Geld und Handy abgezogen
Geld, Smartphone, Kopfhörer: Im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg ziehen Jugendliche andere Jugendliche besonders häufig ab - zumindest wenn sie in Gruppen unterwegs sind. Das zeigen Daten der Berliner Polizei. Von Hasan Gökkaya und Efthymis Angeloudis
Ein U-Bahnhof im Berliner Norden an einem Wintertag: Tom* (Name von Redaktion geändert) steht an der Wand und acht Jugendliche, eigentlich Kinder, um ihn herum. Sie sind so alt wie er, vielleicht etwas älter, 12 bis 14 Jahre, haben ihn umzingelt und wollen sein Geld. "Das war am sehr frühen Abend", erinnert sich Luisa*, die Mutter des 12-Jährigen, im Gespräch mit rbb|24. Menschen liefen noch vom U-Bahnhof nach Hause oder zum Einkaufen.
Soll er noch schnell zur Imbissbude rennen oder doch einen Passanten um Hilfe bitten? Werden seine Peiniger dann von ihm ablassen? Tom wird schnell klar, dass er da nicht rauskommt, ohne sein Portemonnaie abzugeben. "Ich habe auch selbst nie gedacht, dass man sich hier irgendwie schützen muss", sagt Toms Mutter im Nachhinein.
Mit Blick auf die vergangenen drei Jahre zeichnet sich aber genau im nördlichen Teil der Stadt ein Trend ab: Speziell in Prenzlauer Berg aber auch im Ortsteil Pankow (beide gehören zum Bezirk Pankow) begehen Jugendgruppen häufiger Straftaten wie Raub und Bedrohung, die sich gegen andere Jugendliche richten. Das geht aus einer Statistik der Polizei Berlin hervor, die rbb|24 vorliegt.
So wurden 2021 insgesamt 349 Fälle von Raub und Bedrohung mit Geschädigten im Kindes- und Jugendalter mit dem Fallmerkmal "Jugendgruppengewalt" erfasst. Hierbei handelt es sich also um Straftaten, die von mindestens zwei Personen begangen wurden und die zum Zeitpunkt der Tat mindestens acht und höchstens 20 Jahre alt waren. Erfasst werden in dieser Statistik nur dann auch Einzelpersonen, wenn sie eine Gruppe als "Machtinstrument" einsetzten.
Unter genau diesen Merkmalen wurden 2021 die mit Abstand meisten Fälle in Prenzlauer Berg erfasst: nämlich 47. Auf Platz zwei liegen Hellersdorf (24) und Mitte (20) - Ortsteile mit weniger als zehn Fällen tauchen in der Statistik nicht auf; so sind zum Beispiel Wedding und Neukölln gar nicht dabei.
Auch Luisa merkt den Anstieg der Fälle. "Die Polizei war nach dem Vorfall an der Schule von Tom, um vor diesen Banden zu warnen", erzählt sie. Als in seiner Klasse gefragt wurde, wer schon einmal in dieser Art angesprochen oder abgezogen wurde, hätten sich wohl einige Arme gehoben.
Im Jahr 2022 erhöhte sich die Zahl der verzeichneten Fälle im Vergleich zum Vorjahr auf 557 - das ist eine Zunahme um fast 60 Prozent. Die drittmeisten Fälle von Raub und Bedrohung, begangen von Jugendgruppen gegen anderen Jugendliche, passierten im Ortsteil Spandau. In Pankow wurden mit 35 die zweithäufigsten Fälle gezählt - in Prenzlauer Berg mit 65 die meisten. Die enorme Zunahme dürfte auf die pandemiebedingten Einschränkungen zurückzuführen sein. Denn im Jahr 2023 stiegen die Zahlen mit 591 Fällen zwar erneut, dann aber weniger stark, nämlich um 6,1 Prozent.
So wurde insgesamt aber auch im Jahr 2023 der Ortsteil Prenzlauer Berg zum häufigsten Tatort, wenn es um Jugendgruppengewalt ging. Die Polizei erfasste dort 84 Fälle - in den Ortsteilen Pankow und Neu-Hohenschönhausen jeweils 25 Fälle sowie jeweils 20 Fälle in Mitte und Marzahn. Zum Vergleich: In Friedrichshain wurden 16 und in Kreuzberg 13 Fälle gezählt.
Die Zahlen beziehen sich ausschließlich auf Raub und Bedrohung - also etwa das "Abziehen" eines Handys oder anderer Geräte, nicht hingegen ein Faustschlag ins Gesicht, da so eine Tat eine Körperverletzung darstellt.
Ein anderer Überfall trifft den damals 16-jährigen Finn (Name geändert) aus Prenzlauer Berg. Er und sein Kumpel feiern gerade im Volkspark Friedrichshain, als zwei Personen auf sie zukommen, um sie in einen dunklen Bereich des Parks zu locken. Dort werden sie schließlich geschlagen, erzählt er. "In einem längeren Prozess wurden wir dann auch ausgeraubt. Und ja, wir mussten uns tatsächlich auch ausziehen."
Die Täter zwangen ihn und seinen Freund, ihre Kleidung ins Gebüsch zu werfen. "Mit dem sporadischen Anteil an Klamotten, die wir wiederfinden konnten, sind wir dann nach Hause gelaufen", sagt er im Gespräch mit rbb 88,8. Auch seine Mutter erinnert sich an den Abend: "Mir ging es ziemlich schlecht, die Whatsapp, die ich ihm an sein Telefon geschickt hatte, ging nicht durch. Später nahm ich dann mein Kind mit seinem blutenden Freund in Empfang", sagt sie.
Tatsächlich können die beiden Täter gefasst werden. Es kommt heraus: Der 16-jährige Angreifer und die 21-jährige Angreiferin waren bereits polizeilich bekannt.
Dem 12-jährigen Tom wurde von der Polizei Material vorgelegt. Nach seiner Beschreibung der Täter kam heraus, dass auch diese Kinder und Jugendlichen bekannt sind. Und dass sie eben größtenteils unter 14 Jahre alt sind; nach dem Gesetz sind sie somit nicht strafmündig. Die Polizei hätte Gespräche mit den Eltern angekündigt, sagt Luisa. Viel mehr könne man da nicht machen. "Ein Gespräch mit den Eltern führt aber nicht gerade zu großer Hoffnung unsererseits, dass das irgendwas ändert."
"Am meisten wünsche ich mir, dass man da wirklich mehr machen kann und dass es wirklich Konsequenzen hat auch in den jungen Jahren, weil ich es erschreckend finde, wie jung die Täter sind und wenn das folgenlos bleibt", sagt sie weiter.
Warum es in Prenzlauer Berg zu den meisten Fällen von Raub und Bedrohung kommt, konnte die Polizei auf Nachfrage von rbb|24 nicht umfassend beantworten. "Es ist festzustellen, dass der Ortsteil Prenzlauer Berg aufgrund seiner städtebaulichen Struktur mit unzähligen Lokalitäten, attraktiven Parkanlagen (Mauerpark) und weiteren Kulturstätten einen Anziehungspunkt für Jugendliche und Heranwachsende darstellt", heißt es. Dies gelte sowohl für Anwohnende aus Berlin und dem Berliner Umland, als auch für Touristinnen und Touristen. "Zudem enthält der Bevölkerungsdurchschnitt im Ortsteil Prenzlauer Berg einen deutlich höheren Anteil an Jugendlichen und Heranwachsenden."
Tatsächlich zeigt ein Blick auf die Zahlen vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, dass der Bezirk Pankow mit 52.000 (Stichtag 31.12.2023) die meisten Einwohner im Alter von acht bis 21 Jahren beherbergt; im Ortsteil Prenzlauer Berg sind es demnach rund 19.000. Zum Vergleich: In den Ortsteilen Mitte sind 10.300 Personen im Alter von acht bis 21 Jahren wohnhaft, in Charlottenburg rund 12.000, in Neukölln 17.700, in Kreuzberg 17.400, in Hellersdorf 13.000.
Falls diese Zahlen überraschen: Aufgefallen sind sie dem zuständigen Bezirksamt Pankow bisher auch nicht wirklich. Besondere Feststellungen diesbezüglich gebe es nicht, hieß es auf Nachfrage von rbb|24.
Überraschend fand den Vorfall auch Toms Mutter: "Ich habe zum ersten Mal gedacht, dass ich mich hier nicht wohl fühle." Für Tom selbst hat sich seit dem Vorfall einiges verändert. "Seitdem schaut er sich um und ist auf der Hut, was ich natürlich auch sehr bedauerlich finde, dass er so durch die Welt geht", sagt Luisa. "Wenn er allein unterwegs ist, hat er ein Pfefferspray dabei." Dazu mache er viel Sport und versuche sich körperlich zu wappnen. "Wobei, bei der Unverhältnismäßigkeit der Anzahl kann man auch mit mehr Kraft nicht viel mehr erreichen."
Der Polizei Berlin zufolge wurde bei den 349 Gesamtfällen im Jahr 2021 in 223 Fällen mindestens eine tatverdächtige Person ermittelt. Bei den 557 Gesamtfällen im Jahr 2022 wurde in 376 Fällen mindestens eine tatverdächtige Person ermittelt. Und bei den 591 Gesamtfällen im Jahr 2023 waren es 352 Personen. "Hierbei ist zu beachten, dass in einem Fall auch mehrere tatverdächtige Personen erfasst sein können. Die Zahl gibt keine Auskunft über die Anzahl der ermittelten tatverdächtigen Personen", erläutert die Polizei dazu.
Eine Auskunft darüber, wo die tatverdächtige Personen wohnhaft sind, sei in dem automatisierten Verfahren für die Statistik nicht auswertbar. Im Fall von Tom spielt jedoch dieser Aspekt zumindest für ihn persönlich eine Rolle: Die minderjährigen Täter, so habe es die Polizei der Familie des Opfers gesagt, sollen aus dem Wedding kommen.
Nachtrag, 28.03.2024, 18:00 Uhr: Mittlerweile hat die Berliner Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen vier Verdächtige im Zusammenhang mit dem Überfall auf Tom eingestellt. Das geht aus einem Schreiben an seine Mutter Luisa vor, das dem rbb vorliegt. Begründung: Die vier Verdächtigen seien zum Tatzeitpunkt noch nicht 14 Jahre alt gewesen, also strafunmündig im Sinne des Strafgesetzbuchs.
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Sendung: rbb24 Abendschau, 28.03.2024, 19:30 Uhr
Beitrag von Hasan Gökkaya und Efthymis Angeloudis
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