Persönlicher Rückblick auf 2023
2023 wird in Berlin wohl nicht mit den besten Nachrichten in Erinnerung bleiben. Die Stimmung in der Hauptstadt ist zuletzt für viele ungemütlicher geworden. Zeit, gemeinsam gute Vorsätze zu fassen - ehe Berlins Ruf ganz dahin ist, meint Fabian Stratmann.
An diesem 31. Dezember ist es also wieder so weit: Wir sitzen zusammen, blicken zurück und nehmen uns vor, im nächsten Jahr vieles anders, vor allem aber natürlich besser zu machen. Mehr Sport, weniger rauchen und generell besser mit sich umgehen. Die meisten guten Vorsätze scheitern dann übrigens, weil wir es allein versuchen.
Warum also nicht mal gemeinsam einen Vorsatz finden und den am Ende in dieser Stadt auch wirklich umsetzen? Ich komme nicht umhin, darauf zu hoffen, dass in Berlin im kommenden Jahr wirklich einiges anders, vor allem aber besser läuft.
Vor zwei Wochen stand ich, wie es sich bei einer gute Privatparty gehört, mit ein paar Leuten in einer Küche, die meisten rauchten, hatten ein Glas Wein in der Hand und erzählten sich, warum sie eigentlich nach Berlin gekommen waren. Klassiker. Die meisten sind ja zugezogen. So auch wir. Carla und ihr Mann David. Beide sind Juden. Und dann waren da Dominik, Simon, Alex und ich. Wir sind schwul. Wir alle tranken, rauchten (mehr oder weniger freiwillig) und wir erzählten uns von diesem einen Zitat:
"Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin!"
Franz von Suppé - österreichischer Komponist - soll den Satz vor über 100 Jahren in die Welt gesetzt haben. Es wurde ein Versprechen. Hier in Berlin kann man sein, wer man will. Hier in Berlin muss keiner Angst haben, angefeindet zu werden, weil man ist, wie man ist. Deshalb sind wir alle nach Berlin gekommen - und um es jetzt schon vorwegzunehmen: Wir alle haben nach diesem Jahr ernsthafte Zweifel, dass der Satz noch gilt. Aber der Reihe nach.
Wir alle waren in den Augen derer, unter denen wir aufgewachsen sind, immer ein bisschen ver-rückt von der vermeintlichen Normalität. Für Carla und David kam der Sonntag wegen des Schabbats immer schon am Samstag. Für die Nachbarn auf dem Dorf war das? Genau. Irgendwie verrückt. Andere Juden auf dem Dorf zu finden? Schwierig.
Und wo wir schon bei verrückt und schwierig sind. Jung und schwul auf dem Land zu sein? Nicht viel einfacher. Wer macht zwischen Doppelhaushälfte, Familie Mustermann und dem Schützenverein schon öffentlich, dass er anders ist? Und so war das Leben für einige von uns vor allem ein Versteckspiel. Wenn wir uns mit unseren ersten Freunden trafen, zählte vor allem eines: dass uns niemand entdeckte und somit herausfand, wer wir wirklich waren. Ein Coming-out? Im Zweifelsfall nicht nur ein Dorfgespräch, sondern der Zusammenbruch ganzer Familienbande.
Am Ende waren wir es also, die nach Berlin kamen, weil wir hofften, hier Gleichgesinnte zu finden und leben zu können, wie wir sind. "Ich bin schwul und das ist auch gut so", hat Klaus Wowereit in seinem ersten Wahlkampf 2001 gerufen. Am Ende hat er hier in Berlin damit die Wahl gewonnen und ist von einer Mehrheit der Wahlberechtigten zum Regierenden Bürgermeister gewählt worden.
Was für ein Versprechen! Und genau das hat Berlin in seiner Geschichte immer wieder gegeben. In den 1920ern haben sich in Eldorado "Transvestiten" getroffen, gefeiert und auch die angezogen, die mal neugierig einen Abstecher in ein anderes, buntes Berlin machen wollten. Später suchten in West-Berlin diejenigen Anschluss, für die ein piefiges Nachkriegsdeutschland im Westen keinen Platz hatte. Und auch jüdisches Leben kam zurück. An jenem Ort, wo der Massenmord an ihnen besiegelt worden war, fanden Juden und Jüdinnen wieder ein Zuhause.
In den 2000ern kamen schließlich wir: Carla, David, Alex, Dominik und Simon und ich. Mitte 20, auf der Suche nach der Freiheit, Gemeinschaft und in der Hoffnung, gleich unter Gleichen zu sein: Sei es als Jude, Ausländer oder als Schwuler.
An diesem Abend vor zwei Wochen nun aber standen wir in der Küche, sprachen über unsere Geschichte und stellten fest: Wir sind in Sorge und wir sind enttäuscht. Berlin, die Stadt, die uns immer versprochen hat, sein zu können, wie wir sind. Diese Stadt hält ihr Versprechen nicht mehr ein.
Hunderte Angriffe auf queere Menschen sind im letzten Jahr gemeldet worden. Rekordniveau. "Auf der Straße in Berlin laufen LGBTIQ-Personen immer wieder Gefahr, angefeindet, beschimpft und angegriffen zu werden, allein schon, wenn sie sich zu erkennen geben."
Die Nachrichten dazu sind inzwischen so alltäglich, dass sie oft einfach untergehen. Für unser Leben haben sie aber alltägliche Auswirkungen. Meinem Freund einen Kuss zum Abschied geben? Das haben wir zum Schluss nur noch mit Blicken gemacht - unauffällig eben. Wie vor einem Coming-Out auf dem Dorf. Wo wir uns in Berlin früher unbeschwert Hand in Hand in der Bahn bewegt haben, haben wir im letzten Jahr zuerst die Umgebung gescannt: Wer kommt uns da entgegen? Würden uns die anderen Leute hier in der Bahn helfen, wenn wir angegriffen würden? Auch einen queeren Club verlassen wir heute nicht mehr selbstverständlich allein. Weiß ja keiner, wer hinter der nächsten Ecke wartet.
Carla trägt ihren Davidstern nicht mehr um den Hals. Sie hat Angst, als Jüdin erkannt zu werden. Als sie einem Freund beistehen wollte, der auf offener Straße als Schwuchtel angeschrien wurde, hat sie als erstes in der Hosentasche ihre Faust geballt und darin die Kette versteckt. Dafür hatte sie gute Gründe: Im November werden Zahlen zu antisemitischen Übergriffen veröffentlicht: Rekordniveau. Jüdinnen und Juden laufen Gefahr, angefeindet, beschimpft und angegriffen zu werden, wenn sie sich zu erkennen geben. Das Kind abends alleine nach Hause kommen lassen? Besser nicht, erzählt Carla.
Frei und unbeschwert in Berlin zu leben: Das ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit mehr im Jahr 2023.
In etlichen Diskussionen, vor allem in den Sozialen Medien, heißt es gern mal, das sei alles gekommen, weil in Berlin der Anteil der Migranten besonders hoch und die antisemitischen und homophoben Einstellungen direkt mit importiert worden seien. Das ist natürlich Quatsch.
Auch antimuslimische Einstellungen sind weit verbreitet, wie der Berlin-Monitor gerade wieder gezeigt hat. Viel wichtiger als die Frage, woher es kommt, ist eine andere Frage: Wie geht die Mehrheit mit diesen Einstellungen um? Wie viel Raum geben die Vielen den Wenigen in einer Stadt, die sich durch ihre Offenheit bekannt, beliebt und verdient gemacht hat?
Hape Kerkeling ist dann mal weg - Was machen wir?
Hape Kerkeling hat sich in diesem Jahr entschieden, Berlin zu verlassen und mit seinem Mann nach Köln zu ziehen. Die Stimmung in Berlin sei ihm zu radikal und zu feindlich geworden.
Wir haben an diesem Abend vor 14 Tagen beschlossen, es Berlin nicht so leicht zu machen. Schließlich standen wir ja zusammen in der Küche und stellten fest Ja, wir haben uns gefunden. Hier können wir so sein, wie wir sind! Das ist schon besser als nichts - wenn auch weit weniger als das, wofür Berlin berühmt geworden ist.
Also Berlin, wenn Du als Gemeinschaft noch einen guten Vorsatz für das kommende Jahr suchst: Den Ruf der Stadt verteidigen und in den entscheidenden Momenten Zivilcourage zeigen, das wäre doch mal was. Wir, die da an diesem Abend zusammengestanden haben, würden uns freuen, wenn es auch außerhalb dieser Küche im positiven Sinne wieder etwas verrückter und freier zugehen könnte. Die Luft in der kleinen Küche mit so vielen Menschen wird auf Dauer stickig.
Also auf ein Neues, Berlin! Ein gutes neues Jahr.
Beitrag von Fabian Stratmann
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