Aber das Ganze hat ja den Zweck, die Situation für die Praxen zu verbessern, damit auch für die Patienten", so der Virchowbund-Vorsitzende.

Wohin zwischen den Jahren?

Wer nicht auf einen Praxistermin im neuen Jahr warten kann, sollte zwischen den Jahren - und auch am Wochenende - die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdiensts anrufen - die 116117, online unter 116117.de erreichbar.

In Notfällen sind auf der Webseite der Kassenärztlichen Vereinigung kv-berlin.de die elf Notdienstpraxen der Stadt aufgelistet. Nur in lebensgefährlichen Fällen gilt die 112 - die wirklich nur im lebensbedrohlichen Notfall gewählt werden sollte.

Sendung: rbb24 Inforadio, 27.12.2023, 6 Uhr

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