Drittstaaten-Angehörige aus der Ukraine
Ein fertig studierter Bauingenieur soll in sein Herkunftsland Nigeria zurück, obwohl er in Berlin arbeiten möchte. So wie ihm geht es vielen Angehörigen aus Drittstaaten, die aus der Ukraine geflohen sind. Weil er Glück hat, hat er noch eine Chance. Von Anna Bordel
Eine Rückkehr nach Nigeria ist für ihn ausgeschlossen. Seit Francis Chisum Iwu vor zweieinhalb Jahren dort aufbrach, war er ungefähr in sechs europäischen Ländern. Jetzt ist er entschlossen, dass seine Reise in Berlin endet. Iwu - hellbraune Jacke, auffällige Uhr, kurze Dreads – läuft durch einen Hinterhof mit Blick auf die Spree im strömenden Regen. Seinen Antrag auf einen Aufenthaltstitel wurde vor einigen Wochen abgelehnt, in einer Woche soll er laut dem Landesamt für Einwanderung Deutschland verlassen haben. Das will er aber nicht.
Zu mühsam war der Weg, der ihn nach Berlin führte, zu viel hat er sich hier bereits aufgebaut. Mit 26 Jahren ging er als bereits fertig studierter Bauingenieur aus Nigeria in die Ukraine. Er hatte einen Studienplatz für Computer Science in Kiew. Zuvor hatte er schon verschiedene andere Wege ausprobiert, um nach Europa auszureisen. Dieser hat letztlich funktioniert.
In der Ukraine nahm er das Studium auf und machte daneben einen Sprachkurs für Russisch. Außerdem hatte er mehrere Nebenjobs als Putzkraft. In Kiew anzukommen war nicht leicht für ihn, wie er erzählt. Als er dann ein paar Brocken Russisch sprach, wurde es allmählich besser.
Trotzdem war da immer wieder diese Frage, ob die Ukraine wirklich das Land für ihn ist. "Früher hatte ich immer diesen Traum davon, in Deutschland als Ingenieur zu arbeiten", sagt er. Doch bevor er diesem Gedanken mehr nachgehen konnte, passierte etwas anderes. Ende Februar 2022 griff Russland die Ukraine an.
Mehrere Tage blieb Iwu noch in seiner Wohnung in Kiew - unter Bombenalarm. Schließlich entschied er sich zur Flucht. Dabei hatte er eine Tasche mit seinem Laptop und seine Jacke.
Seine Flucht gehöre zu dem Schlimmsten, was er bislang erlebt habe, sagt Iwu. Dabei sei ihm sogar etwas passiert, was noch nie vorgekommen war, weil es in seinem bisherigen Leben als verboten galt: Er hat geweint.
Auf Umwegen über die Slowakei, Ungarn, Tschechien und Polen kam Iwu vor bald zwei Jahren nach Berlin. Hier endete seine Flucht, bei einer Familie in Berlin-Treptow-Köpenick.
Drei Tatsachen machten es ihm auf der Flucht besonders schwer: seine Hautfarbe, sein Alter und sein Geschlecht. Mehrfach wurde er von Grenzposten angeschrien, er solle im Land bleiben und kämpfen als Mann im wehrfähigen Alter, berichtet Iwu. Wie oft er von Militärbeamten gemeinsam mit anderen Menschen mit dunkler Hautfarbe an die Seite gestellt wurde, während andere die Grenze überqueren oder einen Zug betreten durften, weiß er nicht mehr. Wie viele Tage er vor Grenzübergängen ohne Essen im Freien darauf wartete, dass man ihn passieren lässt, auch nicht. Manchmal stieg Iwu auf seiner Flucht einfach in einen Bus ein, ohne zu wissen, wohin dieser fuhr, einfach um im Warmen zu schlafen, so erzählt er es.
Die Geschichte von Iwu ist eine von vielen sogenannten Drittstaaten-Angehörigen, also Menschen, die aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen sind, aber ursprünglich aus einem Land außerhalb Europas stammen. Wie viele Drittstaaten-Angehörige seit Kriegsbeginn einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel in Berlin gestellt haben, erfasst das Landesamt für Einwanderung eigenen Angaben zufolge nicht gesondert. Fakt ist, dass sie nicht die gleichen Rechte haben wie Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit. Sie müssen entweder aus einem nicht sicheren Herkunftsland stammen oder Beschäftigung in ihrem Ausbildungsfeld, einen Ausbildungs- oder Studienplatz nachweisen.
"Drittstaaten-Angehörige wurden in Deutschland nie als Kriegsflüchtlinge behandelt", meint Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat Berlin. Sie kennt zahlreiche Geschichten von Menschen zum Beispiel aus Ägypten oder Nigeria, die aus der Ukraine geflohen sind, dort mitten im Studium waren oder kurz vor dem Abschluss und hier in Deutschland kaum Chancen haben, ihre Ausbildung fortzusetzen. Um einen Studienplatz zu bekommen, wird oftmals Sprachlevel C1 gefordert, also fließend Deutsch zu sprechen.
"Wenn es Deutschland schon nicht um Menschlichkeit geht, dann muss es doch wenigstens um Weitsicht gehen: Qualifizierte Menschen werden in diesem Land doch gebraucht", sagt Barnickel. Ihrer Meinung nach hätte die Tatsache, dass viele qualifizierte Menschen aus Deutschland ausreisen müssten, eine abschreckende Wirkung auf Fachkräfte aus dem Ausland, so Barnickel. Diese würden sich dann eher um eine Arbeitserlaubnis in den USA bemühen.
Iwu spricht Deutsch schon recht gut, er hat das Zertifikat B2. Außerdem macht er ein Praktikum bei einem IT-Unternehmen. Sein Wunsch wäre, dass er eine Arbeit als Ingenieur findet.
Über die Familie, bei der Iwu seit seiner Ankunft in Berlin lebt, sagt er, solche Menschen habe er noch nie zuvor getroffen. Und während er das erzählt, weint er fast wieder. "Wenn ich solche Menschen in Nigeria gekannt hätte, dann wäre ich vielleicht nie gegangen", sagt er. Bei Familie K. hat er nach seiner Flucht ein Zimmer bekommen. "Er ist ein total liebenswerter Mensch, der von Anfang an bemüht war, sich ein Leben in Berlin aufzubauen und Initiative ergriffen hat", erzählt Lilo K., Restaurantbesitzerin, die Iwu seit seiner Ankunft kennt und unterstützt.
Im Februar 2024 passiert aber erstmal wieder etwas anderes, was alles verändert. Er bekommt einen Brief vom Landesamt für Einwanderung, in dem er bis zum 10. März zur Ausreise aufgefordert wird. Sein Antrag auf einen Aufenthaltstitel wurde abgelehnt. Er habe "nahezu zwei Jahre" Zeit gehabt, sich eine Ausbildung oder eine Arbeit zu suchen. Das sei nicht erfolgt. "Es besteht kein Anspruch auf weiteres Hinwarten", heißt es weiter in dem Schreiben. "Bezüglich Nigeria ist nicht davon auszugehen, dass Ihnen eine sichere und dauerhafte Rückkehr nicht möglich ist", auch das steht dort.
Wenn man Iwu fragt, was ihn in Nigeria erwartet, verändert sich bei dem ansonsten so gesprächigen Mann etwas. Er blickt einen beim Sprechen nicht mehr an, schüttelt häufig den Kopf und sagt vor allem diesen einen Satz: "Ich kann einfach nicht nach Nigeria zurück." Er wirkt an dieser Stelle des Gesprächs sehr aufgebracht. Als wäre da eine ganze Welt an Erfahrungen, er versucht sie zu erklären, aber es gelingt nicht so richtig, sie im Detail zu verstehen. Er spricht davon, wie er gesehen hat, wie Menschen auf offener Straße erschossen werden. Davon, dass auf ihm als Erstgeborenen ein immenser Druck der ganzen Familie lastet. Von familiärer Religiosität und einem Zwist in der Familie, der für ihn am Ende lebensbedrohlich wurde.
Am Ende sind vor allem zwei Dinge klar: Iwu hat nach seinen Erzählungen Dinge in Nigeria erlebt, die er als traumatisch empfindet. Und: Das einem Gericht klarzumachen, wird schwierig werden. Vielleicht muss er das aber auch gar nicht. Anders als in Kiew vor zwei Jahren hat er in Berlin eine Chance darauf sein Schicksal abzuwenden. Über einen Anwalt hat er jetzt eine Klage gegen die Abschiebung eingereicht. Er wird einen Arbeitsvertrag für Bauingenieurtätigkeiten im Architekturbüro der Familie K. bekommen, womit er Arbeit in seinem Ausbildungsbereich nachweisen kann. Die Kosten für den Anwalt übernimmt erstmal die Familie.
Beitrag von Anna Bordel
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