Interview | Kriminologe zu Jugendkriminalität
Silvesterkrawalle, Schlägereien in Freibädern und Jugendliche, die andere Jugendliche ausrauben: Die Jugendkriminalität in Berlin steigt an. Was das mit autoritären Vätern zu tun hat, erklärt der Kriminologe Claudius Ohder.
rbb24: Herr Ohder, warum begehen so viele Minderjährige Straftaten? Ist das normal?
Claudius Ohder: Das ist einmal statistisch normal, das heißt, egal welches Jahr sie nehmen, welche Statistik sie anschauen, es gibt immer eine vergleichsweise hohe Belastung der Altersgruppe ab 12, 13, 14, 15, 16 das ist so ungefähr der Peak. Und danach geht das zurück.
Sobald Kinder sich selbständig machen, nach draußen gehen, sobald nicht mehr nur Eltern Hauptbezugspersonen sind, sondern eben auch die Kumpels und die Kumpelinnen und irgendeine Szene, nimmt Konfliktverhalten zu, werden auch die Normen erprobt und man möchte mal gucken, was passiert, wenn man über die Stränge schlägt.
Mit Anfang 20 geht das deutlich zurück, weil nämlich dann einfach auch der Einsatz höher ist. Wenn Leute mit 21, 22 mit der Polizei als Tatverdächtige in Kontakt kommen, hat das einen negativen Rattenschwanz - und dann überlegt man zweimal, ob man das tatsächlich tut.
Nimmt kriminelles Verhalten dann einfach im Alter ab?
Statistisch gesehen ja, was nicht heißt, dass man nicht jeden einzelnen Fall untersuchen muss. Denn stellen sie sich vor, ein 13-Jähriger wird polizeiauffällig, er zieht Aufmerksamkeit auf sich. Das hat gute und schlechte Seiten, er bekommt Karteien, wird stärker begleitet, betreut, beaufsichtigt. Es gibt stärkere, auch formelle Kontrolle.
Dann kommt er irgendwann vor das Jugendgericht, es gibt eine Sanktion. Und in dem Maße gibt es dann auch im Lebenszuschnitt eine deutlich Prägung durch das Begehen von Straftaten und dann setzt man selbst Definition im Sinne von "ich bin halt ein auffälliger Jugendlicher und ich messe mich dann an den Kriterien meiner Kumpels, die sich ähnlich verhalten."
Das klingt so, als ob Sie sagen würden, dass der Kontakt zu den Strafverfolgungsbehörden der größte Risikofaktor für Kriminalität bei Jugendlichen ist.
Das stimmt wiederum auch statistisch. Das heißt, je häufiger der Kontakt zu Strafverfolgungsbehörden stattgefunden hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Normverletzungen fortsetzen.
Wenn wir im Umkehrschluss aber gar nichts mehr tun, ist das auch nicht korrekt. Denn natürlich muss auch ein Kind, ein Jugendlicher, der Normen verletzt, eine klare Reaktion bekommen. Im Sinne von, das ist nicht akzeptiert, das darfst du nicht tun. Aber wir bieten dir auch an, Wege zu finden, die dich zu anderen Verhaltensweisen führen.
Bislang kann die Polizei wenig gegen minderjährige Straftäter, besonders gegen solche, die unter 14 Jahre alt sind, unternehmen. Halten denn Ansprachen bei den Eltern jugendlicher Straftäter sie davon ab, wieder straffällig zu werden?
Die Gegenfrage wäre, bringt es etwas, Zwölfjährige mit strafrechtlichen Maßnahmenn zu überziehen? Das wäre im Extremfall irgendeine Form von geschlossener Unterbringung, also irgendein Kindergefängnis, um vielleicht dem Ding mal einen Namen zu geben, oder es wäre irgendeine Form von Bestrafung. Aber was kann man sich da vorstellen? Taschengeld-Entzug, Hausarrest, Umgangsverbot mit irgendwelchen problematischen Freunden?
Ich glaube, das geht alles nicht durch einen richterlichen Beschluss. Das geht alles nur im Rahmen von konzertierten Erziehungsmaßnahmen, und da sind uns die Hände nicht gebunden. Wenn Eltern Probleme bei der Erziehung haben, dann können sie sich an Beratungsstellen wenden. Es gibt auch freie Träger, die auch in der Lage sind, Familien aufzusuchen, zu schauen, was ist da eigentlich im Argen?
Obendrein ist es natürlich so, dass viele von den Jugendlichen, die stark auffallen mit Gewalt, aus schwierigen sozialen Lagen kommen. Das heißt nicht, dass es damit entschuldigt ist. Aber es ist eben ein Umstand, der einbezogen werden muss und nicht lösbar wäre durch strafrechtliche Maßnahmen.
Es gibt ein paar Länder, in denen das Strafrecht für Kinder auch schon anwendbar ist. Aber soweit ich das nachvollziehen kann, führt das nicht dazu, dass Gewalt abnimmt. Es ist dann eher ein populistisches Angebot an die Gesellschaft im Sinne von, wenn jemand Norm verletzt, dann reagiert der Staat hart. Das gefällt manchen, aber es bringt eigentlich keine Verbesserung der Situation.
Opfer, mit denen wir gesprochen haben, fühlen sich nach der Tat etwas hilflos und fordern teilweise auch, dass härter durchgegriffen wird.
Es hilft dem Opfer und den Eltern von Opfern erstmal nicht, wenn ein Täter härter bestraft wird. Das wichtigste für Opfer ist, dass ihr Leid, sei es körperlich oder psychisch, sozial anerkannt wird und irgendeine Form von Wiedergutmachung geschieht.
Insofern sind die Maßnahmen, die Opfern am meisten helfen, eine Form von Ausgleich zwischen Täter und Opfer. Wichtig gerade für Jugendliche Opfer ist auch, dass sie mitkriegen, dass der oder die Täter verstanden haben, dass ihr Raub oder ihr Diebstahl tatsächlich Spuren hinterlässt. Dass die Täter reflektieren, dass ihr Spaß zu Kosten eines massiven Verlustes von anderen geht.
Da hilft Opfern aber nicht das Einsperren oder Wegschließen. Das ist vielleicht eine abstrakte Genugtuung, bringt aber eigentlich keine Seite weiter.
Was sind denn die Umstände, unter denen Kinder oder Jugendliche kriminell werden?
Ob sie jetzt kriminell sind, ist schwer zu beantworten. Kriminell heißt eigentlich, dass jemand im Wissen der Nachteile für andere, sehr egoistisch Straftaten begeht, das plant und vermeidet, dass polizeilich ermittelt wird.
In den meisten Fällen sind das Taten, die aus der Situation heraus geschehen. Das heißt, die Gruppe schafft Kohäsion durch Konfliktverhalten. Schafft das Gefühl von Überlegenheit, indem man andere bedroht, andere gängelt, andere auch unmächtig macht. Insofern ist das nicht eine Frage von sind das Kinder aus kriminellen Familien, sondern eher, ob das Kinder oder Jugendliche sind, die an anderen Stellen keine emotionale Bindung haben, auch nicht das Gefühl haben, dass sie irgendwo erfolgreich sind.
An was fehlt es diesen Jugendlichen?
Ich habe das ganz intensiv untersucht und habe eine Reihe von Fällen von minderjährigen Intensivtätern angeschaut, die im Strafvollzug saßen, habe mit ihnen Interviews geführt und da gab es eigentlich zwei durchgängige Erkenntnisse. Das Erste ist, dass die Familien überfordert waren mit der Kontrolle ihrer Kinder. Das heißt, Sie hatten keinen Zugriff mehr auf die Kinder, was teilweise darauf zurückzuführen ist, dass den Eltern einfach die Mittel gefehlt haben. Die haben erstmal die normalen, disziplinarischen Maßnahmen abgespult, du bleibst zuhause, du kriegst kein Geld mehr, dein Taschengeld wird gekürzt. Aber sie können sich vorstellen, dass 14 oder 15-Jährige irgendwann auch sagen, das reicht mir jetzt, ich gehe trotzdem.
Und der zweite Punkt war, dass bei diesen Jugendlichen, die wirklich massive Straftaten begangen haben, es an einer Betreuungskonstanz gefehlt hat. Das heißt, sie wurden auffällig in der Schule, dann gab es Verweise, sie wurden von Schule zu Schule weitergereicht und nirgendwo waren sie dann in der Folge noch emotional verankert. Das heißt, es gab auch keine Person, die für sie bedeutungsvoll war. Auf deren Urteil oder Einschätzung sie auch nur einen einzigen Pfifferling gegeben hätten.
Und das waren aus meiner Sicht die beiden Hauptprobleme. Man konnte nicht feststellen, dass Migration eine riesen Rolle spielt. Man konnte auch nicht feststellen, dass das nur eine Frage von Intelligenz ist.
Gibt es also keinen Zusammenhang zwischen Herkunft und Kriminalität?
Im Vordergrund stehen in diesem Zusammenhang soziale Probleme. Ich bin jemand, der sagt, wenn das so aussieht, als ob da ein Zusammenhang bestünde, dann muss es zumindest geprüft werden. Aber die Frage ist, was heißt denn Herkunft oder Migrationshintergrund? Ist es tatsächlich der Umstand, dass in einer Familie ein Migrationshintergrund besteht, oder es ist eher eine soziale Lage, die einhergeht mit einer Migrationsbiografie? Und ich glaube, das zweite ist der Grund.
In den Fällen, die ich untersucht habe, und das waren viele, gab es beispielsweise sehr oft problematische Vaterrollen. Das mag damit zusammenhängen, dass teilweise Väter aus bestimmten kulturellen Bereichen auch eine sehr starke autoritäre Orientierung haben, die nicht unbedingt produktiv ist, um Kinder zu leiten. Das mag damit zusammenhängen, dass die zum Teil auch stark belastet waren mit persönlichen Problemen, mit Arbeitslosigkeit, mit geringem Einkommen.
Das sind eher Merkmale, die mit Migration korrelieren, aber nicht ihren Ursprung in der Migration haben. Insofern müssen wir mit sozialen Maßnahmen ansetzen und nicht irgendwelche Migrationsbeauftragten mit diesen Problemen behelligen - das wäre zu kurz gedacht.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Efthymis Angeloudis.
Artikel im mobilen Angebot lesen