Interview | Romy Jaster über Streitkultur
Der Ton wird rauer, das Netz ist gefüllt mit Hasskommentaren. Auch das private Gespräch leidet, bei Familientreffen wie etwa an Ostern. Die Philosophin Romy Jaster sagt: Themen auszusparen ist ok, aber Strohmann-Argumente sollte man vermeiden.
Romy Jaster ist Philosophin an der Humboldt-Universität in Berlin und beschäftigt sich mit Desinformation und Streitkultur. Als Co-Gründerin des Forums für Streitkultur trainiert sie Menschen darin, konstruktiv zu streiten.
Kann das funktionieren, wenn sich in der Gesellschaft immer häufiger Fronten bilden und sich einige ganz aus dem Diskurs zurückziehen?
rbb24: Frau Jaster, was macht Ihnen mehr Sorgen, dass manche Menschen verstummen und sich nicht mehr einbringen oder die Art und Weise, wie Menschen miteinander diskutieren?
Romy Jaster: Ich glaube, dass beides zusammenhängt. Weil die Diskurskultur so konfrontativ und aggressiv ist, nehmen viele Leute nicht mehr daran teil. Auch dadurch sieht es so aus, als wenn bei allen wichtigen Themen die Gesellschaft in zwei Lager zerfällt. Das ist ja überhaupt nicht so, sondern es gibt eine kleine Gruppe, die eine Extremposition hat, und eine kleine Gruppe, die die andere Extremposition hat. Dazwischen ist eine ziemlich große Gruppe, die gar keine Position hat, sondern sich Fragen stellt oder eine moderate, differenzierte Position einnimmt. Gerade diese Position einzubringen, ist nicht unbedingt einfach, weil sie sich nicht in einem kurzen Social-Media-Post darlegen lässt.
Auf den Social-Media-Plattformen geht es vor allen Dingen um die Diskussion, selbstbestimmt zu leben und Meinungen zu vertreten – ob im privaten Bereich oder in politischen Diskursen. Woran liegt es, dass die Fronten so verhärtet sind?
Vieles hat sicherlich damit zu tun, dass der Diskurs sich diversifiziert hat und mehr Gruppen an diesen Diskursen teilnehmen. Das ist erstmal eine positive Entwicklung. Und bei aller Kritik haben die sozialen Medien einen gewissen demokratisierenden Effekt – vor allem für kleine Gruppen, die häufig marginalisiert sind. Also nehmen wir jetzt mal zum Beispiel Trans-Personen oder denken wir an den Arabischen Frühling und Menschen, die von ihrem Regime unterdrückt werden. Die können plötzlich den Diskurs maßgeblich prägen. Das ist erstmal gut. Aber das führt dann natürlich zu sehr viel Reibung. Plötzlich sind die, die gewohnt sind, dass sie eine weitgehend unhinterfragte Position haben, herausgefordert.
Und dann geht es ja auch wirklich häufig um was. Die Situation in Nahost beispielsweise, die tatsächlich schwer hinnehmbar ist. Da entsteht sehr viel Leid. Und was vielen Leuten schwer zu fallen scheint, ist, zu sagen: 'Ja, das ist schlimm. Und das ist auch schlimm', ohne sofort einen Standpunkt zu beziehen. Also auf der theoretischen Ebene auszuhalten, dass da zwei Dinge miteinander in Konflikt treten können oder die eine Gruppe Rechte hat und die andere Gruppe auch.
Warum ist es sinnvoll, sich mit Andersdenkenden in eine Diskussion zu begeben?
Da gibt es eine ganz interessante Passage bei John Stuart Mill, einem liberalen Philosophen. Er nennt drei Gründe. Erstens: man könnte falsch liegen. Menschen können sich irren. Und man selber kann sich natürlich auch irren.
Und zweitens, in der Auseinandersetzung mit gegenteiligen Positionen wirst du vielleicht feststellen, dass es Aspekte gibt an der Gegenposition, die bedenkenswert sind und man einfach noch nicht auf dem Schirm hatte. Und drittens, selbst wenn das nicht so ist, dann ist es immer noch wichtig, sich mit der Position des Gegenübers auseinanderzusetzen, weil es der einzige Weg ist, sicherzustellen, dass die eigenen Standpunkte nicht zu einem Dogma erstarren.
Damit meint Mill, dass uns die Fähigkeit verloren gehen könnte, gute Gründe anzuführen. Also warum ist denn die Demokratie schützenswert? Warum sollten denn Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer?
Wenn wir uns immer nur mit Gleichdenkenden umgeben, dann kommen wir nie in die Not, diese womöglich wichtigen und moralisch auf der richtigen Seite liegenden Standpunkte zu begründen.
Sie sind Co-Gründerin des Forums für Streitkultur und dort auch Argumentationstrainerin. Wie geht gutes Streiten?
Der allerkleinste Regelsatz ist aus unserer Sicht ein Dreisatz, wo man im ersten Schritt kurz wiederholt, wie man die andere Person verstanden hat, im zweiten Schritt sich überlegt, was man dem Standpunkt abgewinnen kann. Im dritten Schritt formuliert man dann seine Kritik.
Wenn man wiederholt, was man verstanden hat, vermeidet man sogenannte Strohmann-Argumente. Das sind Argumente, die sich gegen etwas richten, was die andere Person gar nicht wirklich gesagt hat. Also beispielsweise sagt jemand: 'Wir sollten mehr Geld für Rüstung ausgeben.' Und dann sagt jemand anderes: Wenn wir jetzt einen Großteil unseres Etats für Rüstung ausgeben, dann…'. Das hat die Person aber gar nicht gesagt, dass wir ein Großteil des Etats für Rüstung ausgeben sollen. Das passiert permanent so.
Damit stellt man sicher, dass man wirklich verstanden hat, was die andere Person gesagt hat. Man klärt damit, bis wohin sind wir denn einer Meinung? Und wo genau liegt eigentlich unser Dissens? Das ist wahnsinnig produktiv.
Viele gehen davon aus, dass am Ende einer Diskussion jemand recht hat oder es einen Konsens gibt.
Da kommen wir jetzt wirklich in philosophisch komplizierte Gefilde, weil wir uns über Wahrheit Gedanken machen müssen. Aber wenn man einen realistischen und robusten Wahrheitsbegriff hat, dann ist es so, dass eben nur einer recht haben kann.
Das lässt sich nicht so ohne weiteres auf jeden Konflikt übertragen, weil wir häufig über Dinge streiten, die mit unseren persönlichen Wertungen zu tun haben. Das sind normative Fragen. Wenn die eine Person findet, homosexuelle Paare sollten Kinder adoptieren können und die andere Person findet, das sollten Sie nicht, dann ist nicht klar, ob sich dieser Konflikt in einem Streitgespräch beilegen lässt. Da ist fraglich, ob das Ziel immer sein muss, dass am Ende das beide gleich sehen.
Nun spielt Desinformation immer häufiger eine Rolle im öffentlichen Diskurs. Wie erreiche ich, dass jemand seinen Standpunkt hinterfragt oder auch Schwächen offenbart?
Vor allem, indem ich das selber tue. Man kann entsprechende Fragen stellen, wie: 'Interessant, du bist dir da anscheinend ziemlich sicher. Was denkst du, ist das stärkste Argument der Gegenseite?' Oder man kann fragen: 'Wie sicher bist du dir auf einer Skala von eins bis zehn?' Dann sagen die wenigsten Leute zehn. Man kann fragen: 'Okay, warum nicht zehn?' So muss die Person ihren kleinen Zweifel, der da vielleicht irgendwo lauert, selbst thematisieren. Mit solchen Strategien kann man zum Beispiel ganz gut zu Perspektivwechseln einladen.
Blicken wir mal in unseren eigenen Mikrokosmos. Seit Corona gibt es Menschen, die fahren zu ihrer Familie und klammern ganz bewusst bestimmte Themen aus. Ist das die richtige Strategie?
Wenn einem in erster Linie wichtig ist, die persönliche Beziehung zu pflegen, dann ist es völlig legitim, bestimmte Themen auszusparen. Man konzentriert sich auf die Aspekte der Beziehung, die gut laufen. Wenn das nicht funktioniert, weil dieser moralische Vorwurf in der Luft liegt oder man wirklich am Verstand des Gegenübers zweifelt, dann wäre meine Strategie, diese Fragen auf die Agenda zu setzen. Ein Treffen vereinbaren, um diese Sache zu besprechen. Denn gerade, wenn es um Desinformation geht, wenn es um verschwörungstheoretisches Denken geht, dann klärt sich das nicht ohne weiteres. Zum Beispiel 'Schützen Masken vor Ansteckung?', 'Gibt es eine Verschwörung der Pharmalobby?'. In diesen vordergründigen Sachfragen wird man nicht weiterkommen, ohne die dahinterliegenden, wirklich schwierigen Fragen zu klären. Und das sind Fragen, die für uns alle gar nicht so leicht zu beantworten sind. Nämlich, warum vertraue ich eigentlich bestimmten Quellen? Und mit welcher Berechtigung vertraue ich diesen Quellen?
Frau Jaster, vielen Dank für das Gespräch.
Liane Gruß hat mit Romy Jaster für rbb24 Inforadio gesprochen, das ausführliche Hörfunk-Interview hören Sie oben im Beitrag als Audio.
Sendung: rbb24 Inforadio, 29.03.2024, 10:25 Uhr
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