Prignitz
Seddin ist ein 100-Einwohner-Dorf in der Prignitz, eigentlich idyllisch. Im Sommer vergangenen Jahres kommt es doch jedoch zu einem Stalking-Fall – von dem am Ende fast das ganze Dorf betroffen ist. Von Britta Streiter
Es ist ein Mittwoch Ende März, als Polizeiautos in Seddin vorfahren. Etwa 20 vermummte Beamte springen heraus. Eine Szenerie wie in einem Krimi. Trotzdem ist es für viele Dorfbewohner ein glücklicher Tag.
Über Wochen und Monate soll ein Mann eine Bewohnerin gestalkt haben. Doch nicht nur das: Mehrere Menschen, die das Opfer unterstützten, sind ebenfalls belästigt und bedroht worden. Ende März wird der Verdächtige festgenommen.
"Beim Blick aus dem Fenster mal deutlich mehr Polizei als gewöhnlich zusehen und den Tatverdächtigen in deren Mitte, das war erleichternd", berichtet ein Dorfbewohner, der anonym bleiben will. "Im ersten Moment dachte ich natürlich: 'Oh mein Gott! Ist der Nachbarin was passiert? Ist ein Mord geschehen?' Ich habe sie erst mal angerufen, ob sie überhaupt noch lebt." Dann aber habe er den Tatverdächtigen im Polizeiauto gesehen. "Und so ganz allmählich sickerte durch, dass es jetzt wohl doch vorbei ist."
Das Opfer, das sich in diesem Text selbst nicht zu den Geschehnissen äußern möchte, soll den Tatverdächtigen vor etwa fünf Jahren in einem Café in Wittenberge kennengelernt haben. 2023 - nach viereinhalb Jahren - war offensichtlich Schluss mit der Beziehung. Stattdessen ging es im Dorf hoch her. "Er hat in unsere Fenster reingefilmt, uns mit dem Fernglas beobachtet", beschreibt der Dorfbewohner die Situation. "Er hat in fremde Briefkästen geschaut, wer welche Post bekommen hat. Er hat uns Nachrichten geschrieben, wo wir wohl gerade hingefahren sind. Offensichtlich hat er uns überwacht. Auf Dauer macht das einen mürbe."
Eine andere Anwohnerin sagte, dass "er ständig Präsenz im Dorf gezeigt hat". Er sei vor den Häusern auf- und abgelaufen." Das habe der Tatverdächtige da getan, wor er sich aufgrund von Polizeiauflagen nicht hätte nähern dürfen.
Im Dorf spitzt sich die Lage nach und nach zu: "Es landeten immer wieder ausgedruckte Mails in Briefkästen, auch bei Dorfbewohnern, die damit gar nichts zu tun hatten", sagt eine Anwohnerin. "Das waren zum Teil intime Gerichtsprotokolle und -akten, Chatverläufe bis hin zu Nacktfotos seiner selbst, von denen er dann behauptet hat, seine Ex-Freundin hätte die verteilt."
Mehrere Dorfbewohner bekommen Drohbriefe - mutmaßlich, weil sie sich mit der Frau solidarisch zeigten. Sie wurden aufgefordert, aus Seddin zu verschwinden. Auch an Ortseingangsschildern hängen große Pappen mit dem Hinweis, dass die Ex-Freundin ihr Dorf verlassen soll.
Es gibt Sachbeschädigungen und Übergriffe. Mehrmals wurden in den vergangenen Monaten Autoreifen des Opfers zerstochen, einige Häuser wurden mit Farbe attackiert. "Das passierte mit Bitumen, also etwas, was wahnsinnig schwer wieder wegzumachen ist", berichtet ein Dorfbewohner. “Dann gab es einen Angriff mit einem Polen-Böller auf einem Grundstück, wo kurz vorher noch ein fünfjähriges Kind gespielt hat. Der Böller hat einen richtigen Krater gerissen. Das war alles nicht mehr lustig", erinnert er sich. Es habe auch eine andere Situation gegeben, wo der mutmaßliche Stalker von Zeugen am Auto des Opfers gesehen worden sein soll und danach zerstochene Reifen festgestellt wurden. Am Nachmittag sei er wieder hier durchs Dorf geschlendert - und im Dorf habe man sich gefragt, wie das sein könne.
Lothar Pohle, stellvertretender Vorsitzender des Brandenburger Weißen Rings, kennt solche Fälle aus der eigenen Praxis. "Es gibt einige Täter, die auch Menschen aus dem Umfeld des Opfers bedrohen. Das betrifft dann das ganze Wohngebiet, die Arbeitsstelle und den Freizeitbereich", so Pohle. Er schätzt, dass ein Fünftel aller Fälle, die beim Weißen Ring auflaufen, mit Stalking, Mobbing oder Cybermobbing zu tun haben.
Pohle rät, sich einen guten Anwalt zu nehmen. Bei den Kosten unterstützt gegebenenfalls auch der Weiße Ring. Empfehlenswert sei auch, mit der No-Stalk-App zu arbeiten, sagt Pohle. Das ist eine Art elektronisches Tagebuch. Das Opfer kann damit Aufzeichnungen, Fotos und Videos machen und sich auch Hilfe holen. Alles wird auf einem gesonderten Server gespeichert, falls der Täter an das Handy des Opfers gelangt.
In Seddin hagelt es nur so Anzeigen vom Opfer und von den Dorfbewohnern. Aber auch der mutmaßliche Täter stellt welche. "Anfang des Jahres waren es schon um die 70 Anzeigen", erzählt eine Anwohnerin. "Ich kann nur einen Anwalt zitieren, der meinte, er komme schon gar nicht mehr hinterher, das sind Wäschekörbe voll mit Dokumenten, mit denen er vom mutmaßlichen Täter zugeschmissen werde.“
Der beschuldigte Prignitzer ist bereits polizeibekannt. Er hat rbb-Recherchen zufolge bereits zwischen 2012 und 2016 Bewährungsstrafen wegen Betrugs und Untreue verbüßt.
Irgendwann fahren mehrmals am Tag Polizeistreifen durch Seddin – doch damit taucht ein neues Problem auf. Eine Anwohnerin sagt: "Die waren sehr engagiert. Allerdings hatten wir auf der Perleberger Wache immer wieder das Gefühl, dass da gewisse Sachen verschleppt wurden." Der andere Dorfbewohner ergänzt: "Die Bürokratie im Hintergrund, die lief teilweise konfus bis gar nicht. Es gibt Zeugen, die konkrete Angaben zum Beschuldigten machen konnten, die sind bis heute nicht vernommen worden, zum Beispiel nach der Böller-Attacke", sagt er. Auf Nachfrage des rbb wollte sich die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen vorerst nicht äußern.
Auch beim Perleberger Amtsgericht gibt es nach rbb-Recherchen Ungereimtheiten. In einem der Verfahren zwischen mutmaßlichem Stalker und Opfer hinterlässt die Betroffene dort eine Liste mit den Namen von fünf Zeugen. "Das Opfer hatte noch gebeten, dass das alles vertraulich behandelt werden soll, um zu verhindern, dass die Zeugen bedroht werden", sagt ein Dorfbewohner. "Und kurz darauf kriegen wir eine Nachricht des Tatverdächtigen geschickt, mit dem Bild der Zeugenliste und der Drohung, dass wir uns jetzt alle schon auf Anzeigen freuen können."
Amtsgerichtsleiter Roger Schippers sagte dem rbb, dass er nach eingehender Prüfung ausschließen könne, dass aus seinem Haus vertrauliche Informationen nach außen gedrungen seien.
Nach Angaben der Neuruppiner Staatsanwaltschaft soll gegen den 52-jährigen Tatverdächtigen in den kommenden Wochen Anklage erhoben werden. Der Anwalt des Beschuldigten wollte sich auf Nachfrage wegen des laufenden Verfahrens nicht zu den Vorwürfen äußern.
Dass die Polizei in solchen Fällen oft sehr spät reagiert, hat Lothar Pohle auch schon erlebt. "Wir haben in Deutschland ein Täterrecht, um den Täter von weiteren Handlungen abzuhalten. Deshalb gibt es uns als Weißen Ring, wir sind auf der Opferseite. Wenn es bei Aussagen 50 zu 50 steht, wird der Täter freigesprochen."
Inzwischen gibt es Reformgesetze, wodurch Opfer mehr Rechte bekommen als bisher. Zum Beispiel darf das Stalkingopfer jetzt von einer Person seines Vertrauens vor Gericht begleitet werden. Außerdem darf bei schwerwiegenden Straftaten ein Nebenkläger gewählt werden, der vom Staat bezahlt wird. "Und man hat das Recht zu erfahren, wenn der Täter verurteilt wurde, wann er auf Urlaub geht und wann er entlassen wird. Man hat Möglichkeiten der Akteneinsicht. Das haben wir als Weißer Ring erreicht," sagt Lothar Pohle.
"Ich wünsche mir, dass nach allem, was hier vorgefallen ist, dass er das Dorf nicht mehr betritt", sagt eine Bewohnerin. "Und ich fordere, dass wir informiert werden, sollte er das Gefängnis wieder verlassen", so ein anderer Dorfbewohner. "Und sollte er hier wieder auftauchen, muss schnell gehandelt werden."
Sendung: Antenne Brandenburg, 14.05.2024, 14:15 Uhr
Beitrag von Britta Streiter
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