Gehwegschäden in Berlin
Berlins Gehwegnetz umfasst 10.000 Kilometer. Doch längst nicht alle davon sind nutzbar. rbb|24-Redakteur Frank Preiss ist Rollstuhlfahrer. Vor allem die historischen Bürgersteige machen ihm zu schaffen. Die Bezirke stoßen bei dem Problem an ihre Grenzen.
Kenner nennen sie liebevoll "Schweinebäuche", die breiten Granitplatten, die seit nahezu 200 Jahren die Gehwege vor allem in den Altquartieren Berlins dominieren. Schweinebäuche, weil sie nach unten geschwungen sind. Für viele sind sie ein Wahrzeichen der Stadt.
Den Anfang machte vor exakt 200 Jahren die Weinstube Lutter & Wegner am Gendarmenmarkt, ist in den Stadtchroniken nachzulesen: Vor ihrem Lokal ließen die Inhaber diese Platten verlegen, um ihrer Kundschaft sicheren und sauberen Zugang zu gewähren. In den Jahren darauf folgte in Berlin ein wahrer Gehweg-Boom: Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. finanzierte ab 1835 die Baumaßnahmen mit den Einnahmen der Hundesteuer – und ließ Tausende dieser Granitblöcke im sandigen Berliner Erdreich verbauen.
Ab 1880 gesellten sich dann Pflastersteine rechts und links zu den Platten. Auch sie haben einen klangvollen Namen: Bernburger Kleinpflaster. Weil sie aus der Stadt in Sachsen-Anhalt stammen. Mancherorts bestehen ganze Gehwege ausschließlich aus diesen Pflastersteinen. Gemein haben "Schweinebauch" und "Bernburger Kleinpflaster", dass die meisten von ihnen schlicht auf Sand platziert wurden. Und eben daraus ergeben sich für viele Nutzerinnen und Nutzer große Probleme, die der "Otto Normal-Flaneur" vermutlich gar nicht großartig bemerkt.
Die großen Granitplatten verschieben mit den Jahren ihre Position, Pflastersteine verlieren ihre Stabilität und brechen aus. Es entstehen große Höhenunterschiede zwischen den "Schweinebäuchen", und mancherorts bilden sich große pflasterlose Brachen, die insbesondere mobilitätseingeschränkte Menschen, Rollstuhlfahrer, Eltern mit Kinderwagen und Senioren am Rollator in gefährliche Situationen bringen können. Es besteht stellenweise hohe Sturzgefahr.
Der Autor dieses Beitrags weiß, wovon er schreibt, denn ihm selbst ist das schon mehrfach passiert. Ich sitze im Rollstuhl – und bin schon zwei Mal aus eben diesem katapultiert worden, weil die dünnen Vorderräder meines Aktivrollstuhls in Löchern oder in breiten Lücken der "Schweinebäuche" stecken blieben. Glücklicherweise habe ich mir dabei nie schwere Verletzungen zugezogen.
Meine Tochter musste ich mehr als ein Jahr lang über die äußerst maroden Gehwege der Görschstraße in Pankow hinweg zur Kita bringen, ein Weg, der komplett aus Pflastersteinen besteht. Alle zwei Meter fehlten große Areale von Pflastersteinen. Da wird man ordentlich durchgerüttelt. Und man muss hoch konzentriert unterwegs sein, um solche Spießrutenfahrten schadlos zu überstehen. Erst viele Monate später wurden die Löcher mit Asphalt behelfsmäßig gestopft.
Die Bezirke beteuern, Gefahrenstellen würden zügig beseitigt. "Sogenannte Eilt-Stellen werden noch am selben Tag beauftragt bzw. durch die ausführende Firma erledigt", heißt es selbstbewusst aus Tempelhof-Schöneberg. "Das Bezirksamt hat innerhalb der Frist von 14 Tagen Schäden im Gehwegbereich zu beseitigen, diese Frist ist vertraglich geregelt und wird stets eingehalten", behauptet Spandau. Das Fachpersonal der Straßen- und Grünflächenämter begutachte alle vier Wochen die Gehwege entlang von Hauptverkehrsstraßen sowie alle acht Wochen an Nebenstraßen, betonen alle Bezirke. So verlangt es ja auch das Berliner Straßengesetz.
Das Geld dafür bekommen die Bezirke aus der Landeskasse. Bis Ende 2020 gab es speziell ein Sonderprogramm “Straßen- und Gehwegsanierung“, das nach Angaben der Verkehrsverwaltung des Senats 33,25 Millionen Euro umfasste. Davon mussten sechs Millionen Euro verpflichtend für Gehwegsanierungen verwendet werden.
Ab 2021 wurde dieses Sonderprogramm auf Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses beendet. Stattdessen erhalten die Bezirke "Globalsummen", also fixe Geldbeträge, die für die Unterhaltung des öffentlichen Straßenlands verwendet werden können. Wie viel welcher Bezirk bekommt, richtet sich nach der Länge des jeweiligen öffentlichen Straßenlands. Und wieviel Geld ein Bezirk in die Gehwegsanierung steckt, bleibt ihm selbst überlassen.
Nach wie vor gibt es Sonderprogramme zur Verbesserung des Fußverkehrs: Laut Senatsveraltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz stehen für Fußgängerüberwege und Zebrastreifen in diesem und im nächsten Jahr jeweils 4 Millionen Euro zur Verfügung. Im Topf für Bordsteinabsenkungen stehen demnach in den Jahren 2024/2025 jeweils 2,4 Millionen Euro zur Verfügung. Diese Mittel müssen von den Bezirken beantragt werden. Eine Pflicht zur Umsetzung besteht nicht.
So gut wie alle Bezirke melden zurück, dass sie seit 2020 mehr Geld für Straßen und Gehwege zur Verfügung hatten und dieses auch investiert haben. Steglitz-Zehlendorf hat in diesem Jahr 8,05 Millionen Euro für die Straßenunterhaltung bekommen, im Jahr zuvor waren es 7,2 Millionen Euro. In Mitte stehen 6,6 Millionen Euro zur Verfügung, im Jahr zuvor waren es 5,5 Millionen Euro. "Tendenziell ist ein Anstieg der Mittel zu verzeichnen", heißt es aus dem dortigen Bezirksamt.
Auch im Tiefbausektor sind die Materialpreise teilweise eklatant gestiegen. Die Vermutung liegt also nah, dass nicht etwa mehr saniert wurde, sondern schlicht mehr Geld für die Arbeiten an sich ausgegeben werden musste.
Am in Berlin oft chronisch unterbesetzten Personal in den Behörden liege es derweil nicht, dass manche Gehwegsanierungen nicht vom Fleck kommen, wie uns beispielsweise das Bezirksamt Pankow mitteilt: "An behördlichen Abläufen mangelt es diesbezüglich, was das Tempo bei der Abarbeitung von Aufträgen betrifft, weniger, da die einzelnen Arbeitsschritte zur Beseitigung von Gefahrenstellen innerhalb der Behörde klar definiert sind."
Dass es auf manchen Gehwegen nur sehr zäh vorangeht, räumen aber so gut wie alle angefragten Bezirke ein. Das Problem sehen sie auf der Seite der Ausführenden: Ab und zu gäbe es Lieferschwierigkeiten bei den benötigten Materialien. Noch stärker sei allerdings der Fachkräftemangel in der Baubranche verantwortlich dafür, dass auf manchen maroden Gehwegen wochenlang nichts passiere, teilen alle Bezirke mit. Wenn dann auch noch ein hoher Krankenstand bei Straßenbaufirmen herrsche, komme ein ganzes Projekt ins Trudeln.
Eine solche Baustelle, auf der sich seit Wochen nichts tut, liegt am Weidendamm im Bezirk Mitte. Hier ist der Großteil des Gehwegs am Spreeufer abgesperrt. Unter den "Schweinebäuchen" gab es eine Havarie am Regenkanal. "Der Deckenschluss war für diese Woche geplant, jedoch verzögert sich die Fertigstellung leider aufgrund des hohen Krankenstandes der bauausführenden Firma. Geplante Fertigstellung: 08.03.2024“, erklärt das Bezirksamt Mitte. Zudem hätten "schlechte Bodenverhältnisse" zu der Verzögerung geführt.
Für Menschen im Rollstuhl ist dieser Gehweg aber nicht nur durch die Absperrung eine "No Go-Area". Um auf ihn zu gelangen, muss wegen der hohen Bordsteinkanten ein weiter Umweg in Kauf genommen werden. Und auch auf der gegenüberliegenden Seite entfaltet der dortige Gehweg sein ganzes Stolperfallen-Potenzial. Zwischen den Granitpatten klaffen teils riesige Lücken, hinzu kommen gefährlich tiefe Löcher, die geradezu zum Hängenbleiben und Stürzen einladen. "An diesen historischen Gehwegen ist seit der Wende nichts gemacht worden. Diese Absperrungen hier stehen seit etwa einem Jahr", ärgert sich Roland Stimpel, Vorstand des Fachverbands Fußverkehr Deutschland Fuss e.V.
Oftmals mit Zweirädern oder E-Rollern zugestellte Gehwege sind ihm und seinem Verein auch schon lange ein Dorn im Auge. Die mitunter schlechte Beschaffenheit der Trottoirs tut ihr Übriges. Stimpel geht davon aus, dass Berlin über Gehwege mit einer Gesamtlänge von 10.000 Kilometern verfügt. Würde man alle Gehwege in Berlin aneinanderlegen, käme man zu Fuß bis nach Kapstadt in Südafrika. Wie viele Gehwege in Berlin marode sind, kann Stimpel nicht genau sagen. Er geht aber "von vielen hundert" aus. Besonders schlecht sei die Lage in Berlins Randbezirken, wo häufig Gehwege schlicht nicht befestigt seien.
"Nach der Erhebung Mobilität in Deutschland legen wir 27 Prozent aller Wege zu Fuß zurück, mehr als hinterm Steuer, mit Bus und Bahn oder mit dem Rad. Und trotzdem werden Gehwege im Vergleich zu Straßen in Berlin stiefmütterlich behandelt", moniert Stimpel. "Dabei werden Bevölkerungsgruppen, die besonders viel laufen, immer größer - vor allem Senioren und Kinder. Zudem gibt es in Berlin viele arme Menschen, und sie gehen mehr als Wohlhabende", betont der Fußgänger-Aktivist.
Doch wie lässt das Problem schlechter Gehwege in Berlin letztlich beheben? Einen ersten wichtigen Impuls setzen könnten die Begutachter der Bezirke, die sich alle paar Wochen einen Eindruck vom Zustand der Gehwege machen. Gefragt ist hier mehr Sensibilität für die Belange von mobilitätseingeschränkten Menschen, von denen es mit Blick auf die Alterung unserer Gesellschaft immer mehr gibt. Gefahr herrscht nicht nur bei erheblichen Schlaglöchern, sondern eben auch bei großen Höhenunterschieden zwischen "Schweinebäuchen" oder bei fehlenden Pflastersteinen, auch wenn die Brachen vergleichsweise klein sind. Und auch Baumwurzeln, die die Gehwegdecke anheben, sind nicht zu unterschätzen.
Einen wichtigen Beitrag könnte aber auch ein "Gehwegschadenskataster" leisten, das bereits vor drei Jahren im Berliner Mobilitätsgesetz angekündigt worden war. “Das gibt es immer noch nicht“, bemängelt Stimpel. In der Tat wäre eine solche Übersicht gerade für mobilitätseingeschränkte Menschen ein großer Fortschritt, da man sich – ähnlich wie bei der "WheelMap", die über die Begehbarkeit von Geschäften, Restaurants und Freizeiteinrichtungen informiert - im Vorfeld den geeigneten Weg aussuchen könnte, um ohne Stolperfalle zum Ziel zu gelangen.
Doch eine solche Übersicht lässt weiter auf sich warten. Die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz teilt dazu mit: "Zum Gehwegschadenskataster ist zu sagen, dass wir an der Zustandserfassung der Fuß- und Radverkehrsanlagen arbeiten. Hierfür liegen jedoch noch keine technisch hinreichend objektiven Erfassungsmethoden und Strategien vor. An diesen wird seit 2020 im Rahmen eines Forschungsprojektes gearbeitet. Eine kurzfristige Erfassung des baulichen Zustands der Gehwege ist daher und wegen der beschränkten personellen und finanziellen Ressourcen nicht möglich."
Sendung: rbb24 Abendschau, 25.02.2024, 19:30 Uhr
Beitrag von Frank Preiss
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