Fehlende Infrastruktur in Berlin
Eine kindgerechte bezahlbare Wohnung? Fehlanzeige. Ein Kitaplatz? Nicht überall zu haben. Oberschulplätze? Mangelware. Kinderturnen und Vereine? Warteliste. Sogar Schwimmbäder und Eislaufbahnen sind oft überfüllt. Berlin wächst nicht nach. Von Sabine Priess
Matteo, Luisa, Albert und Charlotte: Da stromern sie herum und sind der Kita sichtlich entwachsen. Wer durch Prenzlauer Berg läuft, kann leicht auf den Gedanken kommen, der Ort sei optimal, um hier mit Kindern zu leben. Doch in der Realität handelt es sich bei dem oft Bullerbü-mäßigen Anblick um eine Art Mogelpackung.
Die Kinder gibt es selbstverständlich wirklich. Sie sind vier von 623.200 vom Mikrozensus 2022 erfassten Menschen in Berlin unter 18 Jahren. Zum Vergleich: 2004 waren es 519.845, also rund ein Fünftel weniger. Doch nur weil in Prenzlauer Berg so viele von ihnen im Stadtbild sichtbar sind, heißt das nicht, dass die Stadt auch auf sie eingestellt ist. Denn in Berlin ist – anders als es die Senatskanzlei auf ihrer Website mit "Berlin – ein Ort zum Kinderkriegen" [berlin.de] suggeriert - Schlangestehen für Familien mit Kindern der Normalzustand.
Matteos Eltern wohnen mit ihm und seinen zwei Schwestern auf 75 Quadratmetern im Kollwitz-Kiez. Das Zimmer, das sich drei Kinder teilen, hat zwar geölte Holzdielen und Stuck - dem elfjährigen Matteo wäre aber etwas mehr Rückzugsraum lieber. Doch eine andere, bezahlbare und kindgerechte Wohnung ist hier nicht zu finden.
Die sportliche Charlotte würde gern Fußball spielen – sie steht seit Monaten auf der Warteliste mehrerer Vereine. Luisas Mutter hatte bis zum Geburtstermin keine Hebamme, Albert kam mit seinen Eltern nicht in einen Kinderturnen-Kurs, als er klein war. In den Schwimmkurs schon, weil seine Eltern die Trainerin kannten. Aber regulär? Kein Platz nirgends.
Und tatsächlich - und das gilt nicht nur für den angesagten Prenzlauer Berg: Fast überall in Berlin ist alles überfüllt und nur, wer sich – früh genug - auf der Warteliste ins Spiel bringt, hat überhaupt die Chance auf Teilhabe am Freitzeitgeschehen.
Betreuung für die Kleinsten ist mittlerweile kein Problem mehr im Prenzlauer Berg: Inzwischen könne man in diesem Bezirk eigentlich alle Eltern mit Kita-Plätzen versorgen, sagt Pankows Bezirksstatdrätin Rona Tietje rbb24. Denn es ziehe ja kaum noch jemand weg. Die Kinder würden also dort groß. Inzwischen mangele es folgerichtig eher an Oberschulplätzen.
Laut Kita-Förderatlas der Senatsverwaltung für Jugend vom Mai 2023 [berlin.de] hat sich die Lage auch in einigen anderen Bezirken Berlins entspannt. Doch es kommen auch immer wieder Kieze neu hinzu, die als besonders bedürftig angesehen werden in Sachen Kitaausbau. Beispiele sind Frohnau, Hakenfelde oder Karlshorst.
Der Grundschulplatz immerhin wird nach Wohnort vergeben, die Oberschulplätze werden nach Notendurchschnitt verteilt – da kann man schon auch mal in einem entfernten Bezirk landen, denn in manchen Bezirken gibt es, so wie in Pankow, mehr Kinder als Plätze. In Friedrichshain-Kreuzberg hatten zuletzt die Gymnasialplätze nicht ausgereicht und Kinder in andere Bezirke geschickt werden müssen. In Spandau hatte es vergangenen Sommer an Plätzen an Integrierten Sekundarschulen (ISS) gefehlt. Auch der Bezirk Lichtenberg musste einen Teil seiner Siebtklässler auf andere Bezirke verteilen.
Von fast allem gibt’s also zu wenig. Und das gilt dann auch und ganz besonders für die Freizeitmöglichkeiten. Da sind vor allem die größeren Kinder betroffen. Im kinderreichen Berlin-Pankow beispielsweise ist ein Platz im Fußball- oder Basketballverein eine Art Lottogewinn. Frank Holweger vom Verein Borussia Pankow hatte rbb|24 berichtet, dass es dort schon seit einigen Jahren "fast mehr Wartende als Mitglieder" gibt. Es mache ihnen beim Verein keinen Spaß, Kinder wegschicken zu müssen, so Holweger, aber der Andrang sei riesig. Auch bei Stern Britz und dem FC Internationale in Schöneberg gibt es lange Wartelisten.
Der Platzmangel gilt für drinnen und draußen. Berlin wächst, hier leben immer mehr Kinder – aber die Spielfläche für sie nimmt seit vielen Jahren kontinuierlich ab. 0,8 Quadratmeter pro Einwohner gab es im Jahr 2000, 2022 waren es nur noch 0,68 Quadratmeter [berlin.de]. Dabei schreibt das Berliner Spielplatzgesetz von 1979 eigentlich einen Quadratmeter pro Einwohner [deutschlandfunk.de] vor. Auch von den fast 1.900 Spielplätzen in der Hauptstadt, von denen die meisten für über Zehnjährige verhältnismäßig uninteressant sind, sind viele geschlossen oder temporär zu. Allein in Pankow sind in diesem Januar mindestens neun Spielplätze ganz oder teilweise gesperrt [berlin.de].
Zur Zeit ist die Situation besonders gut sichtbar. Was tun an einem kalten grauen Wintersonntag mit Nieselregen mit den Kindern? Die Kleinen brauchen die Bewegung unbedingt, die Großen müssen von Smartphone, Konsole oder dem Sofa (oder alldem) weggelockt werden. Und nein, mit Malen und Gesellschaftsspielen kann man sich kein ganzes Wochenende lang beschäftigen – zumindest nicht mit Nachwuchs, der über Bewegungsdrang verfügt.
Also ab ins Schwimmbad. Im größten Bezirk mit den meisten Kindern in Berlin, in Pankow, gibt’s schon gleich gar keins mit in der Halle inklusive Spaßfaktor. Geplant war, anstelle des Sommerbades dort ein Multifunktionsbad nebst einer neuen Grundschule. Die Bauplanung gestalte sich aber gerade wegen letzterer "als komplizierter als gedacht", so Bezirksstadträtin Tietje. Auch Marzahn-Hellersdorf soll in ein paar Jahren so ein aufwändiges Kombibad bekommen. Hier gibt es bislang nicht einmal ein Freibad.
Ein paar eher für Schwimmer geeignete kleinere Hallenbäder gibt in Pankow übrigens schon: Beispielsweise das schick sanierte historische Stadtbad in der Oderberger Straße. Ob die unausgelasteten Kinder dort wirklich brav zwischen Hotelgästen Bahnen ziehen werden? Online lassen sich immerhin Tickets für zweistündige Slots buchen. Kinder zwischen vier und elf Jahren zahlen sechs Euro, Erwachsene elf. Zwei Eltern mit einem drei und einem 13 Jahre alten Kind zahlen also 39 Euro. Und das ohne Extras. Und Arschbomben sind hundertprozentig unerwünscht (das Springen vom Beckenrand, wie fast überall, auch nicht erlaubt).
Irgendwas mit Rutsche, so der Nachwuchs, wäre toll. Da empfiehlt die Suchmaschine gleich den weiten und teuren Weg nach Brandenburg (einen Ausflug ins Tropical Island oder in die Turm Erlebniscity).
Des Rätsels Lösung in der Hauptstadt könnte für Familien hierfür das Stadtbad Lankwitz sein. Neben einem Babybecken gibt es ein Spaßbecken, das auf 30 Grad aufgewärmt ist und eine Elefantenrutsche. Kostenpunkt für Familien (mindestens ein Erwachsener, mindestens ein Kind) mit Kindern: 15 Euro. Und das sogar ohne Zeitbegrenzung. Hinzu kommt, dass an das Gelände direkt eine Eislaufbahn anschließt. Sollte sich der Nieselregen legen, könnte also auch das eine Option sein. Sie öffnet zwar erst um 12 Uhr, der Spaß kostet aber – vorausgesetzt man besitzt eigene Schlittschuhe - 24 Euro Eintritt. Inklusive geliehener Schlittschuhe für alle vier Personen und einer Gleithilfe für das Kleinkind macht es dann schon 55 Euro.
Hinderlich ist, dass die S-Bahn-Linien S25/S25 dort durch die Sperrung des Nord-Süd-Tunnels bis Mitte Februar nur bedingt oder sogar gar nicht hinfährt. Außerdem gibt es gerade an Wochenenden auch hier deutlich mehr Nachfrage als Plätze.
Es kann also passieren, dass Familien nach weiter Anreise unverrichteter Dinge wieder abreisen müssen, weil beide Einrichtungen wegen Überfüllung geschlossen sind und oder mit hoffnungslos langen Schlangen aufwarten.
Das Stadtbad Lankwitz, so eine Sprecherin der Berliner Bäderbetriebe, sei "in der Tat stark nachgefragt". Das liege auch daran, dass "zurzeit zwei besonders bei Familien nachgefragte Bäder (Wellenbad am Spreewaldplatz und Stadtbad Schöneberg) wegen Sanierungsarbeiten geschlossen sind". Einen grundsätzlichen Besucheranstieg in den Berliner Bädern verzeichne man aber nicht.
Alternative Aktivitäten gibt es spontan dann kaum – oder nur in ebenfalls voll (die noch geöffneten anderen Eisbahnen), zu weit weg (Brandenburg) oder noch teurer. Die Eisbahn im Wedding (Erika Heß) und das Eisstadion Neukölln sowie die frühere im SEZ sind geschlossen.
In einer der mindestens fünf Trampolinhallen haben beispielsweise im Regelfall nur die Kinder Spaß und nicht die ganze Familie (Tickets pro Kind ab etwa 16 Euro pro Stunde). Indoorspielplätze (pro Kind etwa 12 Euro) sind eher für kleinere Kinder. Selbiges gilt für die Winterspielplätze, die einige Bezirke oder auch mitunter Kirchengemeinden anbieten. Hier öffnen die Turnhallen für Kinder von einem bis sechs Jahren und hier ist der Eintritt sogar kostenlos. Im Regelfall können sich Berliner Teenager auch nicht mehr für den schon vielfach besuchten Zoo, das Aquarium oder den Tierpark begeistern (Kostenpunkt hier als vierköpfige Familie: 36 Euro). Kletter- und Boulderhallen (Vierköpfige Familie ca. 30 Euro) sind eher etwas ausgewiesen sportliche Familien.
Zudem sind sämtliche aufgezählten Alternativen oft noch deutlich teurer als Bäder oder Eisbahnen. Und ebenfalls, insbesondere am Wochenende, erfahrungsgemäß sehr voll.
So wird es am Ende dann vielleicht doch nur – schon wieder - der Familien-Stadt-Spaziergang. Für den ja, oft genug zitiert, kein Wetter, sondern nur die Kleidung zu schlecht sein kann. Den kann sich aber auf jeden Fall jeder jederzeit immer leisten. An irgendeinem Spielplatz oder einer Sehenswürdigkeit führt er sicher vorbei. Und der Spaß stellt sich oft doch noch ein, wenn man erstmal unterwegs ist. Denn für Indoor-Familienaktivitäten muss man, sofern man einen Platz ergattert, sonst in Berlin tief in die Tasche greifen.
Beitrag von Sabine Priess, rbb|24
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