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Quelle: Picture Alliance/Wolfram Kastl

Interview zu Genitalverstümmelung

"Die Frauen wenden sich ab von dieser grausamen Tradition der Beschneidung"

Der 6. Februar ist "Internationaler Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung". Wer denkt, dass das Thema hierzulande keines ist, irrt. Im "Desert Flower Center" im Krankenhaus Waldfriede in Berlin melden sich regelmäßig traumatisierte Mädchen und Frauen.

rbb|24: Guten Tag, Frau Strunz. Auf Ihrer Website sprechen Sie von Genitalverstümmelung – nicht -beschneidung. Ist Letzteres eine Verharmlosung?

Cornelia Strunz: Ich versuche immer den Begriff zu verwenden, den die Frau benutzt, die mir gegenübersitzt. Viele Frauen reden von Beschneidung. Oder sie umschreiben ihren Zustand auch nur.

Aber ja, viele sagen auch, dass der Begriff Beschneidung verharmlosend wirkt. Und es ist ja auch wirklich eine buchstäbliche Verstümmelung, die den betroffenen Frauen in jüngster Kindheit angetan wird.

Zur Person

Cornelia Strunz

Ihren Angaben nach gibt es Genitalverstümmelungen "nicht nur in Ländern Afrikas". Selbst in Deutschland leben circa 50.000 Opfer dieser Praktik. Heißt das, dass auch die Eingriffe teils hier durchgeführt werden?

Darüber herrscht Unsicherheit. Denn keine Frau, die in Deutschland beschnitten wird, würde sich an die Polizei wenden oder das öffentlich machen. Wir gehen davon aus, dass Beschneidungen von Frauen auch in Deutschland durchgeführt werden. Doch auch in meiner Sprechstunde hat noch nie eine Frau konkret geäußert, dass ihre Beschneidung hier durchgeführt wurde. Aber es ist durchaus bekannt, dass Beschneiderinnen nach Deutschland eingeflogen werden, damit Mädchen hier beschnitten werden können. Doch sagen würde das niemand – die Frauen haben viel zu große Angst vor den Konsequenzen.

Frauen und Mädchen aus welchen Teilen der Welt wenden sich an Sie?

Wir führen unsere Arbeit hier im Krankenhaus Waldfriede seit September 2013 durch. Die meisten Frauen, die sich bei mir gemeldet haben, kommen aus den 28 verschiedenen Ländern in Afrika. Besonders betroffen ist der typische Gürtel vom Senegal und Guinea im Nordwesten bis nach Eritrea und Dschibuti im Nordosten von Afrika. Aber es kommen auch durchaus Frauen, die im Iran, Irak oder in anderen Ländern der Welt beschnitten worden sind.

Doch die meisten kommen aus den verschiedenen afrikanischen Ländern und wurden auch dort beschnitten. Sie leben teilweise schon viele Jahre in Deutschland. Es finden aber auch Frauen aus London oder anderswo ihren Weg zu uns.

Weibliche Genital- verstümmelung - FGM

Wie finden die Frauen zu Ihnen?

Das ist ganz unterschiedlich. Viele betroffene Frauen rufen mich direkt an. Deshalb habe ich mein Telefon vom Desert-Flower-Center auch immer in meiner Kitteltasche. So können mich die Frauen direkt erreichen. Es ist niemand dazwischengeschaltet, damit ihnen die Kontaktaufnahme mit mir erleichtert wird. So hören sie am Telefon gleich eine weibliche Stimme, die auf ihre Ängste und Sorgen eingeht. Einige Frauen schreiben mir auch E-Mails. Oft sind diese mithilfe des Google-Translators übersetzt.

Sehr häufig benötigen die Frauen ein Attest mit dem Nachweis der durchgeführten Beschneidung für ihre Anhörung beim BAMF [Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Anm.d.Red.]. Diese Anfragen nehmen derzeit wieder zu. Es kontaktieren mich aber auch oft Sozialarbeiterinnen, mit denen ich seit vielen Jahren zusammenarbeite oder niedergelassene Gynäkologinnen, die eine betroffene Frau in ihrer Sprechstunde haben. Es melden sich aber auch beste Freundinnen, die der Ansicht sind, ihre Freundin bräuchte unsere Hilfe. Oder eben bereits bei uns behandelte Frauen, die ihre Freundinnen zur Sprechstunde begleiten. Teilweise sitzen Frauen auch spontan hier vor unserem Sprechstundenzimmer und wollen mit mir sprechen. Gerade kürzlich kam eine hochschwangere Frau hierher, die meine Hilfe in Anspruch nehmen wollte.

Wie alt sind die Mädchen und Frauen, die zu Ihnen kommen und wie alt war das jüngste Mädchen?

Das jüngste Mädchen stellte sich direkt in unserer Anfangsphase vor. Die Mutter kam mit ihrer sechsjährigen Tochter. Sie berichtete, dass das Kind über die Sommerferien mit dem Vater im Heimatland gewesen wäre und seitdem über Schmerzen im Genitalbereich klage. Sie hatte Angst, das Kind könnte in den Ferien beschnitten worden sein. Voller Sorge hatte ich das Mädchen dann untersucht. Glücklicherweise konnten wir ausschließen, dass dem Kind etwas angetan wurde. Die älteste Dame war ungefähr Mitte 60. Ganz genau wissen wir es nicht, weil die Geburtsdaten nicht unbedingt gesichert sind. Das Durchschnittsalter der fast 700 Frauen, die ich bisher in der Sprechstunde gesehen habe, liegt bei Mitte 30.

Um welche Folgen der Verstümmelungen kümmern Sie sich. Vor allem um die medizinischen?

Im Erstgespräch höre ich mir alles an. Ich filtere nicht im Vorfeld. Ich biete jeder Frau erst einmal einen Termin bei mir in der Sprechstunde an. Es sei denn, sie ist hochschwanger und fragt nach der Entbindung. Dann leite ich sie an unsere Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe und die Hebammen weiter. Aber ansonsten kann jede Frau, die aus traditionellen Gründen beschnitten worden ist, sich bei mir in der Sprechstunde vorstellen. Diese ersten Gespräche dauern oftmals ein bis zwei Stunden. Die Frauen sollen genug Zeit haben, sich mir gegenüber öffnen zu können. Ich erkläre deshalb auch erst einmal, was wir hier anbieten und aus welchem Grund wir das "Desert Flower Center" eröffnet haben. Ich höre mir dann an, was sie erlebt haben und was ihre Beschwerden sind. Viele der Frauen können das überhaupt nicht einordnen.

Sie sind in jüngster Kindheit – meistens im Alter zwischen vier und zwölf Jahren - beschnitten worden und kennen ihren Körper nicht anders. Zu dem Zeitpunkt der Beschneidung hatten sie meistens noch keinen Geschlechtsverkehr oder ihre Menstruationsblutung. Viele wissen nicht, dass die Blase beim Toilettengang im Normalfall nach kurzer Zeit entleert ist. Für sie ist es daher nicht ungewöhnlich, dass sie mehrere Minuten benötigen, bis die Blase entleert ist oder der Urin nur tröpfchenweise abfließen kann. Auch kann das Menstruationsblut nicht richtig abfließen, wenn sie nach Typ 3 beschnitten worden sind und damit nur eine kleine Restöffnung verblieben ist [Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet je nach Schwere des Eingriffs in FGM-Typen von 1 bis 4; Anm.d.Red.]. Es ist meinerseits sehr viel Aufklärungsarbeit erforderlich. Ich erkläre, wie ein unversehrtes weibliches Genital aussieht. Außerdem erkläre ich, welche unterschiedlichen Formen der Beschneidung es gibt und welche Beschwerden durch die jeweilige Form resultieren können. Nicht alle Beschwerden, die die Frauen angeben, sind auf die durchgeführte Beschneidung zurückzuführen.

Wie überwinden Sie etwaige Sprachbarrieren?

Ich versuche im Vorfeld zu klären, welche Sprache die Frau spricht, die sich in meiner Sprechstunde vorstellen wird. Deutsch und Englisch sind unkompliziert möglich. Wenn eine Frau Französisch oder Somalisch spricht, können wir bei der Organisation von Dolmetschern behilflich sein. Die "Sprachbarriere" war glücklicherweise noch nie ein Problem. Wir finden immer Möglichkeiten. Auch diverse ehemalige Patientinnen bieten da immer wieder ihre ehrenamtliche Hilfe an.

Berlin und Brandenburg

"Terre des Femmes": Tausende Fälle von Genitalverstümmelung

Weltweit sind rund 200 Millionen Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen - auch in Berlin und Brandenburg. Die Menschenrechtsorganisation "Terre des Femmes" schätzt ihre Zahl auf mehr als 7.000.

Gibt es Folgen, wie beispielsweisen ein Trauma, das fast alle betroffenen Frauen teilen?

Das seelische Trauma ist ein großes Thema und bleibt ein Leben lang. Wichtig ist in meiner Arbeit, empathisch mit den Frauen umzugehen und ihnen keine Vorwürfe zu machen. Man muss sie psychologisch auffangen und unterstützen. Wir haben außerdem eine sich regelmäßig treffende Selbsthilfegruppe, wo die Frauen sich kennenlernen und austauschen können. Da machen sich die Frauen gegenseitig Mut.

Trotz ihrer traumatischen Erfahrung wird übrigens keine der Frauen sagen, dass ihre Eltern, ihre Mütter ihnen etwas Böses angetan haben. Sie verteidigen sie eher und verweisen auf die uralte Tradition. Sie gehen davon aus, dass die Eltern wollten, dass ihre Töchter sozial anerkannt werden. Denn in den Herkunftsländern gehört die Beschneidung oftmals dazu, um verheiratet werden zu können und um als vollständige und sozial geachtete Frau zu gelten.

Verhindern die Frauen, die bei ihnen waren, im Regelfall, dass ihre eigenen Töchter dann beschnitten werden?

Ja. Ein Glück. Darüber bin ich sehr froh. Ich kläre die Frauen in meiner Sprechstunde auch darüber auf, dass sie ihre Töchter beschützen müssen. Die Beschneidung ist in Deutschland ein Straftatbestand. Sie dürfen dieses Leid nicht an ihre eigenen Töchter weitergeben. Die Frauen, die bei uns behandelt werden, wenden sich im Regelfall ganz klar ab von dieser grausamen Tradition. Ich bin sehr glücklich, wenn in dieser Generation ein Umdenken stattfindet. Prävention ist ungemein wichtig.

Fritz-Podcast "Tabulos"

Weibliche Genitalverstümmelung – Ntailan ist bis heute traumatisiert

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Kommen die Frauen im Regelfall heimlich zu Ihnen?

Das ist unterschiedlich. Viele kommen ohne das Wissen ihrer Mütter im Heimatland zu uns. Einige haben auch deren Unterstützung. Aber die meisten haben vor ihrer eigenen Community Angst. Ein rekonstruierender Eingriff ist indirekt eine Auflehnung gegen die eigene Community. Für die meisten ist es daher eher schwierig, darüber zu sprechen. Im Jahr 2017 war eine Frau bei mir in der Sprechstunde, die so zugenäht war, dass nur eine stecknadelkopfgroße Öffnung vorhanden war. Sie wollte sich aus Angst vor einer Abschiebung nicht operieren lassen. Denn wenn sie ins Heimatland zurückgemusst hätte, hätte ihr der Tod gedroht.

Überzeugen Sie die Frauen dennoch, sich operieren zu lassen?

Ich rede mit jeder Frau darüber und erkläre ihr, was wir medizinisch verändern können und was nicht. Wenn sie sich dann operieren lassen, freue ich mich darüber, wenn ich der Ansicht bin, dass wir dadurch ihre Beschwerden lindern können. Doch möchte ich niemanden zu einer Operation überreden.

Können sich alle Frauen eine OP leisten?

Bei den Frauen, die hier in Deutschland krankenversichert sind, übernehmen die Krankenkassen die Kosten. Über unseren Förderverein sammeln wir aber auch Spenden für die nicht versicherten Frauen. Die Operationen kosten zwischen zwei- und viertausend Euro.

Hinweisschild gegen Beschneidungen in Benin | Quelle: Picture Alliance/Thomas Koehler

Was müsste passieren, damit diese Verstümmelungen nicht mehr vorkommen?

Ich denke oft, man sollte die Beschneiderinnen in ihren Heimatländern umschulen. Aber im Ernst: es ist schwer, denn das ist eine uralte Tradition. Diejenigen, die sie durchführen denken, dass das das Richtige ist für die kleinen Mädchen. In vielen Ländern ist es zwar inzwischen verboten. Doch gerade in den kleinen Dörfern geht die Polizei dem nicht nach.

Bildung ist nach wie vor das Allerwichtigste. Die Mädchen müssen in die Schulen gehen können, sie müssen eine Ausbildung und einen Beruf erlernen und damit auch von den Männern unabhängig gemacht werden.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

Sendung: rbb24 Inforadio, 08.02.2024, 10:00 Uhr

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