rbb24
  1. rbb|24
  2. Panorama
Video: rbb 88.8 | 02.04.2024 | Raphael Knop | Quelle: Imago Images/Lars Heidrich

Häftlinge über 60 in Berlin

Senioren hinter Gittern: Alt werden im Knast

Über 60-Jährige bilden eine kleine, aber stark wachsende Gruppe im Gefängnis. Wegen ihres Alters haben sie besondere Bedürfnisse. In Baden-Württemberg gibt es deshalb sogar ein eigenes Seniorengefängnis. Die Hauptstadt hat keins. Von Sabine Priess

Seit vielen Jahren steigt* die Lebenserwartung in Deutschland – und das gilt auch für Häftlinge. So gibt es folgerichtig immer mehr ältere Gefangene in den Justizvollzugsanstalten (JVA). Die Ende Februar in Berlin-Kreuzberg festgenommene 65-jährige RAF-Terroristin Daniela Klette könnte auch bald dazugehören. Ihre Untersuchungshaft verbringt sie derzeit in Niedersachsen – wo sie bei einer Verurteilung untergebracht würde, ist noch offen. Eine Option wäre Berlin.

In Berlin befinden sich mit der Justizvollzugsanstalt Tegel und der in Moabit gleich zwei der größten deutschen Gefängnisse. In beiden ist Platz für mehr als 800 Häftlinge. In den insgesamt sieben Berliner Justizvollzugsanstalten saßen zuletzt (Stand 31. März 2023) laut Statistischem Bundesamt 2.386 Menschen eine Freiheitsstrafe ab.

145 Berliner Gefängnisinsassen – das sind etwa vier Prozent - sind nach Angaben der Senatsverwaltung für Justiz zum jetzigen Zeitpunkt älter als 60 Jahre (darunter auch 22 Männer in Sicherungsverwahrung). Sie gelten damit als ältere Insassen. Und bei einer Tagung zum Thema "Altern und Sterben im Strafvollzug" der Universität Bielefeld [uni-bielefeld.de] im Sommer 2023 hieß es, sie gehörten damit zu der "national und international am schnellsten wachsenden Gruppe von Strafgefangenen".

In der Teilanstalt V der Justizvollzugsanstalt Tegel macht man es nicht am Alter selbst fest, ab wann ein Gefangener als betagt gilt. "Wir haben Angebote, die '50 Plus' heißen, sagt die Leiterin der Teilanstalt, Pia Andree. "Denn es gibt hier Männer mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen, die ich mit 51 Jahren schon als betagt bezeichnen würde."

"Es gibt aber auch über 70-jährige Gefangene, die sehr fit und aktiv sind", sagt Andree weiter. "Sie nehmen auch als Rentner, wenn sie wollen, noch am Arbeitsprozess teil, nehmen Sportangebote wahr und ich würde sie dann nicht als betagt bezeichnen. Andere sind mit 60 Jahren schon in ihrem Haftraum in Rente. Wir gehen also eher nach dem Grad der Einschränkung."

Staatsanwaltschaft Berlin

Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck muss Haftstrafe antreten

Herz-Kreislauf-Beschwerden, Diabetes und Demenz

Käme Klette in ein Berliner Gefängnis, wäre sie dort allerdings eine der sehr wenigen Frauen über 60 Jahre. Zum letzten Stichtag saßen, so das Statistische Bundesamt, in der Hauptstadt neun Frauen in diesem Alter ein. Älter als 70 waren nur zwei.

Herz-Kreislauf-Beschwerden, Diabetes, Prostataleiden und Demenz: Ältere Menschen haben, je nach Alter und individuellem Gesundheitszustand, andere Bedürfnisse als jüngere – das gilt selbstverständlich auch für Gefängnisinsassen. Seit 1970 schon gibt es deshalb in Baden-Württemberg in der Justizvollzugsanstalt Singen ein eigenes Seniorengefängnis.

Dorthin kommen nur Männer, die beim Antritt ihrer Strafe älter als 62 Jahre sind und eine Haftstrafe von mehr als 15 Monaten erhalten haben. Die Haftbedingungen sind dem fortgeschrittenen Alter der Insassen angepasst. Dort können sie sich tagsüber frei auf dem Gelände bewegen, dürfen mehr Besuch empfangen und können an vielen altersgerechten Angeboten wie Gedächtnistraining, Bastel-, Gymnastik oder Gesangskursen, teilnehmen.

Auch eine gut ausgestattete Krankenstation gibt es. Wird einer der Insassen stark pflegebedürftig und kann nicht mehr in Singen betreut werden, kommt er in ein Justizvollzugskrankenhaus. Wer entlassen wird und keine Familie mehr hat, kommt in eine betreute Wohneinrichtung oder das Altersheim.

Kein Seniorengefängnis für die Hauptstadt

Eine solche Seniorenanstalt gibt es nicht in Berlin - und das sei auch nicht geplant, sagt ein Sprecher der Senatsverwaltung für Justiz auf Nachfrage. Berliner Häftlinge, die "einen erhöhten pflegerischen Unterstützungsbedarf aufweisen, der durch den medizinischen Pflegedienst und den allgemeinen Vollzugsdienst in den Unterbringungsbereichen nicht mehr abgedeckt werden kann", müssten gegebenenfalls in das Justizvollzugskrankenhaus der JVA Plötzensee verlegt werden.

Der Sprecher verweist darauf, dass sämtliche der Berliner Justizvollzugsanstalten über Bereiche verfügten, in denen Inhaftierte in einem Alter von mehr als 60 Jahren gut untergebracht werden könnten. Für körperlich eingeschränkte Insassen ständen – bei entsprechender medizinischer Indikation - barrierefreie Räume zur Verfügung.

Im offenen Vollzug gebe es jedoch in zwei Teilanstalten "eigene Stationen für ältere Inhaftierte", sagt der Sprecher weiter. Besonders geschulte Inhaftierte unterstützten die Inhaftierten dort bei der Ausführung von alltäglichen Abläufen. Zudem könnten sich sämtliche Berliner Inhaftierte über 50 Jahre im Rahmen des Projektes "Drehscheibe Alter" von Mitarbeitern des Humanistischen Verband Deutschlands Berlin-Brandenburg beraten lassen.

Auch Pia Andree von der JVA Tegel sagt, man habe sich bewusst gegen eine Alterswohngruppe entschieden in ihrer Anstalt. "Denn wir erleben im Alltag, dass die jungen von den älteren und die älteren von den jungen Gefangenen profitieren. Ältere Gefangene bringen Ruhe mit auf die Stationen und sind oftmals Respektpersonen. Sie wiederum werden von den Jüngeren aktiviert."

Gerontologin mahnt mangelnde Vorbereitung an

Der Sprecher der Justizverwaltung verweist zudem auf die "Vielzahl von Freizeitaktivitäten (Schachgruppen, Literatur-Gruppen, Kunst-Gruppen, PC-Kurse, Yoga, Fitness, Laufen, etc.)", die in den Haftanstalten angeboten würden. Viele davon richteten ihren Fokus auf präventive und mobilisierende Maßnahmen.

Die Gerontologin Liane Meyer von der Universität Bielefeld attestiert vielen Gefängnissen in Deutschland, bislang nicht wirklich gut auf den demographischen Wandel und damit viele ältere Inhaftierte eingestellt zu sein – weder auf weder auf deren medizinische Versorgung noch auf die Ausstattung mit eigens zugeschnittenen Freizeitangeboten. Das sei ein zunehmendes Problem, sagte die Gerontologin, die ihre Doktorarbeit über "Alte Inhaftierte in Justizvollzugsanstalten" geschrieben hat, 2019 der "Frankfurter Rundschau".

Versuchter Mord und Sprengstoffexplosionen

Bundesanwaltschaft eröffnet Haftbefehl gegen Klette wegen RAF-Taten

Daniela Klette war zunächst vom Niedersächsischen LKA wegen mehrere Raub-Delikte gesucht und verhaftet worden. Nun hat die Bundesanwaltschaft auch einen Haftbefehl wegen terroristischer Taten der RAF gegen sie eröffnet.

Alter schützt vor Gefängnisstrafe nicht

In der Teilanstalt V der JVA Tegel gibt es einen 89-jährigen Gefangenen. "Er hat inzwischen einen Rollator, bewegt sich aber auch viel ohne diesen und lebt in einem normalen Haftraum. Diesen will er auch nicht wechseln", sagt Teilanstalt-Leiterin Andree. "Er will auch nicht entlassen werden. Der Mann, ein sehr angenehmer älterer Herr, ist seit Ende der 1960er Jahre schon inhaftiert. Körperlich ist er – obwohl er Kettenraucher ist – fitter als so mancher Gefangene hier bei uns, der erst die 50 überschritten hat."

Auch eine Altersgrenze, ab wann man in Deutschland erst garr nicht mehr ins Gefängnis muss, gibt es nicht. Doch auch wenn es immer wieder geschieht: Sterben sollen Strafgegangene eigentlich nicht im Gefängnis. Denn das Leben im Gefängnis zu beenden, passe nicht zu dem Ziel des Strafvollzugs, Strafgefangene zu resozialisieren, um sie wieder in die Freiheit entlassen zu können, so Torsten Verrel, Kriminologe der Universität Bonn auf der Tagung "Altern und Sterben im Strafvollzug" in Bielefeldt. Ist ein Häftling schwer krank, kann er eine "Haftunterbrechung" beantragen oder ein Gnadengesuch nach der Gnadenordnung Berlin [berlin.de] stellen.

In anderen Ländern, Italien zum Beispiel, macht man es anders. Dort werden Haftstrafen für über 70-Jährige nur in Ausnahmefällen ausgesprochen. Im Normalfall erhalten sie Hausarrest oder Sozialstunden. Den ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi bewahrte das 2014 vor dem Gefängnis: Der damals 77-Jährige durfte seine Strafe wegen Steuerbetrugs als Sozialdienst in einem Seniorenheim absolvieren.

* Durch die Corona-Pandemie ist die Lebenserwartung für Menschen in Deutschland um rund ein halbes Jahr gesunken. Das geht aus Berechnungen des Statistischen Bundesamtes hervor. Eine Studie des Schweizer Rückversicherers Swiss Re [swissre.com / Englisch] geht jedoch davon aus, dass die Lebenserwartung künftig wieder ansteigen wird.

Sendung: rbb 88.8, 02.04.2024, 08:30 Uhr

Beitrag von Sabine Priess

Artikel im mobilen Angebot lesen