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Quelle: dpa/Julio Rodriguez

Queerfeindliche Angriffe

Wenn Händchenhalten nicht überall auf Berlins Straßen geht

Die Angriffe auf queere Menschen werden mehr - oder zumindest werden sie häufiger angezeigt. Woran kann das liegen? Und hat das Image von Berlin als queerfreundliche Stadt bereits Schaden genommen? Von Anna Bordel

Anfang April sind zwei händchenhaltende Frauen in Neukölln von zwei Jugendlichen angegriffen worden – Griffe in den Intimbereich, Schläge, Tritte. Mitte April wurde Reizgas vor einer Neuköllner Bar versprüht, vor der queere Menschen standen. Das sind nur zwei Beispiele aus Hunderten queerfeindlichen Angriffen in Berlin, die allein in diesem Jahr angezeigt wurden.

Laut Staatsanwaltschaft Berlin wurden 791 queerfeindliche Angriffe 2023 zur Anzeige gebracht. Innerhalb von vier Jahren hat sich die Zahl fast verdoppelt. Womit hängt dieser Anstieg zusammen und was bedeutet das für Berlins Image als queerfreundliche Stadt?

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Dunkelfeld möglicherweise kleiner

Die Menge angezeigter Taten muss nichts über die tatsächliche Zahl an Taten aussagen. Christopher Schreiber vom Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVD) geht davon aus, dass ein Großteil der Angriffe im Verborgenen geschieht, ohne dass die Polizei oder Beratungsstellen davon jemals erfahren. Staatsanwältin Ines Karl, Ansprechperson für LSBTI bei der Staatsanwaltschaft Berlin, ist sich sicher, dass mittlerweile mehr Straftaten angezeigt werden als noch vor zehn Jahren, also dass die Taten, die im Verborgenen stattfinden, weniger geworden sind.

Dennoch geht die Staatsanwaltschaft auch von einer schlichten Zunahme der Taten aus. "Durch ein liberaleres Verhalten der Betroffenen in der Öffentlichkeit steigt natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, dass daran andere, die weniger liberal eingestellt sind oder sogar queerfeindlich, Anstoß daran nehmen", so Karl.

Intoleranz führt zu mehr Straftaten

Möglicherweise hat die Zunahme der Taten Karl zufolge ihren Grund auch in den Folgen des knapper werdenden Wohnraums in der Innenstadt. Viele Menschen müssten in Randbezirke ziehen. "Dort treffen Menschen, die es gewohnt sind, Hand in Hand aufzutreten oder sich auf der Straße zu küssen, jetzt auf eine Bevölkerung, die das vielleicht noch nicht gewöhnt ist oder die vielleicht auch insgesamt intoleranter ist", sagt Karl.

Von einer zunehmend intoleranten Bevölkerung spricht auch Schreiber vom Lesben- und Schwulenverband. "Viele merken eine Veränderung hin zu einem rauen Umgang und zu weniger Unbeschwertheit auf der Straße. Und zwar nicht nur auf der Straße, sondern auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in Taxis und Ubers", so Schreiber. Die Hemmschwelle sei bei vielen Menschen gesunken und die Folgen davon betreffen ihm zufolge nicht nur queere Menschen, sondern zum Beispiel auch Geflüchtete.

Unsicherheitsgefühl an manchen Orten in Berlin

Dass die Innenstadtbezirke toleranter seien, sieht Schreiber anders und verweist auf die polizeiliche Kriminaltstatistik 2022. Die meisten queerfeindlichen Angriffe fanden demzufolge in den Bezirken Neukölln, Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg statt, zumindest die angezeigten. "Queere Menschen haben immer eine Landkarte im Kopf: Hier halte ich kein Händchen, hier zeige ich mich nicht offen als queer - aus Angst", erzählt er.

Manchmal hemmt allein schon die Angst, angestarrt zu werden. Aber es bleibt nicht immer beim Starren. Die häufigsten angezeigten Straftaten sind laut Staatsanwaltschaft Berlin Beleidigungen und Bedrohungen. Danach folgt Körperverletzung und gefährliche Körperverletzung.

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Konsequente Strafverfolgung entscheidend

Aus Angst vor solchen Vorfällen leben viele Menschen "mit einem diffusen Gefühl, sich nicht offen zeigen zu können. Das schränkt Menschen in ihrer Lebensqualität täglich ein", so Schreiber. Staatsanwältin Kraft geht davon aus das beleidigende oder volksverhetzende Straftaten vor allem deshalb begangen werden, um queere Menschen aus dem demokratischen Diskurs zu verdrängen. "Dass sie sich zurückziehen und sich dort nicht mehr äußern zu ihren Erfahrungen", so Kraft.

Laut Statistiken wird etwas mehr als die Hälfte der Täter gefasst, die meisten von ihnen erhalten eine Geldstrafe. "Nicht das Strafmaß ist entscheidend", erklärt die Staatsanwältin, "sondern, dass eine konsequente Strafverfolgung stattfindet". Und dafür müssten die Taten angezeigt werden, und das ihr zufolge am besten zeitnah. Zum Beispiel könnten 48 Stunden lang Videoaufnahmen aus Bahnhöfen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln die Suche nach den Tätern erheblich erleichtern. Viele würden aber erst nach Ablauf dieser Frist kommen, so Kraft.

Berlin nach wie vor als queerfreundlich bekannt

Karl ist der Meinung, dass die queere Community auch anderswo die Entwicklungen in Berlin verfolgt. Hape Kerkeling hätte vergangenen Sommer wegen der zunehmenden Queerfeindlichkeit Berlin Richtung Köln verlassen. "So etwas hat Außenwirkung", sagt sie.

Dennoch gilt Berlin nach wie vor im internationalen Vergleich als queerfreundliche Stadt. Tourguide Holger Linde-Margalit von Queer Tours Berlin sagt zwar, dass auch er die zunehmende Gewalt beobachte, aber auf seinen Touren selber noch keine schlechten Erfahrungen gemacht hätte, im Gegenteil. "Es ist eher so, dass Gäste Berlin als immer noch relativ sicher empfinden im Vergleich zum Beispiel zu Paris oder Amsterdam", sagt er.

Diese Stimmung bestätigt auch Schreiber vom LSVD. "Hier gibt es einfach super viele Clubs, Anlaufstellen und Kulturprojekte. Berlin ist weiterhin dieser Anziehungspunkt und ich glaube, da hat sich in den letzten Jahren nichts verändert. Das ist eher noch mehr geworden”, meint er.

Beitrag von Anna Bordel

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