Cyberstalking einer Teenagerin
Als Teenagerin wird Clarissa von einem Stalker verfolgt. Er hinterlässt obszöne Nachrichten und scheint ihren Standort zu kennen. Sie ist so verunsichert, dass sie sich nicht zur Polizei traut. Fälle wie diese häufen sich - und sie hinterlassen Spuren. Von Linh Tran
Es begann mit etwas Alltäglichem. Etwas, das viele als banal empfinden würden. Clarissa* wird einem Whatsapp-Gruppenchat hinzugefügt. Verschiedene Handynummern versammeln sich dort. Eine davon abzuspeichern, ist leicht. Ein Typ aus dem Chat schreibt die damals 15-Jährige an. Sie schreiben ein paar Mal und merken, dass sie etwas gemeinsam haben: Ihr Interesse am Musikmachen. Clarissa will offen sein und trifft sich mit dem Mann. Damals weiß sie noch nicht, dass der Kontakt zu ihm ihr Leben nachhaltig verändern wird.
Obwohl der angeblich 20-Jährige weiß, dass sie einen festen Freund hat, versucht er während des Treffens mehrmals ihr körperlich näher zu kommen. Als Clarissa einem Kussversuch zum Abschied ausweicht, fühlt er sich gekränkt. Danach fängt der Albtraum an.
"Er hatte dann Kontakt zu mir gesucht, indem er mich angerufen hatte, mir E-Mails schrieb", erinnert sich die heute 20-Jährige. Sie bekommt Briefe und Geschenke wie CDs, auf denen er selbst musiziert. Anfangs sind es vor allem Liebesbekundungen. Er äußert auch Unverständnis darüber, dass sie keinen weiteren Kontakt zu ihm haben will. Clarissa versucht, den Kontakt zu unterbinden und ignoriert den Mann. Bald aber ändert sich die Grundstimmung: "Ein Jahr später kam er wieder auf mich zu. In einer E-Mail ist er völlig ausgerastet und meinte: 'Ich werde mich umbringen, wenn du mir nichts zurückschreibst'."
In der Zwischenzeit findet Clarissa heraus, dass der Mann sicher fünf Jahre älter ist, als er vorgegeben hatte. Sie blockiert ihn auf allen möglichen Kanälen und leitet seine E-Mails in den Spam Ordner. Doch er findet immer wieder Möglichkeiten, ihr zu schreiben. Wie viele andere Teenager nutzt Clarissa Tellonym, um die Messages und Timelines verschiedener Apps übersichtlich zu organisieren. Instagram, Whatsapp, Snapchat - Tellonym kann alles auf einen Blick anzeigen.
Die App erlaubt aber auch, dass Nachrichten anonym geschickt werden. Wer etwas sendet, bleibt den Empfängern dann verborgen. Irgendwann erreichen Clarissa anonyme Drohungen und Beleidigungen. Das Mädchen wird als "Maneaterin" bezeichnet, als männerverschlingende Verführerin also, und als "Schlampe". Clarissa ist sofort klar, von wem das kommt.
Ihr Stalker nutzt auch andere Telefonnummern, um ihr zu schreiben, ruft sie vom Münztelefon aus an, schickt ihr Briefe und Postkarten. Wie er an ihre Adresse gekommen ist, kann sie sich nicht genau erklären.
Als der Mann nachts vor ihrem Haus aufkreuzt, kommt in ihr Angst auf. Denn gleichzeitig erhält sie eine Mail von ihm. "Darin stand etwas in der Art wie: 'Ich stehe gerade vor deiner Haustür und ich weiß, wo du schläfst und wo dein Zimmer ist'." Sie erinnert sich noch heute, dass er etwas schreibt wie: "Ich stelle mir gerade vor, wie friedlich du schläfst und oh Gott, ich vermisse dich so sehr." Sie habe am ganzen Körper Gänsehaut gehabt. "Mir war so übel und ich hatte so ein ekliges Gefühl, zu wissen, dass er da stand und mir zugeguckt hat beim Schlafen."
Nach diesem Fall lässt die Angst das Mädchen nicht mehr los. Clarissa kann nicht schlafen, abends traut sie sich nicht mehr aus dem Haus. "Ich hatte Angst, dass er irgendwo rausspringt aus dem Busch und er in der Nähe rumlungert." Das Gefühl, womöglich rund um die Uhr beobachtet zu werden, habe sie sehr belastet.
Jahrelang hört der Stalker nicht auf, den Kontakt zu Clarissa zu suchen. Immer wieder erfindet er Geschichten über sie. Aus den wenigen Informationen, die er über sie hat, spinnt er sich Dinge zusammen. Ihr damaliger Partner unterstützt sie zwar, wo er kann. Er ist von dem Stalker aber auch verunsichert und die Beziehung leidet darunter. Clarissas Eltern versuchen auf verschiedene Weise, den Mann zu kontaktieren. Sie schreiben seinen Arbeitgeber an und sogar seine Mutter. Nichts davon unterbindet das Stalking voll und ganz.
Clarissas Geschichte ist eine von vielen. 2023 wurden deutschlandweit mehr als 23.000 Fälle von Stalking erfasst. Tendenz steigend. Das geht aus aktuellen Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik [bmi.bund.de] hervor. Auch in Berlin und Brandenburg ist ein Anstieg der Stalking-Fälle registriert worden.
Im Jahr 2023 wurden in Berlin 2.087 Fälle von Stalking erfasst, das sind 190 mehr als im Jahr davor. In Brandenburg waren es im vergangen Jahr 806 Fälle. Das sind 91 Fälle mehr als im Vorjahr. Cyberstalking, also Stalking über digitale Wege, wird in der Statistik nicht separat aufgeführt. Expert:innen gehen jedoch davon aus, dass mit dem Anstieg an Stalkingfällen auch das Cyberstalking zunimmt. Zudem wird damit gerechnet, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegt. Nicht alle Opfer bringen ihre Stalker zur Anzeige.
Auch Clarissa traut sich bis heute nicht, den Mann anzuzeigen – auch weil sie Angst davor hat, dass eine Anzeige das Stalking wieder intensivieren würde. Ein anderes Mädchen, das von dem gleichen Mann belästigt wird, stellt hingegen Anzeige. Bis ein Gerichtstermin zustande kommt, dauert es allerdings lange, erzählt Clarissa. Und am Ende sei ein Urteil gegen den Mann ausgeblieben.
Claudia Otte von der gemeinnützigen Menschenrechtsorganisation Hate Aid [hateaid.org] erlebt häufig, dass sich Betroffene nicht trauen ihre Stalker anzuzeigen. Otte berät und unterstützt Menschen, die von digitaler Gewalt wie Cyberstalking betroffen sind. Oft hätten Betroffene Angst vor der Reaktion des Täters, sagt sie. Viele befürchteten, dass die Polizei sie nicht ernst nehmen könnte. Andere machten sich selbst Vorwürfe, "weil sie vorher zu viel über sich preisgegeben haben", sagt Otte. "Oder sie schämen sich vielleicht. Weil sie mit der Person, die zum Stalker geworden ist, mal in einer Beziehung waren."
Clarissa hatte vor allem Angst davor, von anderen verurteilt zu werden. "Ich hatte in dem Moment das Gefühl, dass ich Schuld daran sei gestalkt zu werden. Weil ich mich darauf eingelassen hatte", sagt sie. Bis heute spricht sie deshalb nur selten darüber. Wenn sie davon spricht, was ihr widerfahren ist, bezeichnet sie ihr damalliges Verhalten mehrfach als naiv.
Otte ist wichtig, den Betroffenen klar zu machen, "dass sie zu keinem Zeitpunkt dieser Beziehung Schuld haben, dass die Person, die sie jetzt stalkt, zum Täter geworden ist". Die Verantwortung läge ganz klar bei der stalkenden Person. So sieht das auch der Gesetzgeber.
Aufgrund der Zunahme von Stalking-Fällen im digitalen Raum, wurde der Paragraph zur sogenannten "Nachstellung" 2021 reformiert [gesetze-im-internet.de]. Seitdem ist Cyberstalking strafbar. Allerdings ist Nachstellung in der Praxis relativ schwer nachweisbar. Betroffenen wird häufig geraten, alle Kontaktversuche des Täters mit Datum und Uhrzeit zu notieren, Screenshots oder Fotos zu machen. Die Opfervereinigung Weißer Ring hat dafür eine "No Stalk"-App entwickelt [weisser-ring-stiftung.de], mit der Beweise leicht festgehalten und an einem separaten Speicherort abgelegt werden. Selbst wenn das Handy gestohlen werden sollte, hätten Dritte keinen Zugriff auf die Daten.
Clarissas Stalker führt nach wie vor ein ungestörtes Leben. Er tritt bei Musikveranstaltungen auf und lädt Aufzeichnungen seiner Auftritte sogar auf Youtube hoch. Clarissa hat mittlerweile den Wohnort gewechselt, ist vom Speckgürtel ins Berliner Stadtzentrum gezogen. Trotzdem versucht der Stalker ab und zu, Clarissa zu kontaktieren. Im vergangenen Jahr hat der Mann sogar eine Veranstaltung besucht, bei der Clarissa auftrat. Danach erhielt sie eine Mail von ihm, in der er sie als "Heuchlerin" bezeichnete.
Wie der Stalker auf Clarissas Konzert aufmerksam wurde, weiß sie nicht genau. Sie geht davon aus, dass er ihr mit einem Fake-Account auf Instagram gefolgt ist und so davon erfuhr. Manche Stalker nutzen tatsächlich auch sogenannte "Stalkerware", um ihre Opfer zu überwachen. Spionage-Apps zum Beispiel, die unwissentlich auf dem Handy des Opfers installiert werden, oder Bluetooth-Tracker, die am Auto befestigt oder in der Jacke versteckt werden können. Solche Anwendungen sind an sich nicht unbedingt illegal. Sie auf den Geräten anderer Menschen zu installieren, hingegen schon.
Womöglich werden in keinem anderen europäischen Land ähnlich viele Menschen über fragwürdige Apps auf ihren mobilen Geräten ausspioniert wie in Deutschland. Darauf deutet eine Studie zu Stalkerware hin, die das Cyber-Sicherheitsunternehmen Kapersky veröffentlicht hat [Kapersky.de].
Jede dritte befragte Person aus Deutschland gab dabei an, bereits gestalkt worden zu sein oder das zu vermuten. Jede:r Zehnte gab allerdings an, das Smartphone des Partners oder der Partnerin manipuliert zu haben. Weitere neun Prozent drängten ihr Gegenüber dazu, eine Überwachungsapp zu installieren. Gleichzeitig lehnen mehr als die Hälfte (62 Prozent) die Überwachung des Partners ohne dessen Wissen grundsätzlich ab.
Viele Betroffene können solche negativen Erfahrungen nicht abschütteln, sagt Claudia Otte. "Sie wurden über einen längeren Zeitraum vielleicht belästigt, verfolgt, ihnen wurde irgendwie nachgestellt, sie wurden beleidigt oder sogar überwacht und das hinterlässt natürlich Spuren." Vielen falle es anschließend schwer, zu anderen Personen Vertrauen aufzubauen. Es sei nicht selten, dass Betroffene mit enormer Vorsicht von ihren Erlebnissen in der Beratung erzählen, sagt Otte.
Auch Clarissa ist nach der Erfahrung mit dem Stalker vorsichtig, wenn sie neue Menschen kennenlernt, im Umgang mit anderen Menschen, gibt nicht viel von sich Preis. "Ich habe eine gewisse Distanz zu Leuten aufgebaut oder eher gesagt, mehr Angst gegenüber Fremden aufgebaut. Weil ich Angst habe, dass sie mir was antun könnten. Egal wer es ist." Vor allem das Gefühl, beobachtet zu werden, habe sie bis heute. Selbst wenn sie kocht oder sich die Zähne putzt, ziehe sie die Gardinen zu. "Sowas kann man leider nicht zurücklassen. Das ist etwas, was einen ein Leben lang verfolgen wird."
Einen Social-Media-Account hat sie trotzdem weiterhin. Clarissa macht Fotografieren Spaß. Aber sie achtet darauf, wer ihr folgen darf, und gibt nicht mehr preis, wo sie sich aktuell befindet: "Ich lade gerne Bilder ein halbes Jahr später oder eine Woche, zwei Wochen später hoch. Damit man nicht weiß, wo ich war und damit man mich quasi nicht nachverfolgen kann."
*Zum Schutz der Betroffenen wurde ihr Name für diesen Text geändert.
Sendung: rbb24 Inforadio 23.04.2024, 6:30 Uhr
Beitrag von Linh Tran
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