Ausgebildet in Berlin
In Berlin leben etwa 6.000 blinde und 20.000 sehbehinderte Menschen. Einige von ihnen haben einen Blindenführhund. Bis ein Hund diesen Job gut macht, vergehen meist Jahre. Von Ch. Rubarth und A. Corves
Wenn Katja Reichstein außerhalb der eigenen vier Wände unterwegs ist, vertraut sie sich Xoran an, einem schwarzen Labrador. Die 41-Jährige ist blind, der Hund zeigt ihr beim Verlassen des Bürogebäudes, in dem sie arbeitet, den Beginn der achtstufigen Treppe. Er bleibt kurz stehen, dann läuft er neben ihr die Stufen hinunter. Katja Reichstein hält in ihrer linken Hand das Führgeschirr, dazu die Hundeleine. Am Geländer hält sie sich nicht fest, beide kommen sicher unten an. "Super, Treppe", lobt Katja Reichstein ihren Blindenführhund, "und jetzt los!" Beide biegen rechts ab bis an eine Bordsteinkante. Xoran hat gelernt: Bordsteinkante bedeutet Straße. Er stoppt. Seine Besitzerin bleibt auch stehen.
Auch um Hindernisse lotst Xoran Katja Reichstein herum: Um liegengelassene Roller oder letzte Weihnachtsbäume, die auf ihre Abholung warten. Xoran ist schon ihr dritter Führhund, seit Jahren hat sie keinen Langstock mehr in der Hand gehalten, den sie früher zur Orientierung nutzte.
Mit dem Hund fühlt sich Reichstein sicherer, sie bewegt sich freier als mit dem Stock, sagt sie. "Der Hund ist wie ein sehender Begleiter. Mit dem Stock würde man merken, was so alles hier rumliegt. Beim Hund merkt man das überhaupt nicht. Er sieht die Gegenstände und hat gelernt, den Blinden nicht dagegen laufen zu lassen."
Die beiden erreichen eine große Kreuzung. "Such Ampel!" ruft Katja Reichstein Xoran zu. Der Labrador steuert die Ampelsäule an. Reichstein drückt den Ampelknopf. Als es beginnt zu piepen – das Signal für Grün - überqueren sie sicher die Straße. Xoran läuft völlig ruhig - im Führgeschirr verkneift er sich Bellen, Hopsen und sogar Pipimachen. Er ist im Dienst.
Xoran ist Katja Reichsteins dritter Blindenführhund. Der Labrador ist jetzt vier Jahre alt, seit einem Jahr lebt er bei ihr und ihrer Familie mit drei Kindern zwischen drei und zwölf Jahren in Berlin-Charlottenburg.
Geboren wurde der samtig-schwarze Labrador in Müggelheim, in der Deutschen Schule für Blindenführhunde. Hier im Südosten Berlins werden Golden Retriever- oder Labrador-Hunde gezüchtet. Der Labrador-Retriever mag es, Menschen zu gefallen und ist aufgrund seiner Größe gut für die Führarbeit geeignet.
Wenn die Welpen der Müggelheimer Schule ein paar Wochen alt sind, ziehen sie erstmal für ein Jahr in so genannte Patenfamilien. Sie sollen echtes Familienleben mit vielen Menschen und Lärm kennenlernen – und Situationen, die sie auch später als Führhund bewältigen müssen. Wenn sie es denn so weit schaffen: "Leider eignen sich nur um die 30 Prozent eines Wurfes zum Blindenführhund", sagt Hundetrainerin Susanne Grüning, "wir sind da sehr kritisch." Zu den strengen Kriterien gehört, dass der Hund freundlich sein muss und möglichst wenig an der Jagd interessiert. Und natürlich muss er gern mit einem Menschen arbeiten wollen.
Stephan Troll ist einer der Hundepaten. Er hat die Hundeschule beim Tag der offenen Tür kennengelernt, Erfahrung mit Hunden oder mit Menschen mit Sehbeeinträchtigung hatte er nicht. Er wollte etwas Ehrenamtliches tun, konnte sich gut vorstellen, einen Hund für eine überschaubare Zeit zu halten und bewarb sich.
Zurzeit zieht er den goldgelben Labrador Dito groß: erste Befehle lernen, stubenrein werden, Alltag üben. Begleitet wird er dabei von Hundetrainerin Susanne Grüning. Mit einem Jahr muss Dito dann einen großen Gesundheits- und Charaktercheck absolvieren. Besteht er ihn, folgt der nächste Schritt: die Ausbildung zum Blindenführhund in Müggelheim.
Für viele Patenfamilien ist der Abschied schwer, aber das gehört zu diesem Ehrenamt dazu. Stephan Troll sagt, etwas traurig wird er wohl sein. Aber es ist ok für ihn, denn dann kann er wieder reisen, hat mehr Freizeit. "Anderthalb Jahre sind überschaubar", sagt er.
Für die Führhundeausbildung ziehen die Tiere zu einem der Trainer nach Hause, die sich parallel um mehrere Hunde kümmern. "Die Hunde freuen sich. Das ist für sie wie eine Studenten-WG", sagt Susanne Grüning.
Etwa neun Monate dauert die Spezialausbildung zum Blindenführhund. Zum Schulgelände gehört ein Parcours, der den Stadtverkehr simuliert: mit Ampeln, Zebrastreifen, Bordsteinen, auch ein Briefkasten leuchtet Gelb. Alles sehr realitätsnah, aber reizarm. "Wir haben hier erstmal keine Fußgänger oder irgendwelche anderen Hunde", sagt Trainerin Susanne Grüning, "unsere Hunde sollen erstmal lernen: Wenn das Geschirr an ist, muss ich arbeiten."
Um einen Blindenführhund zugeteilt zu bekommen, brauchen blinde Menschen zunächst eine Verordnung vom Augenarzt, wie für andere Hilfsmittel auch. Voraussetzung ist eine Sehleistung unter fünf Prozent. Dazu muss der angehende Hundeführer eine Gespannprüfung ablegen – also belegen, dass er von einem Hund geführt werden kann. Außerdem muss er nachweisen, dass der Hund genug Platz in der Wohnung haben wird.
Sind alle Kriterien erfüllt, übernehmen die Krankenkassen meist die kompletten Kosten von 20.000 bis 30.000 Euro. Finanziert werden damit Aufzucht, Futter, Training sowie eine enge Betreuung auch dann, wenn der Hund seinen Besitzer gefunden hat. Die Hundeschule in Müggelheim - die einzige in Berlin – hat eine lange Warteliste. Bis zu vier Jahre dauert es, bis Hund und Hundehalter oder Hundehalterin zusammenfinden.
Beide müssen zusammenpassen. Sind sie eher ruhig, laufen sie schnell? Ist der Alltag hektisch oder entspannt?
Nachdem die Hundeschule Katja Reichstein und Xoran als gutes Match befunden hatte, wohnte sie zur Probe in der Schule, damit sie und der Hund sich kennenlernen konnten. Danach begann ein intensives Training, zuerst auf dem Gelände der Schule, dann auf Reichsteins alltäglichen Wegen. Weil ihr Alltag als Berufstätige mit drei kleinen Kindern viele Wege beinhaltet, dauerte es bei ihr fast einen Monat, bis sie und Xoran wirklich ein Team waren.
Es ist viel Aufwand für wenige gemeinsame Jahre. Denn auch die Hunde werden alt, ihre Fähigkeiten lassen nach. Mit etwa sieben, acht, neun Jahren sind sie nicht mehr so ausdauernd, sehen vielleicht nicht mehr so gut oder können schlechter laufen. Von zwei Blindenführhunden musste Katja Reichstein sich deswegen schon trennen. Aber zum Glück nicht ganz: Sie konnte sie bei Verwandten unterbringen. "Gottseidank, so ist es mir nicht so schwergefallen."
Sollte so eine Vermittlung nicht gelingen, nimmt die Müggelheimer Hundeschule die Tiere wieder zurück, wenn sie ihren Dienst geleistet haben – eine Ausnahme unter den rund 30 Blindenführhund-Schulen in Deutschland. Möglich wird das, weil die Müggelheimer Schule den Status einer Stiftung hat. Ihre Arbeit finanziert sie über Spenden. So landen die Hunde am Ende nicht irgendwo, sondern können dort alt werden, wo sie geboren wurden.
Sendung: rbb24 Abendschau, 29.01.2024, 19:30 Uhr
Beitrag von Christina Rubarth und Anna Corves
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