Bleiberecht durch "Ankerkinder"
Tausende Menschen erlangen über Schein-Vaterschaften ein Bleiberecht in Deutschland. In Berlin wird gegen eine Bande ermittelt, die offenbar solche Vaterschaften illegal gegen Geld vor allem an Personen aus Vietnam vermittelt. Von Chris Humbs und Olaf Sundermeyer
Bis zu zwei Mal die Woche meldet sich das Bauchgefühl bei dem langjährigen Berliner Standesbeamten Heinz Zimmermann. Darauf muss er sich verlassen, wenn es darum geht, bei einer Vaterschaftsanerkennung Missbrauch zu verhindern. Denn andere Möglichkeiten hat der Neuköllner Standesbeamte kaum.
ARD-Kontraste und rbb24 Recherche liegen mehrere Fälle von Vätern vor, die eine Vielzahl von Kindern verschiedener, ursprünglich ausreisepflichtiger Frauen anerkannt haben. In einem Fall geht es um 24 Kinder. Weil der angebliche Vater angibt, mittellos zu sein, kommt der Staat für alle diese Kinder auf. Den beurkundenden Stellen ist die Häufung und damit der mutmaßliche Missbrauch nicht aufgefallen.
Neben Standesämtern können Jugendämter und Konsularbeamte in Botschaften Vaterschaftsanerkennungen beurkunden. Die Ämter können vor einer Vaterschaftsanerkennung nicht einsehen, wie viele Kinder ein Antragsteller bereits anerkannt hat. Das können nur Ausländerbehörden. Ein zentrales Personenstandsregister gibt es aus Datenschutzgründen in Deutschland bisher nicht.
In der bisherigen Regelung klafft eine Lücke, die Missbrauch leicht macht - und die Kontrolle durch beurkundende Beamten wie Heinz Zimmermann schwer. Für die Anerkennung einer Vaterschaft in Deutschland ist es unerheblich, ob der Antragssteller der leibliche oder der soziale Vater ist, als derjenige, der das Kind aufzieht. Ist das Kind erstmal von einem deutschen Vater anerkannt, ist daran nicht mehr zu rütteln: Es ist dann deutscher Staatsbürger, seine Mutter erlangt ein legales Aufenthaltsrecht, und das Gesetz ermöglicht den Familiennachzug aus dem Herkunftsland. Im Jargon der Behörden werden solche Kinder "Ankerkinder" genannt. Fachleute gehen von Zehntausenden Fällen in den vergangenen Jahren aus, die Datenlage ist aber spärlich.
Heinz Zimmermann klärt als Fachreferent des "Bundesverband der Deutschen Standesbeamten" (BDS) Kolleginnen und Kollegen darüber auf, wie sie erkennen können, ob ein Vater, der ein Kind anerkennen will, das tut, um ernsthaft die Vaterrolle auszuüben - oder einzig zur Erlangung legaler Aufenthaltstitel. Die Fälle, in denen Zimmermann und seine Berliner Kollegen der Ausländerbehörde Missbrauchsverdacht melden und die Vaterschaftsanerkennung aussetzen, kommen den Angaben zufolge vor allem aus Ländern des Westbalkan, aus Westafrika, oder aus Vietnam, "weil wir da ja in Berlin eine Häufung haben", wie Zimmermann erklärt.
Die Vermutung, dass für solche Schein-Vaterschaften Geld bezahlt wird, lässt sich kaum belegen. Den Behörden gelingt es selten, ein kriminelles Geschäftsmodell aufzudecken.
Die Berliner Staatsanwaltschaft erhebt aktuell Anklage "wegen Einschleusungen mittels Schein-Ehen und Vaterschaftsanerkennungen" gegen eine zehnköpfige Bande vietnamesischstämmiger Personen - ein beispielhafter Fall. Die Bande soll Vaterschaftsanerkennungen für mindestens 20 Kinder für Mütter aus Vietnam vermittelt haben, um diesen einen Aufenthaltstitel in Deutschland zu verschaffen. Dafür sollen die Täter deutschen Vätern aus dem Obdachlosenmilieu ein Handgeld zwischen 500 und 1.500 Euro gezahlt und von den Müttern aus Vietnam bis zu 35.000 Euro kassiert haben, erklärt der ermittelnde Staatsanwalt Frank Pohle.
Pohle sieht darin ein "Phänomen im Milieu der vietnamesisch-stämmigen deutschen Staatsangehörigen" in Berlin, wo es eine große vietnamesische Community gibt. Es sei häufig so, dass die vietnamesischen Frauen gezielt nach Berlin kämen, "um hier ihr Aufenthaltsrecht zu legalisieren, um dann in andere Bundesländer zu verziehen".
In Nordrhein-Westfalen gehen die Behörden davon aus, dass die meisten Personen, die ein dauerhaftes Bleiberecht im Zuge einer missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennung erlangt haben, dauerhaft soziale Transferleistungen beziehen. Deshalb hatte sich etwa das kommunale Jobcenter der Stadt Wuppertal mit einer entsprechenden Warnanzeige an das Landesinnenministerium gewandt, die rbb24 Recherche und ARD-Kontraste vorliegt.
Bereits im vergangenen Jahr sollte die Bundesregierung auf Bitte der Innenminister der Länder einen Gesetzentwurf zur Anpassung des geltenden Rechts zur Vaterschaftsanerkennung vorlegen. Der diesjährige Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der Brandenburger Innenminister Michael Stübgen (CDU), drängt auf eine Gesetzänderung: In den Fokus stellt er Personen ohne gültigen Aufenthaltsstatus, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, oder die ihre Identität noch nicht offenbart haben. Wenn es in solchen Fällen den Verdacht gebe, dass es zu Missbrauch der Vaterschaftsanerkennung kommen könnte, müsse der Staat schon im Vorfeld die Möglichkeit haben, dieses zu unterbinden, fordert Stübgen.
Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hatte 2017 einen eigenen Gesetzesentwurf vorgelegt, mit dem sie später im Bundesrat gescheitert war. Darin ging es unter anderem um eine verpflichtende Kontrolle durch die Ausländerbehörden in jenen Fällen, in denen durch die Beurkundung einer Vaterschaft das Aufenthaltsrecht der Mütter legalisiert wird.
Das Bundesinnenministerium bezifferte im Jahr 2017 (BMI) "die Anzahl der Missbrauchsfälle auf eine mittlere vierstellige Zahl", wie aus einem internen Auswertebericht der "Sicherheitskooperation Ruhr" (SiKo) in Essen hervorgeht. Der Behördenzusammenschluss rechnete die "jährliche bundesweite Belastung des Steuerzahlers" dafür auf über 150 Millionen Euro hoch. Aktuelle Zahlen liegen allerdings nicht vor.
Das Bundesjustizministerium (BMJ) teilte in dieser Woche auf Anfrage von ARD-Kontraste mit, dass ein Gesetzentwurf für ein angepasstes Recht zur Vaterschaftsanerkennung "zeitnah" vorgelegt werden soll. Einen genauen Termin nannte das Ministerium nicht.
Sendung: Kontraste, 22.02.2024, 21:45 Uhr
Beitrag von Chris Humbs und Olaf Sundermeyer
Artikel im mobilen Angebot lesen