Patienten immer jünger
Immer jüngere Menschen mit Essstörungen werden in Berliner und Brandenburger Kliniken behandelt. Soziale Medien können Einfluss auf die Entstehung der Krankheit haben – deswegen sollte die Prävention genau dort stattfinden, sagen Expert:innen. Von Jonas Wintermantel und Helena Daehler
"Man denkt über nicht viel anderes nach. Was esse ich als nächstes? Wo kann ich am besten Kalorien einsparen? Rollt sich beim Sitzen gerade mein Bauch? Das ist wie ein dauerhaftes Brummen im Kopf." So beschreibt die 16-jährige Luise aus der Nähe von Frankfurt (Oder) ihr alltägliches Gedankenkarussell. Vor drei Jahren ist sie in eine Essstörung gerutscht.
Im ersten Corona-Sommer 2021 – da ist Luise 13 – kommt sie in die Pubertät und beginnt, sich mit anderen zu vergleichen. "Ich habe mit einer Freundin zusammen angefangen, mehr Sport zu machen – dann sind wir auf eine App gestoßen, mit der man Kalorien zählen kann." Die App hat sie bei Influencerinnen in den sozialen Medien entdeckt. Sie verliert sehr schnell Gewicht – an die 20 Kilo in wenigen Monaten. Irgendwann beherrscht die Essstörung ihren Alltag.
Als Luise in den gemeinsamen Familienurlaub ihre Waage mitnimmt, interveniert ihr Vater. Sie beginnt kurz darauf eine Therapie in der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) des Klinikum Frankfurt (Oder). Zwei Kilo weniger, und sie wäre im Krankenhaus gelandet, sagt Luise heute. "Ich glaube, ich habe mich einfach selbst verloren!"
Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: In Berlin und Brandenburg hat sich die Anzahl der 10- bis 17-Jährigen, die wegen einer Essstörung im Krankenhaus waren, in den vergangenen fünf Jahren nahezu verdoppelt. In Berlin wurden 2022 mit 335 Betroffenen mehr als doppelt so viele Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 17 Jahren im Krankenhaus behandelt (2019: 158). In Brandenburg ist die Zahl der entsprechenden Klinikaufenthalte von 92 (2019) auf 150 (2022) angestiegen. Dabei waren im Jahr 2022 96 Prozent der 10- bis 17-jährigen Personen mit Krankenhausaufenthalten weiblich.
"Das Einstiegsalter, in dem zum Beispiel eine Magersucht beginnen kann, ist auf elf Jahre gesunken, von ehemals 14 Jahren", sagt Carmen Schmidt von Dick & Dünn e.V., dem Berliner Fachberatungszentrum bei Essstörungen. Bereits seit 1986 bietet ihr Verein ein niedrigschwelliges Beratungsangebot für Betroffene und deren Angehörige, bildet Fachkräfte fort und macht Präventionsarbeit an Schulen.
"Das hat damit zu tun, dass die Pubertät früher einsetzt, aber auch mit Social Media und Corona", so die Sozialarbeiterin. "In der Pandemie mussten die Kinder zu Hause klarkommen, waren oft isoliert. Viele fühlten sich sehr auf sich zurückgeworfen." In dieser Zeit sei auch die Bildschirmzeit der Jugendlichen enorm gestiegen – und nicht selten auch zur Sucht geworden.
"Das birgt ein großes Risiko für die Entstehung von Essstörungen", erklärt Carmen Schmidt, auch wenn es nicht die Hauptursache sei. "Allem voran steht immer die Selbstwert-Verunsicherung, und dass ich in eine Krise geraten bin. Dass ich mich allein fühle. Und dann bietet das Internet – egal auf welchen Kanälen ich mich befinde – eine Ersatzbindung, eine Ersatzfreundschaft."
Deswegen betont Schmidt die Rolle der Familien. Diese seien heutzutage stark gestresst. Häufig würden deshalb Anzeichen von Essstörungen von den Eltern nicht erkannt. "Deshalb finde ich es wichtig, dass Bindung zu Hause wieder real stattfinden kann. Dass die Familien mehr gestärkt werden." Heißt konkret: Mehr Zeit füreinander, mehr Ruhepausen mit ungeteilter Aufmerksamkeit für die Kinder.
Neue internationale Studien weisen auf einen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und der Entwicklung von Essstörungen hin. Sie zeigen erstens: Je länger und intensiver Jugendliche soziale Medien nutzen, desto höher ist für sie die Gefahr, Symptome einer Essstörung zu entwickeln und unzufriedener mit dem eigenen Körper zu sein [jeatdisord.biomedcentral.com]. Und zweitens: Gerade diejenigen Jugendlichen, für die die Anzahl von Likes und Followern auf Social Media besonders wichtig ist, schränken sich beim Essen ein und sind mit ihrem Körper unzufriedener [pubmed.ncbi.nlm.nih.gov].
Die Glorifizierung von und die Anstachelung zu krankhaftem Essverhalten ist in den sozialen Medien nichts Neues. Schon seit Jahren gibt es einschlägige Kanäle, Foren und Gruppen, in denen sich Betroffene gegenseitig zum Abnehmen anstacheln. "Pro-Ana" (für Anorexie) und "Pro-Mia" (für Bulimie) sind nur zwei Beispiele für geläufige Ausdrücke, die die Gefahren von Essstörungen kleinreden – die Krankheit wird zum Lifestyle hochgejubelt.
Was 2010 noch die "Thigh Gap" war, also eine Lücke zwischen den Oberschenkeln bei geschlossenen Beinen, ist heute der TikTok-Trend der "Legging Legs". Zwei Begriffe für ein und dasselbe ungesunde und im schlimmsten Fall lebensgefährliche Körper- und Schönheitsideal. Unter dem Hashtag #thinspo (aus "thin" und "inspiration") teilen Nutzer:innen etwa ihre "Fortschritte" oder "nützliche" Tipps.
Inzwischen kann man auf den Plattformen zwar nicht ohne Weiteres Begriffe wie "Magersucht" oder "Essstörungen" suchen, ohne auf eine Seite mit Hilfsangeboten zu gelangen. Der entsprechende Inhalt findet sich mit anderen Suchbegriffen trotzdem schnell. Das viel größere Problem ist der dahinterliegende Algorithmus, der den Nutzerinnen immer mehr vom selben Content ausspielt. Und natürlich das, was gezeigt wird: ein völlig verzerrtes Bild von vermeintlicher Perfektion und Schönheit.
Sabine Dohme will genau in diese Gruppen, Foren und Kanäle rein. Dohme ist pädagogische Fachkraft beim Versorgungszentrum ANAD, einer Anlaufstelle für Essstörungen in München. Seit neuestem ist sie neben der analogen Beratung als "digitale Streetworkerin" im Internet unterwegs – eine "völlig neue Form der Jugend- und der Jugendsozialarbeit", wie Dohme selbst im rbb-Interview sagt.
Die Idee: Streetworkerinnen und Streetworker sprechen im Netz gezielt junge Menschen an, die online einen problematischen Umgang mit ihrem Körperbild und Essverhalten zeigen – um zu sensibilisieren und zu informieren. Im nächsten Schritt sollen die Jugendlichen dann in die klassischen Beratungsangebote überstellt werden.
Warnzeichen für Essstörungen seien dabei vielschichtig, sagt Dohme. "Diäten sind für mich immer ein Signal. Ich werde aber auch hellhörig, wenn über exzessiven Sport gesprochen wird. Dann schaue ich genau hin, ob zum Beispiel Mädchen auch solche Bilder posten, was sehr oft vorkommt. Auch Männer posten Bilder mit der Frage: Ist mein Körper gut, bin ich zu dick oder zu dünn?"
Weder Sabine Dohme noch Carmen Schmidt von Dick und Dünn schätzen die sozialen Medien als per se schlecht ein. "Es kommt darauf an, dass ich mein Nutzungsverhalten lerne und auch hinterfrage, wenn ich mehrere Stunden am Tag mich in dieser Welt bewege", betont Carmen Schmidt. Mit betroffenen Jugendlichen spricht sie darüber, wem sie in den sozialen Medien folgen – und was das mit ihnen macht. Das könne dann auch bedeuten, dass man bestimmten Menschen nicht mehr folgt oder aus bestimmten Apps ganz aussteigt.
Auch Luise aus der Nähe von Frankfurt konnte sich in ihrer Therapie eine achtsamere Nutzung der sozialen Medien erarbeiten. Sie hat einen gesünderen Umgang mit Essen gelernt und mit ihrem Körper. "Ich habe gelernt mich abzugrenzen von Menschen, die einem nicht guttun. Sich abzugrenzen von kranken Verhaltensweisen. Und einfach auf sich selbst zu hören, das ist glaube ich ganz wichtig." Sie ist noch immer bei Instagram – aber wählt mittlerweile ganz genau aus, wem sie folgt.
Sendung: rbb24 Abendschau, 13.03.2024, 19:30 Uhr
Beitrag von Jonas Wintermantel, Helena Daehler
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