Deutlicher Anstieg
Unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche warten oft monatelang auf ihre Registrierung. Eine lange Zeit ohne Perspektive. Einige verschwinden in dieser Zeit vom Radar der Behörden. Von Jan Wiese und Tina Friedrich
Europaweit werden derzeit 51.433 unbegleitete Kinder und Jugendliche vermisst, nachdem sie sich in staatlicher Obhut befanden. Das ergibt eine exklusive Datenrecherche des internationalen Journalistennetzwerks Lost in Europe, zu dem auch rbb24 Recherche gehört. Bis heute haben die Behörden keine Kenntnisse über ihren Verbleib. Die Anzahl vermisster Kinder und Jugendlicher hat sich seit der letzten Datenrecherche im Jahr 2021 mehr als verdoppelt: damals wurden europaweit 19.292 Geflüchtete vermisst, in Deutschland waren es 792.
In Berlin sind in den vergangenen drei Jahren 286 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Obhut der Behörden verschwunden. Nach Angaben des BKA wird nach 62 immer noch gesucht. Brandenburg sucht noch 71 von 132 Vermissten.
Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, die für die Erstversorgung und -betreuung der jungen unbegleiteten Geflüchteten zuständig ist, gibt auf Nachfrage von rbb24 Recherche an, nicht zu wissen, wie viele Jugendliche in Berlin verschwunden sind. Die Träger der Versorgungseinrichtungen seien verpflichtet, jeden Verschwundenen vermisst zu melden.
In Berlin war die Wartezeit auf das Erstgespräch, in dem die jugendlichen Geflüchteten erzählen sollen, wie alt sie sind, wo sie herkommen und vor allem, wo sie hinwollen, im vergangenen Sommer besonders lang. Bis zu neun Monate konnte es damals dauern, bis ein neues Zuhause gefunden war. Inzwischen hat die Senatsverwaltung weiteres Personal eingestellt, und die Wartezeit auf etwa vier Monate verkürzt. Allerdings kommen im Sommer erfahrungsgemäß mehr Geflüchtete in Berlin an als im Winter.
In der Wartezeit wohnen die Teenager in großen Unterkünften, oft zu zweit in einem Zimmer, ohne viel Privatsphäre, oft ohne vertraute Ansprechpersonen. Wartend darauf, dass sie eine Perspektive erfahren, wo sie ihr neues Leben beginnen sollen. Das sei sehr frustrierend, sagt Theresa Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk: "Das aktuelle Hilfesystem ist sehr angespannt. Die Kinder, die in Deutschland ankommen, müssen teilweise sehr lange darauf warten, bis sie ihr Erstgespräch haben, bis sie in die Kommunen verteilt werden und auch Zugang zu Bildung bekommen."
Für viele sei das der Moment, in dem sie den Entschluss fassen, lieber auf eigene Faust loszuziehen, fasst Helen Sundermeyer vom Bundesverband für unbegleitete minderjährige Geflüchtete (BumF) die Erfahrungen vieler Fachkräfte zusammen: "[Die Jugendlichen] wissen nicht so richtig, was passiert. Sie wissen nicht: werden sie noch verteilt, werden sie noch älter geschätzt? Und das produziert natürlich eine Perspektivlosigkeit bei den jungen Menschen, die vielleicht auch dazu führt, dass einige denken, irgendwo anders könnte es besser sein und dass sie dann weiterziehen, ohne dass irgendjemand weiß, wohin."
Im Schengenraum, wo im Prinzip keine Grenzkontrollen stattfinden, zeigt sich die europäische Dimension des Problems. "Wir haben ein kaputtes Migrationssystem", sagt auch die zuständige EU-Kommissarin für Inneres und Migration, die Schwedin Ylva Johansson, im Exklusiv-Interview mit rbb24 Recherche. Sie fügt allerdings sofort hinzu: "Mit dem neuen Migrationspakt reparieren wir das."
Bis heute gibt es keine einheitlichen Vorgaben, nach denen Informationen über aufgenommene oder verschwundene Minderjährige gespeichert und ausgetauscht werden müssen. Wenn die Zielländer dann bei einem Behördenkontakt der Jugendlichen deren Daten nicht (oder nicht korrekt geschrieben) über das zentrale Vermisstenregister im Schengenraum abgleichen, bleiben sie offiziell vermisst, auch wenn die Kinder vielleicht in sicheren Verhältnissen leben. Dennoch sagt Johansson: "Das Schengen-Informationssystem funktioniert. Auf diesem Weg werden sehr viele Kinder wiedergefunden."
Doch die mehr als 51.000 verschwundenen Kinder und Jugendlichen sind durch ebendieses System gefallen. Für diese Vermissten sehen Fachleute wie Theresa Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk große Gefahren: "Wenn Kinder als vermisst gelten, müssen wir davon ausgehen, dass sie besonderen Risiken ausgesetzt sind. Es kann sein, dass sie auch zum Beispiel kriminellen Organisationen in die Hände fallen, dass sie ausgebeutet werden, sexuellen Missbrauch erfahren. Solche Fälle kennen wir. Vor diesen Gefahren muss das Kind geschützt werden."
Immerhin soll jetzt ein einheitliches Registrierungssystem für unbegleitete minderjährige Geflüchtete eingeführt werden. Das löst zwar noch nicht das Problem der derzeit vermissten Kinder. Doch die EU-Länder sollen nun bessere Voraussetzungen schaffen und die Vermittlung von Ansprechpersonen und Vormündern erleichtern. Nur müssen die Mitgliedsländer die neuen Vorgaben noch in nationales Recht überführen, und das System dann auch nutzen.
"Ich habe von allen 27 Staaten die Zusage bekommen, dass sie das tun werden", zeigt sich die EU-Kommissarin Johansson zuversichtlich. Notfalls bleibe noch die Möglichkeit ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ein säumiges Land einzuleiten. Diese Verfahren dauern allerdings Jahre.
Sendung: rbb24 Abendschau, 30.04.2024, 19:30 Uhr
Beitrag von Jan Wiese und Tina Friedrich
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