Ranking
Granaten, Tiere, Sensationen: Dieses oft bescheidene Jahr hat Meldungen produziert, die wir uns noch in ferner Zukunft erzählen werden. Wir fassen die meistgeklickten auf rbb24.de zusammen. Hier etwa sehen Sie eine tadellose Löwin - in Kleinmachnow keine.
Im November kommt der türkische Präsident Erdogan auf Staatsbesuch nach Berlin. Die Behörden verfügen die höchste Sicherheitsstufe: 2.800 Polizeibeamte überwachen die Berliner Luft, die Spree sowieso, im Regierungsviertel darf man nicht mal mehr Fahrräder oder Mülltonnen abstellen. Aber die Geister der Vergangenheit lachen über jede Sicherheitsstufe.
Am Morgen von Erdogans Besuch beim Bundespräsidenten wird am Schloss Bellevue eine alte Weltkriegsgranate im Boden gefunden - zufällig, bei Bauarbeiten. Sie wird kontrolliert gesprengt und Erdogan kann am Nachmittag wie geplant über den roten Teppich schreiten. Eigentlich keine große Meldung - aber sie interessierte viel mehr Menschen, als die späteren Berichte über Erdogans Gespräche mit Scholz und Steinmeier.
Es ist Donnerstag, der 20. Juli, als Bushido zum zweitberühmtesten Bewohner Kleinmachnows der letzten Jahre degradiert wird. Gegen Mitternacht hat ein Autofahrer eine sogenannte Raubkatze mit seinem Handy dabei gefilmt, wie sie im Fast-Dunkeln ein Wildschwein frisst. Die Polizei bestätigt am Morgen, dass sie nach einem Wildtier sucht. "Seitdem ist die Löwin verschwunden", berichten wir in unserer ersten Meldung. Es wird dringend Zeit für einen Löwen-Live-Ticker. Und Hunderttausende lesen mit.
Leider an dieser Stelle bereits die Auflösung, falls Sie das Jahr in Berlin oder Brandenburg in einem Erdloch verbracht haben sollten: Die Löwin ist gar keine, stellen Experten nach eingehendem Studium des Handyvideos aus der Nacht fest. Da hat schon die "New York Times" über das Thema berichtet und jede Menge zugezogene Berliner sind von ihren Verwandten aus Restdeutschland angerufen worden. Manche melden sich seit Jahren das erste Mal: Was es denn mit dieser Löwin auf sich habe?
Die Bilder der Krawalle in der Silvesternacht 2022/23 gehen durch das ganze Land - und für das Image der Hauptstadt sind sie absolut verheerend. Sie erzählen von Kontrollverlust und enthemmter Lust am Zerstören. Wie es sich anfühlt, von Raketen, Böllern, Flaschen und Pflastersteinen beworfen zu werden, während man gerade nur seinen Job macht, erzählt uns ein Feuerwehrmann in diesem Text - viel eindrücklicher als jede Sonntagsrede darüber, was nun endlich getan werden müsse: "Es war das erste Mal, dass wir als Feuerwehr einen Brand nicht gelöscht haben und weitergefahren sind. Wir haben alles nur noch beiseite geräumt und sind weitergefahren."
Anfang Juli versinken Teile Berlins in akuter Nostalgie - jedenfalls diejenigen, die schon in den 90ern zu Westbam, Marusha und Dr. Motte an der Goldelse vorbeitanzten als gäbe es kein Morgen. Die 2023-Variante "Rave the Planet" ist für 300.000 Leute in Tiergarten angemeldet, aber bis kurz vor Start ist nicht klar, ob die Raver dieses Sommerwochenende zu ihrem machen können. Es gibt Streit mit der Versammlungsbehörde über das Sicherheitskonzept. Die Organisatoren um den immer noch antretenden Dr. Motte müssen einen zusätzlichen Sanitätsdienst finanzieren. Wenige Stunden vor dem Start kommt die Genehmigung - letztlich tanzen 200.000 Raver an diesem glühend heißen Julitag durch die Straßen.
Die Mitglieder der "Letzten Generation" blockieren auch in diesem Jahr immer wieder die Berliner Stadtautobahn und andere Straßen - um die Bundesregierung unter Druck zu setzen, mehr für den Klimaschutz zu tun. Im Februar greifen mehrere Autofahrer am Kaiserdamm widerrechtlich zu Selbstjustiz: Sie beschimpfen und schubsen die Menschen, die die Straße blockieren, versuchen sie von der Fahrbahn zu zerren. Ein Video zeigt, wie ein Autofahrer über den Fuß eines Demonstranten fährt. Die Polizei ermittelt sowohl gegen die Angreifer als auch gegen Demonstranten.
Eine Meldung aus gerade mal drei dürren Absätzen, niemand kommt zu Schaden, niemand anderes ist betroffen - aber an diesem Beispiel zeigt sich: Unschlagbar ist, was sich die Leute weitererzählen. So wie hier. Wenn sich die ganze Story dann auch noch in einem Satz zusammenfassen lässt, den jeder kapiert, wie hier in der Überschrift, ist das ein Bonus.
Rainald Grebe hat das wunderbare Lied "Brandenburg" verfasst und es ist zurecht sein bekanntestes. Aber der Liedermacher, Schauspieler und Autor kann noch so viel mehr - vor allem kann er Menschen berühren. Entsprechend angefasst lässt einen dieses Interview mit Grebe zurück, in dem er über seine lebensbedrohliche Krankheit und den Umgang mit dem Tod spricht: "Meine Tochter hat schon seit der Geburt fast alles mitbekommen. Dass ich manchmal im Krankenhaus bin, dass Papi manchmal aus einem Krankenwagen kommt. Das kennt sie alles. Und wenn meine Tochter dann dasteht, dann geht das alles schon."
Sie erinnern sich an die "Rave the planet"-Parade auf Platz 11? Hier kommt ein Beispiel, warum ein schönes kleines Detail oft besser läuft, als die große "Alles über"-Meldung. Während 200.000 schwitzende Raver durch die Berliner Sommerhitze tanzen, wird es einigen von ihnen offenbar ein bisschen zu heiß. Mehrere von ihnen springen in die Spree und müssen von der DLRG gerettet werden. Noch besser ist aber, dass sich Teilnehmer der Parade bei der Polizei darüber beschweren, dass andere nackig feiern. Die Polizei twittert daraufhin pflichtbewusst: "Eine Bitte, von der wir auch nicht dachten, dass wir sie mal absetzen müssen: Bitte entkleiden Sie sich nicht." Ob es was gebracht hat, entzieht sich leider unserer Kenntnis.
Die zehnte Klasse einer Berliner Schule geht auf Abschlussfahrt in die Niederlande - als sie Mitte Juli heimkehrt, wird sie am Hauptbahnhof von der Bundespolizei empfangen. Der Gruppe wird Fahren ohne gültigen Fahrschein vorgeworfen. Mehr als 9.000 Euro erhöhtes Beförderungsgeld soll sie bezahlen. Wie so oft, ist die Vorgeschichte aber komplizierter, als sie sich zunächst liest. Was die Meldung besonders macht, ist ein trauriger Umstand: Dieselbe Klasse hat schon auf ihrer letzten Klassenfahrt im Mai Unschönes erlebt. Diesmal in Brandenburg.
Die vielleicht erschütterndste Meldung, die wir in diesem Jahr veröffentlicht haben: Ein kleines Mädchen aus Pankow wird an einem Nachmittag im Februar als vermisst gemeldet. Wenig später findet eine Frau die schwerverletzte Fünfjährige im Pankower Bürgerpark. Sie stirbt noch am selben Abend im Krankenhaus. Die Polizei nimmt ihren Babysitter fest: Der 19-jährige soll das kleine Mädchen getötet haben.
Der Erdbeergigant Karls verkauft nicht nur Früchte, er betreibt auch mehrere Erlebnisparks, zum Beispiel in Elstal im Havelland. An einem Mittag im Juni bricht dort ein Feuer aus. Die Rauchwolken kann man von weitem sehen, die Bilder sind auf schaurige Weise spektakulär. Zum Glück passiert nichts Schlimmeres: Während des Brands sind nur relativ wenige Besucher vor Ort - an einem Dienstagmittag in der Schulzeit und bei eher bescheidenem Wetter. Zehn Menschen werden verletzt, aber niemand ernstlich. Er habe gegenüber den Einsatzkräften ein "Riesengefühl der Dankbarkeit", sagt der Geschäftsführer. Nur einen Tag später kann der Park schon wieder öffnen.
Kommen wir zurück zum Raubtier. Zu jeder guten Geschichte gehört auch der Teil der Erlösung - und die folgt nach 30 Stunden Spekulierens und Mitfieberns: "Nach allem menschlichen Ermessen gehen wir davon aus, dass es keine Löwin ist", sondern ein Wildschwein, teilt Kleinmachnows Bürgermeister Michael Grubert mit. Daher sei die aktive Suche eingestellt worden. Es folgt der schöne Zusatz: Sollte sich das Wildschwein wider Erwarten doch noch als Löwin entpuppen, rufe man die Einsatzkräfte selbstverständlich wieder zusammen.
Apropos Bürgermeister: Er räumt bald ein, man hätte das Video schon viel früher gemeinsam analysieren sollen - und niemand will ihm da widersprechen. Später überweist er im Namen der Gemeinde als gelungene PR-Aktion, vielleicht auch als eine Art Ablass, eine 500-Euro-Spende an den Zoo Eberswalde. Natürlich für das Löwengehege. Niemand kann bestreiten: Seit diesem Sommer ist der Name Kleinmachnow auf der Landkarte.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung am Freitagvormittag bibbern wir ja selbst in den Redaktionsstuben fernab der Wälder im Südwesten noch vor dem Raubtier - entsprechend statten wir die Meldung mit einem Foto einer Löwin aus. Die zutreffende Bildbeschreibung der Agenturware lautet: "Archiv: Eine Löwin in freier Wildbahn". Das vermeintliche "Löwengebrüll" aus der Nacht stellt sich dann als Scherz von Anwohnern heraus. Die Savanne Kleinmachnow bleibt bis zum Beweis des Gegenteils löwenfrei. Eine Geschichte, wie aus einem Kinderbuch. Aber hinterher ist man ja immer schlauer.
Beitrag von Sebastian Schneider
Artikel im mobilen Angebot lesen