Interview | Nachbarschaftliches Zusammenleben
Manche Nachbarn trifft man fast nie. Streit gibt es mal um zu laute Musik, aber im Großen und Ganzen geht es in Berliner Nachbarschaften eher friedlich zu, sagt der Sozialwissenschaftler Kurtenbach. Der Wohnungsmangel kann aber einiges verändern.
rbb|24: Herr Kurtenbach, wie lernt man in einer großen Stadt wie Berlin garantiert möglichst schnell möglichst viele Nachbarn kennen?
Sebastian Kurtenbach: Das kommt sehr auf die Lebensphase an. Wenn Sie als junge Familie in ein Haus gezogen sind und dort Menschen wohnen, die auch kleine Kinder haben, dann geht das relativ schnell. Es ist immer dann schwierig, wenn sich Menschen als sehr unähnlich empfinden und sehr unterschiedliche Zeitstrukturen haben – und dadurch gar keine Möglichkeit haben, sich als Nachbarn zu begegnen und kennenzulernen. Es funktioniert also gut über empfundene Ähnlichkeit, ähnliche Interessen und Gelegenheit.
Damit haben Sie auch erklärt, was die Nachbarn aus dem Loft ganz oben und die aus der ehemaligen Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss zusammenbringt. Es sind also die gemeinsamen Interessen. Oder geht es auch über Probleme?
Probleme treten im nachbarschaftlichen Zusammenleben immer mal wieder auf. Zwischen Nachbarn eskalieren Probleme so gut wie nie. Man hört zwar ganz gerne mal von krassem nachbarschaftlichem Streit, es ist aber wirklich eine absolute Seltenheit. Selbst wenn oben eine Party gefeiert wird, während die Leute drunter schlafen wollen, verständigt man sich in aller Regel dann doch.
Gemeinsame Probleme von außen können die Nachbarschaft zusammenschweißen. Für Berlin typisch sind ja Mieterhöhungen. Da wehren sich mitunter ganze Häuser gemeinschaftlich.
Einerseits sterben in einer Stadt Bewohner einsam in ihrer Wohnung – woanders in der gleichen Stadt feiert man regelmäßig gemeinsam und hütet die Katzen und Kinder. Andere haben jahrelang neben der Vorzeigenachbarin gewohnt, die sich als die RAF-Terroristin Daniela Klette entpuppte. Geht sowas nur in Metropolen? Sich vermeintlich zu kennen und doch anonym zu bleiben?
Es gibt diese alte Romantik des Landlebens, wo man sich besonders gut kennt und auf der anderen Seite die anonyme Großstadt. Es ist tatsächlich so, dass nachbarschaftliches Zusammenleben im ländlichen Raum stärker ausgeprägt ist. Das zeigen auch Umfragen, die wir gemacht haben. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass es dort keine Anonymität gibt. Das haben wir in den letzten Jahren auch bitter lernen müssen. Da gab es den Fall im nordrhein-westfälischen Höxter, wo Frauen in einem Haus festgehalten und teils zu Tode gefoltert wurden.
Wenn man in der Nachbarschaft was mitbekommen hat, hat man zumindest nichts getan. Und es gab auch Terroristenzellen, die sich ins Sauerland zurückgezogen haben. Es gibt also auch extreme Vorfälle auf dem Land, ohne dass es einen nachbarschaftlichen Eingriff gegeben hat. Umgekehrt gibt es auch immer wieder Berichte darüber, wie gut das nachbarschaftliche Leben in der Großstadt klappt. Stadt und Land allein erklärt da noch nichts. Aber die Wahrscheinlichkeit, in einer Großstadt von Einsamkeit bedroht zu sein, scheint erhöht zu sein.
Was hat heute, anders als früher vielleicht, Einfluss auf Nachbarschaft? Whatsapp-Gruppen gab es ja früher definitiv nicht.
Die Digitalisierung hat sicherlich einen sehr starken Einfluss gewonnen. Sie sorgt auch dafür, dass Nachbarschaft sichtbarer geworden ist. Apps und Messangerdienste sind dabei aber nicht die Ursache für nachbarschaftliche Beziehungen, sondern sie machen es schlichtweg einfacher mit den bestehenden Kontakten zu kommunizieren. Davon profitieren vor allen Dingen diejenigen, die sowieso schon sehr stark in der Nachbarschaft vernetzt sind.
Ein anderer Einfluss der zugenommen hat, ist die verstärkte sprachliche Diversität. In einigen Stadtvierteln spricht man jetzt viel mehr Sprachen als noch vor 20 Jahren. Da funktioniert die Verständigung nicht immer, sodass Sprachgruppen eher unter sich bleiben und koexistieren.
Machen die großen Themen wie Wohnraummangel aber auch Krisen wie Pandemien und Klimawandel etwas mit dem nachbarschaftlichen Zusammenleben?
Es ist ziemlich kompliziert, welchen Einfluss die Wohnungsmarktkrise hat. Denn es kommt zu einem sehr paradoxen Effekt, den man in Berlin sehr gut sehen kann. Jeder ist froh, überhaupt noch eine Wohnung zu haben. Deswegen nimmt die soziale Spaltung eher ab. Es ist nicht mehr so, dass Reiche wohnen, wo sie wollen und Arme nur, wo sie können. Deshalb wohnen Menschen mit einem relativ hohen Gehalt auch neben jemandem, der Bürgergeld bezieht. Das ist in anderen Teilen Deutschlands überhaupt nicht der Fall. Dort zieht man eher weg, weil man woanders mehr für sein Geld bekommt.
Andererseits setzt die Wohnungsmarktkrise die Leute erheblich unter Stress. Sie wollen nicht, dass es dazu kommt, dass sie ausziehen müssen. Auch nicht, wenn sie sich von Nachbarn gestört fühlen. Das nimmt auch Einfluss auf die nachbarschaftlichen Beziehungen.
Der Klimawandel hat sowohl positive als auch negative Einflüsse auf das Zusammenleben von Nachbarn. Positiv ist, dass es immer mehr lokale Klimaschutzaktivitäten gibt, wie die gemeinschaftliche Pflege von Grünanlagen oder "Urban Gardening". Auf der anderen Seite sind ältere Menschen häufiger von Hitzetod bedroht. Wenn da die nachbarschaftlichen Netzwerke nicht greifen und keiner nach der alten Dame oder dem älteren Herrn schaut, kann der Klimawandel auch durchaus bedrohlich werden.
Die Auswirkungen sind jeweils sehr unterschiedlich. Das ist auch das besondere von Nachbarschaft. Nachbarschaften sind eine ganz eigene Art sozialer Beziehungen, die in der Lage ist, gesellschaftliche Entwicklungen auf ihre eigene Art und Weise zu bearbeiten.
Sie haben ja schon erwähnt, dass es unter Nachbarn auch immer einmal wieder zu Ärger kommt. Was sind typische Nachbarschaftsstreits?
Es gibt zwei Möglichkeiten, nachbarschaftliches Zusammenleben unter Druck zu setzen. Einmal sind das Verhaltenserwartungen innerhalb einer Nachbarschaft, die nicht erfüllt werden. Da kann es um Lärm gehen oder um das Thema Parkraum. Menschen können ganz schön sauer werden, wenn ihr Parkraum in irgendeiner Weise blockiert wird. Da geht’s also um die Nachbarn untereinander.
Außerdem kann die Nachbarschaft von außen unter Stress gesetzt werden, wie beispielsweise durch Mieterhöhungen oder durch Naturkatastrophen wie Starkregenfälle mit Überflutungen. Da reagieren Nachbarschaften dann auch gemeinsam darauf. Denn nur die können helfen, den Keller abzudichten, bevor die Wassermassen kommen. Das funktioniert auch oft recht gut und kann die Nachbarschaft zusammenführen.
Die Stressfaktoren von außen scheinen die Nachbarschaft also im Regelfall zusammenzuschweißen?
Nur, wenn sie positiv bewältigt werden. Wenn eine Verhaltenserwartung bei Stress von außen nicht eingehalten worden ist – man also nach Hilfe gerufen hat und keiner ist gekommen – dann ist das nachbarschaftliche Vertrauen sehr stark gefährdet.
Wohin sollte man in einer Stadt wie Berlin tunlichst nicht ziehen, wenn man es gerne nett hätte mit den Nachbarn? Neben eine Kita, den Club oder das Altersheim?
Darauf kann ich fast die gleiche Antwort wie auf die Eingangsfrage geben: es kommt schlichtweg auf die Lebensphase an. Wer zum Studium nach Berlin zieht und gerne im Nachtleben unterwegs ist, kann in die lauteste Gegend ziehen und es stört ihn gar nichts. Wer dann aber in der Wohnung wohnen bleibt, eine Familie gründet und dort alt wird – während sich das Wohnumfeld nicht ändert – nervt denjenigen dieselbe Nachbarschaft nach einer Weile richtig.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 31.05.2024, 19:30 Uhr
Artikel im mobilen Angebot lesen