Kommentar | Studie zu sexuellem Missbrauch
Eine neue Studie zeigt, dass auch die evangelische Kirche zu lange bei sexuellem Missbrauch weggeschaut hat. Eine Überraschung ist das nicht, schließlich wurden die Betroffenen jahrelang ignoriert. Ein Kommentar von Ulrike Bieritz
Wegducken oder sich gar hinter der katholischen Kirche verstecken, geht nun wirklich nicht mehr. Viel zu lange hat die evangelische Kirche gedacht, Missbrauch sei ein rein katholisches Thema aufgrund der spezifischen Risikofaktoren: Zölibat, Sexualmoral, Machtstrukturen.
Weit gefehlt, zeigen nun die Ergebnisse einer Studie. Und eigentlich ist es überhaupt keine Überraschung, dass es auch in den Reihen der evangelischen Kirchen sexualisierte Gewalt gab und gibt. Systematisch und systemisch bedingt. Unter den Beschuldigten sind viele Pfarrer, Durchschnittsalter 43, zwei Drittel von ihnen sind verheiratet.
So erschüttert, erschreckt und entsetzt, wie die kirchenleitenden Personen auf die Studie reagieren, hätten sie eigentlich schon 2010 sein können, als erstmals Betroffene an die Öffentlichkeit gegangen waren. Damals waren es die ehemaligen Schüler des Canisius-Kolleg in Berlin.
Dabei wurden auch sexuelle Übergriffe eines Pfarrers aus Ahrensburg (Schleswig-Holstein) auf Minderjährige öffentlich. Ein bedauerlicher Einzelfall? 14 Jahre später wissen wir: Nein, das war es nicht. Jetzt immer noch überrascht und betroffen zu sein, ist wohlfeil. Zeigt aber genau das Versagen eben jener Personen, die viel zu lange geglaubt hatten, ihre Kirchen und diakonischen Einrichtungen seien außen vor.
Dass sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche überhaupt thematisiert wurde, ist den Betroffenen zu verdanken. Ihrer Hartnäckigkeit, ihrem Mut. Sie sind mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gegangen. Wie so oft wurde ihnen nicht geglaubt. Wie so oft wurden sie wieder weggeschickt, mit halbherzigen Entschuldigungen abgespeist und mit der Bitte um Verzeihung. Um es ganz deutlich zu sagen: Sexualisierte Gewalt ist nicht zu verzeihen.
Die evangelische Kirche leidet unter Verantwortungsdiffusion, Konfliktunfähigkeit und Harmoniezwang. Das, sagt die Studie, steht der Aufklärung im Weg. Schnell alles unter den Teppich kehren und sich wieder lieb haben, ist die Devise. Was im Kern auch bedeutet: Wir schützen die Täter und die Institution. Etwa, wenn sie versetzt werden, die neue Gemeinde aber nichts von solchen Vorfällen weiß.
Die jetzt veröffentlichte Studie ist die umfassendste, die es bisher gab. Sie befasst sich nicht nur mit den Kirchen, sondern auch mit der Diakonie. Das Ergebnis zeigt deutlich, wie häufig Missbrauch auch in den Reihen der Protestanten vorkommt und wie bestehende Strukturen dies befördern.
Dabei sind die Zahlen, die jetzt veröffentlicht wurden, nur die Spitze der Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Denn die Forscher konnten nur mit Material arbeiten, dass ihnen die 20 Landeskirchen zugeliefert hatten. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um ausgewertete Disziplinarakten. Fälle also, die angezeigt und damit bekannt waren.
Viel mehr wäre noch aus den Personalakten zu erfahren gewesen, aber hier hat nur eine Landeskirche geliefert. Zu aufwendig, zu kompliziert, zu wenig Personal, manches vernichtet: Solche Ausreden zeigen, dass immer noch nicht alle in den Landeskirchen den Knall gehört haben.
Sexualisierte Gewalt gibt es nicht nur in den Kirchen, sondern auch in Sportvereinen oder Jugendorganisationen. Aber innerhalb der Kirche wiegen die Taten umso schwerer. Sollen nicht gerade Kirchenräume oder diakonische Einrichtungen besonders sichere Orte sein? Menschenliebe predigen und Kinder und Jugendliche Gewalt auszusetzen, das geht gar nicht.
Alle haben sich schuldig gemacht, indem Betroffenen nicht geglaubt wurde. Nun muss die Kirche handeln und Konsequenzen ziehen: Es braucht unabhängige Ansprechpersonen und Aufarbeitungskommissionen, angemessene und transparente Anerkennungsleistungen - und das bundesweit, einheitlich und nachvollziehbar.
Die Frage ist allerdings, ob die Täterorganisation das von sich aus leisten kann.
Sendung: rbb24 Abendschau, 25.01.2024, 19.30 Uhr
Beitrag von Ulrike Bieritz
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