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Audio: rbb24 Inforadio | 17.01.2024 | Alexander Schmidt-Hirschfelder/Martin Wannack | Quelle: rbb

Interview | Ernährungsmediziner

"Wir brauchen wohnortnahe Angebote für adipöse Kinder und Jugendliche"

In der Adipositas-Sprechstunde an der Berliner Charité erlebt Martin Wannack, wie die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit Übergewicht ansteigt. Im rbb24-Interview plädiert er für mehr Einkaufstraining und weniger sportliches Leistungsdenken.

rbb|24: Herr Wannack, die Pandemie hat viele Kinder und Jugendliche gewichtsmäßig zunehmen lassen, übergewichtige Kinder noch mal mehr als andere. Merken Sie das in Ihrer Adipositas-Sprechstunde an der Charité?

Martin Wannack: Wir hatten bereits vor der Pandemie eine sehr hohe Nachfrage in unserer Adipositas-Ambulanz und können nach den ersten Jahren der Pandemie sagen, dass die Nachfrage weiter gestiegen ist. Die Wartezeiten haben sich teilweise verlängert, bis man überhaupt zu einer Erstvorstellung kommt. Wir sehen auch, dass der durchschnittliche Body Mass Index (BMI) bei der Erstvorstellung bereits höher ist als noch vor der Pandemie. Das heißt, die Kinder und Jugendlichen kommen auch schwerer zu uns.

Was sind aus Ihrer Sicht Gründe für diese Zunahme?

Insgesamt geht der gesellschaftliche Trend meiner Einschätzung nach hin zu mehr Adipositas, die Pandemie hat das verschärft. Inwieweit die Pandemie diesen Trend verursacht, dazu gehören sicherlich das fehlende Angebot von Vereinssport für Kinder und Jugendliche, die lange Zeit der Isolation, die fehlende Struktur und der Wegfall des Schulwegs. Hinzu kommt der emotionale Stress in der Zeit, in der die Familien zu Hause unter Umständen auf engem Raum zusammen waren.

Zur Person

Und was passiert dann bei Ihnen an der Charité? Was wäre ein typischer Ablauf?

Die Vorstellung in der Adipositas-Ambulanz bedarf immer einer Überweisung vom niedergelassenen Kinderarzt. In der Regel melden sich die Familien bei uns, oder die betreuenden Kinder- und Jugendärzt:innen melden die Familie an. Wir haben ein multidisziplinäres Paket, das alle Familien von uns initial bekommen. Das ist in der Regel ein Ärzt:innen-Kontakt mit körperlicher Untersuchung, mit der Erhebung einer kompletten Krankheitsgeschichte, einer gewichtsbezogenen Anamnese und einer umfangreichen Blutuntersuchung. Dann gehört auch immer eine Ernährungsanamnese dazu. Abgefragt werden zum Beispiel Mahlzeitenrhythmus, Getränkekonsum, Snacks und Fastfood. Danach schauen wir, wie wir die Familie bedarfsgerecht unterstützen können in unserem Team aus Sozialpädagog:innenen, Psychotherapeut:innen, Ernährungsexpert:innen etc.

Welche Rolle spielt die Familie?

Je jünger das Kind, desto wichtiger ist es, mit den Eltern zu arbeiten. Ein fünfjähriges Kind zum Beispiel trifft ja in den seltensten Fällen eigenständige Entscheidungen darüber, wann es was in welcher Menge isst. Die Eltern kaufen ein, die Eltern bereiten die Mahlzeiten zu und im günstigsten Fall sind die Eltern auch diejenigen, die entscheiden, ob das Kind jetzt was naschen darf oder nicht. Wenn die Kinder und Jugendlichen in ein Alter kommen, wo sie autark durch die Welt ziehen und mit ihrem Taschengeld eigenständig in Supermärkte gehen, dann arbeiten wir auch viel mit den Kindern selbst. Wir besprechen, wie man clever einkaufen geht, wie man sich vor den Süßigkeiten im Kassenbereich schützen kann. Trotzdem haben wir die Eltern da auch noch an Bord.

Welche Möglichkeiten haben denn Familien schon vor der Diagnose Adipositas, etwas gegen das Übergewicht zu tun?

In den allermeisten Fällen gehen wir davon aus, dass die Familien bereits von den niedergelassenen Kinder- und Jugendärzt:innen hinsichtlich der Adipositas beraten worden sind und dafür sensibilisiert wurden, dass das irgendwann gesundheitsrelevante Konsequenzen haben könnte. Es obliegt dann so ein bisschen den Möglichkeiten der niedergelassenen Kolleg:innen, die Familie zu unterstützen. Erfahrungsgemäß haben sie nicht viel Zeit, sodass oft empfohlen wird, zum Beispiel eine ambulante Ernährungstherapie zu suchen. Da gibt es meiner Erfahrung nach aber sehr lange Wartezeiten und über die Stadt verteilt wenig Angebot, insbesondere für Kinder und Jugendliche. Neben den Adipositas-Sprechstunden an der Charité und den ähnlichen Angeboten am Sana Klinikum in Lichtenberg und am Vivantes Klinikum in Neukölln [uebergewicht-berlin.de], gibt es einfach wenig Angebote, die dazwischen liegen - also zwischen dem Gang zum niedergelassenen Kinderarzt und einem Adipositas-Zentrum.

Wen sehen Sie in der Pflicht, diese Lücken zu schließen?

Die Politik - und zwar hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte. Wir als Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder- und Jugendalter halten eine Zuckersteuer oder Werbeverbote für Ungesundes für sinnvoll. Jenseits dessen brauchen wir aber niederschwellige, im günstigsten Fall wirklich wohnortnahe Angebote für Kinder und Jugendliche mit Adipositas. Sei es einfach eine niederschwellige Ernährungsberatung oder so etwas wie geschulte Stadtteilmütter wie hier in Kreuzberg. Die könnten die Familien kultursensibel beraten und zum Beispiel gemeinsam mit Kindern und Familien ein Einkaufstraining machen. Außerdem sollte es mehr Vereine geben, bei denen nicht das Leistungsdenken im Vordergrund steht. Wenn beim Fußball ein Kind ein bisschen kräftiger ist, dann wird es erfahrungsgemäß sofort in die zweite, dritte, vierte Mannschaft abgeschoben. Das ist kontraproduktiv.

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Welche Rolle spielen da aus Ihrer Sicht die Krankenkassen?

Die müssen das Ganze finanzieren. Adipositas ist eine chronische Erkrankung und all das, was man niederschwellig an Therapieangebot bietet, was die Gesundheit des Menschen fördert, aufrechterhält oder eben wiedererlangt, ist ja originär der Aufgabenbereich einer Krankenkasse.

Kommen wir zu einem anderen Stichwort: Body Positivity, also die soziale Bewegung, die mehr Toleranz und eine positive Sicht auf Körper zum Ziel hat, egal welche Größe, Form und so weiter diese Körper haben. Ist das aus Ihrer Sicht eine hilfreiche Bewegung oder verklärt sie auch teilweise die gesundheitlichen Folgen von zu starkem Übergewicht?

In der Deutschen Adipositas-Gesellschaft vertreten wir eher den Begriff Body Neutrality, also Körperneutralität. Die Entstehung des Begriffes Body Positivity ist durchaus nachvollziehbar, also weg von einer Stigmatisierung, weg von negativen Emotionen. Aber ich sehe die Gefahr, dass man vergisst, dass Adipositas nicht nur Lifestyle ist, also das Aussehen des Körpers, sondern eben eine chronische Erkrankung mit Funktionseinschränkungen des Körpers. Die Idee der Body Neutrality ist, dass man den Körper nicht optisch betrachtet, sondern eben in seiner Funktionalität. Das soll darauf aufmerksam machen, dass die Adipositas insbesondere dann eine Gefahr ist, wenn die Funktionen des Körpers beeinträchtigt sind, sprich Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten oder Rheumatik entsteht.

Mit welchen Ergebnissen verabschieden Sie denn Ihre Patient*innen aus Ihrer Ambulanz an der Charité?

Es gibt Familien, denen es mit unserer Unterstützung gelingt, die Adipositas zu verlieren. Manchmal gelingt es uns nicht, dass ein Patient oder eine Patientin aus dem Bereich Adipositas raus in Übergewicht oder Normalgewicht kommt, aber dass die Folgeerkrankungen, sprich Insulinresistenz, gestörte Glucose-Verwertung oder auch eine Mitbeteiligung der Leber, deutlich rückläufig sind durch die gemeinsam erarbeiteten Maßnahmen. Dann ist der Mensch formell immer noch im Bereich der Adipositas, aber er hat ein deutlich geringeres Erkrankungsrisiko.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Nancy Fischer.

Sendung: rbb24 Inforadio, 17.01.2024, 13:25 Uhr

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