Einwohner in Berlin
Berlin wächst - mehrere Hundertausend Menschen sind zuletzt dazugekommen. Aber nicht überall in der Stadt hat sich die Einwohnerzahl gleichmäßig erhöht - und in einigen beliebten Kiezen wird es sogar leerer. Die Zahlen im Überblick. Von Anna Bordel und Götz Gringmuth-Dallmer
Wer schon ein paar Jahre länger in Berlin lebt, teilt vielleicht den Eindruck, dass die Stadt voll geworden ist - egal ob an touristischen Hotspots wie dem Hackeschen Markt rumtreibt oder im früher eher beschaulichen Graefekiez in Kreuzberg.
Ein Blick in die Einwohnerzahlen vom Amt für Statistik bestätigt, dass es sich nicht nur um ein Gefühl handelt: Es ist wirklich voller geworden, und es sind nicht nur Touristen, die die Straßen bevölkern. Waren im Jahr 2012 noch knapp 3,5 Millionen Menschen in Berlin gemeldet, stieg diese Zahl bis 2022 auf knapp 3,9 Millionen an. Die Einwohnerzahl ist also innerhalb von zehn Jahren um elf Prozent gewachsen. Ein deutlicher Anstieg.
Untergekommen seien die Zugezogenen nicht nur in Neubauten und Dachstuhlausbauten, sagt der Stadtsoziologe Sigmar Gude. Auch im bestehenden Wohnungen habe sich einiges verändert. "Die Belegung von Wohnungen ist in den letzten zehn, 15 Jahren kontinuierlich gewachsen." Das könnte nach Gudes Einschätzung daran liegen, dass stärker untervermietet wird - einzelne Zimmer oder auch die ganze Wohnung, während der Hauptmieter schon anderswo wohnt. Eine weitere Erklärung könnte aus seiner Sicht die Tatsache sein, dass Kinder später ausziehen, weil es keine bezahlbaren Wohnungen in der Stadt gibt. Am problematischsten sei die Entwicklung, dass getrennte Paare häufiger noch einige Zeit gemeinsam wohnen bleiben, weil sie sich keine zweite Wohnung leisten können, sagt Gude.
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Drei Bezirke haben in den letzen Jahren besonders viel Zuwachs bekommen: Treptow-Köpenick, Lichtenberg, und Mitte. Die meisten Menschen, nämlich etwa 55.000, kamen laut der Statistik in Mitte dazu, prozentual am meisten gewachsen, nämlich um 18,6 Prozent, ist aber Treptow-Köpenick. "An sich sind das alles Bezirke, in denen es in den letzten Jahren eine stärkere Neubautätigkeit gegeben hat", sagt der Stadtsoziologe. Vor allem in Mitte sei das der Grund für den Anstieg der Einwohnerzahlen der vergangenen Jahre.
In Lichtenberg und Treptow-Köpenick liegt das Wachstum laut Gude neben der Neubautätigkeit auch an Umbrüchen in der Einwohnerstruktur. In den Großsiedlungen hätten zunächst viele kinderreiche Familien gewohnt. Diese Kinder seien mittlerweile erwachsen und ausgezogen, die Eltern älter geworden und in kleinere Wohnungen gezogen oder gestorben. Jetzt kämen neue junge Familien in die häufig eher größeren Wohnungen - dadurch nehme die Einwohnerzahl wieder zu.
Der Bezirk, in dem sich statistisch gesehen am wenigsten verändert hat, ist Neukölln. In den letzten zehn Jahren ist die Bevölkerung dort nur um 3,5 Prozent gewachsen. Die Zahl bedeute allerdings nicht, dass sich dort nichts bewegt habe, so Gude. Interessant sei der Bezirk, weil er zwei Teile hätte, das innerstädtische Nord-Neukölln und das außerhalb liegende Süd-Neukölln.
In Nord-Neukölln sei neben etwas Dachgeschossausbau wenig gebaut worden, da es schon sehr dicht besiedelt sei. Allerdings leben in Nord-Neukölln viele Migrantenfamilien, die zunächst mit vielen Generationen und Kindern zusammengelebt haben. "Viele dieser Kinder sind mittlerweile erwachsen geworden und ausgezogen", so der Stadtsoziologe. Gleichzeitig kommen durch Gentrifzierungsprozesse neue junge Familien mit Kindern in die Gegend, wodurch sich der Wegzug Gude zufolge zahlenmäßig wieder ausgeglichen hat.
Die größte Bevölkerungsdichte, also die größte Anzahl der Menschen pro Quadratkilometer, gibt es im Planungsraum Christburger Straße in Pankow. Auf einer Fläche von 0,23 Quadratkilometern oder etwa 32 Fußballfeldern [Umrechner] sind hier 8.445 Menschen gemeldet. Das ergibt eine Einwohnerdichte von umgerechnet etwa 36.000 Menschen pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: Ganz Berlin hat eine Einwohnerdichte von etwa 4.200 Einwohnern pro Quadratkilometer.
Im internationalen Vergleich steht Berlin mit seiner Gesamt-Einwohnerdichte noch längst nicht vorn: In Hongkong wohnen laut Zahlen der Vereinten Nationen 7.200 Menschen auf einem Quadratkilometer, in New York City sind es laut U.S. Census sogar 11.300.
Ist in Berlin also noch Luft nach oben? "Das Gute an Berlin ist ja", sagt Stadtsoziologe Gude, "dass es einen sehr hohen Anteil von Grünflächen, Wäldern und Seen gibt, die entweder nicht bebaut werden können oder nicht bebaut werden sollen, so dass die Dichte sehr viel geringer ist, als in anderen Städten". Dass Berlin in naher Zukunft in die Höhe wachsen könnte, sieht er eher nicht. Hochhäuser seien sehr teuer und es fehle ja vor allem an preiswertem Wohnraum. Dachgeschossausbau ist Gude zufolge da die sinnvollere Möglichkeit, Wohngebiete noch zu verdichten.
Wenig überraschend ist das Ranking bei den Kiezen mit dem größten Zuwachs. In der Gegend um die Heidestraße in der Nähe vom Hauptbahnhof waren 2012 1.492 Menschen gemeldet, 2022 waren es 6.504. Dort entstand und entsteht die Europa-City.
Gude sieht nicht nur Vorteile, wenn eine große Siedlung gebaut wird, da seiner Einschätzung nach, die nötige Infrastruktur und ihre Entwicklung nicht immer mitgedacht werde. "Am Anfang gibt es eben sehr viele Kitakinder, dann kommen die Kinder in die Grundschule und dann wird der Bedarf nach Jugendfreizeiteinrichtungen plötzlich hoch". Das sei ihm zufolge immer dann ein Problem, wenn eine größere Siedlung sehr homogen bezogen werde - zum Beispiel zeitgleich von Familien mit sehr kleinen Kindern.
Allerdings ist nicht jeder Winkel Berlins voller geworden. Interessant ist ein Blick auf das andere Ende der Auswertung, in die Gegenden, in denen jetzt weniger Menschen gemeldet sind als vor zehn Jahren. Die drei Spitzenreiter in der Kategorie befinden sich in Kreuzberg. Im Kiez um den Oranienplatz waren 2022 708 Menschen weniger gemeldet als zehn Jahre zuvor, im Wrangelkiez 702 und in der Gegend um den Lausitzer Platz 503 Menschen.
Das hängt laut Gude auch damit zusammen, dass in diesen Gegenden vor einiger Zeit noch viele große Familien mit mehreren Generationen in einer Wohnung lebten. Bei einem Mieter- oder Eigentümerwechsel zögen dann heute eher Alleinstehende oder Paare ohne Kinder ein, die sich die stark gestiegenen Mieten leisten könnten. Das führe dazu, dass insgesamt weniger Menschen im Kiez leben.
Wem es dennoch mal zu voll vorkommt in Berlin, dem kann vielleicht folgende Überlegung weiterhelfen. Vor rund 100 Jahren hätte in manchen Ecken viel mehr Menschen gelebt als heute, sagt Gude: "Im Wrangelkiez waren es zum Beispiel vier Mal so viele wie jetzt."
Beitrag von Anna Bordel und Götz Gringmuth-Dallmer
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