Geschäftsmodell in der Grauzone
Punkte in Flensburg will kein Autofahrer haben. Nicht jeder versucht sie aber offenbar durch einen ordnungsgemäßen Fahrstil zu vermeiden. Online kann man Fremde dafür bezahlen, dass sie die Strafe auf sich nehmen. Experten fordern Gesetzesänderungen. Von Simon Wenzel
Wer mehr als 21 Kilometer pro Stunde zu schnell fährt, eine rote Ampel überfährt oder mit dem Handy am Steuer erwischt wird, muss mit den berühmten Punkten aus Flensburg rechnen. Auch andere Vergehen können dazu führen. Bei den genannten Fällen ist es aber offenbar möglich, der Strafe zu entgehen, mit dem sogenannten Punktehandel.
Das Prinzip ist einfach: Ein Strohmann nimmt die Strafe auf sich, der tatsächliche Sünder bezhalt dafür. Daraus ist ein Geschäft entstanden: Spezialisierte Agenturen nutzen rechtliche und verfahrenstechnische Grauzonen aus. Experten wollen dem nun entgegenwirken und haben auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar (Niedersachsen) Handlungsempfehlungen erarbeitet, die am Freitag präsentiert wurden. Sie fordern unter anderem mehr Personal für die Bußgeldbehörden und schärfere Strafen für Täter.
Das System "Punktehandel" floriert vor allem im Netz: Online-Anbieter bewerben offensiv ihr Geschäft. Wer geblitzt wurde, solle das behördliche Schreiben mit dem Foto einsenden, die Agenturen würden einen passenden Fahrer suchen, der die Strafe auf sich nimmt und sich selbst bei den Behörden meldet. Das ganze kostet natürlich. Und zwar nicht zu knapp.
Ein Anbieter dieser Dienstleistung wirbt beispielsweise damit, dass man für 300 Euro einer Strafe für einen Geschwindigkeitsverstoß entgehen könne. Die Punkte für einen Rotlichtverstoß könnten für 400 Euro umgeleitet werden. Beides sind klassische Delikte mit "Blitzerfotos". Der Gesamtpreis der zumindest moralisch fragwürdigen Dienstleistung liegt also schätzungsweise rund drei bis vier Mal höher als die tatsächlichen Mindestgeldstrafen auf diese Verstöße laut Bußgeldkatalog.
Der Berlin-Brandenburger Verkehrsrechtsanwalt Marcus Gülpen beobachtet diesen Punktehandel schon länger. Er macht vor allem drei Agenturen aus, die das Geschäftsmodell professionell anbieten würden, sieht aber einen Wachstumsmarkt. Ein mögliches Motiv in seinen Augen: "Stellen Sie sich vor, Sie sind Taxifahrer und stehen bereits bei sieben Punkten. Dann werden Sie wieder einmal geblitzt. Jetzt laufen Sie Gefahr, dass der Führerschein weg ist und damit auch Ihre Existenz und dann haben Sie Bekannte oder melden sich bei einer Agentur, die sagt: Ich kann doch deine Punkte übernehmen", so Gülpen gegenüber dem rbb.
Rechtlich bewegt sich das Geschäftsmodell in einer Art Grauzone: "Es ist momentan nicht strafbar, man kann es nicht greifen", sagt Gülpen. Als Straftatbestand oder Ordnungswidrigkeit gilt es bisher noch nicht, sagt Gülpen. Die Agenturen selbst verstecken sich jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Sie werben mit vermeintlichen Kundenzahlen sowie -bewertungen und geben sogar Erfolgsquoten ihrer Dienste bekannt. Die Echtheit solcher Angaben lässt sich allerdings nicht überprüfen. Interview-Anfragen von rbb|24 an zwei Betreiber solcher Webseiten wurden abgelehnt oder blieben unbeantwortet.
Die Masche der Agenturen nutzt wohl unter anderem Lücken in der Arbeitspraxis von Bußgeldbehörden aus. So wird, wenn der Fahrzeughalter angibt, nicht selbst gefahren zu sein und eine andere Person benennt, der angebliche Fahrer nur anhand des Blitzerfotos auf Plausibilität überprüft. Ein Abgleich mit dem Passbild findet im Normalfall nicht statt.
Kommt das Alter ungefähr hin und stimmt das Geschlecht, würde so eine Angabe in vielen Fällen akzeptiert, schreibt eine Agentur in ihrem Werbetext. Nach rbb|24-Informationen aus informierten Kreisen ist das eine realitätsnahe Darstellung solcher Abläufe.
Auch Siegfried Brockmann, der Leiter der Unfallforschung des Gesamtverbands der Versicherer stützt das: "Die Regel in den Bussgeldstellen ist ja, dass das ein automatisiertes System ist und das muss auch so sein, damit die Verfahren schnell abgeschlossen werden können. Und das bedeutet, wenn da jemand sagt, ich war es, wird dem in der Regel gar nicht nachgegangen", sagte er dem rbb.
Damit die Masche nicht strafrechtlich riskant für alle Beteiligten wird, ist außerdem entscheidend, dass der vermeintliche Fahrer sich selbst bei der Bußgeldstelle meldet. So macht sich der Halter nicht wegen falscher Verdächtigung Dritter schuldig. Das ist bereits heute strafbar. Sich hingegen selbst fälschlicherweise einer Ordnungswidrigkeit zu beschuldigen, ist es nicht.
Bei dem Kongress in Goslar erarbeiteten die Teilnehmer eines Arbeitskreises nun Empfehlungen, um diesen Punktehandel entgegen zu wirken. Zunächst fordern sie von der Politik unter anderem "effektivere Sanktionsvorschriften". So sollte ermöglicht werden, dass gegen die tatsächlichen Fahrzeugführer Fahrverbote verhängt und diese im Fahreignungsregister eingetragen und bewertet werden können [deutscher-verkehrsgerichtstag.de].
Für die Bußgeldbehörden wird mehr Geld für Personal gefordert, damit "behördliche Ermittlungen intensiviert" werden können. Um also genauer prüfen zu können, wer tatsächlich am Steuer saß. Die Verfolgungsverjährungsfrist solle zudem von drei auf sechs Monate verlängert werden, fordern die Experten.
Wie viele Fälle der Masche es gibt, ist nicht bekannt und lässt sich nur schwer schätzen. Das Potenzial ist aber durchaus groß. Auf rbb|24-Anfrage gab die Polizei Berlin an, dass im vergangenen Jahr insgesamt fast 21.000 Rotlicht- und etwas mehr als 34.000 Geschwindigkeitsverstöße mit mindestens einem Punkt Strafe dokumentiert wurden.
Verkehrsrechtler Gülpen hält den Handel mit den Punkten für ein zunehmendes Problem. "In der Vergangenheit hat man festgestellt, dass pro Jahr ungefähr 5.000 Leute in die Zone kommen, wo sie acht Punkte kassieren und deshalb den Führerschein verlieren", so Gülpen.
Unfallforscher Brockmann sieht den Punktehandel zwar ebenfalls nicht als Massenphänomen, weist aber darauf hin, dass es ausgerechnet für Mehrfachtäter besonders interessant ist. "Diejenigen, die das nötig haben, sind unser Hochrisikoklientel. Wenn man keinen oder einen Punkt hat, schert man sich nicht darum, ob man mal einen einfährt. Wenn man aber schon fünf oder sechs hat, lohnt es sich ein paar Hundert Euro dafür auszugeben, dass man nicht mehr bekommt", sagt er.
Und genau das macht das Geschäftsmodell so problematisch: Die Personengruppe, die eigentlich durch das Punktesystem in Flensburg langfristig aus dem Straßenverkehr gezogen werden sollten, weil sie sich auffällig oft nicht an die Verkehrsregeln halten, können dem entgehen. Deshalb fordern die Branchenexperten nun Nachbesserungen in der Bestrafung und Verfolgung.
Sendung: Der Tag, 24.01.2024, 18:00 Uhr
Beitrag von Simon Wenzel
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