Interview | Verein Neustart
Mit Kriegsbeginn in der Ukraine und der Flucht vieler Frauen ist die Zahl ukrainischer Prostitutierter in Berlin stark angestiegen. Gerhard Schönborn vom Verein Neustart schildert, wie sie in Bordellen landen - und möglicherweise wieder herauskommen.
rbb|24: Herr Schönborn, ukrainische Frauen hat es schon immer in Berliner Bordellen gegeben. Sind es seit dem russischen Angriffskrieg und der Flucht vieler Frauen aus der Ukraine merklich mehr geworden?
Gerhard Schönborn: Es gab in der Tat schon immer ukrainische Frauen in den Berliner Bordellen. Aber bislang nicht in derart großen Gruppen. Die großen Gruppen sind eigentlich Frauen aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien. Seit dem Überfall Russlands sind es massiv mehr Frauen aus der Ukraine. Im Februar 2022 waren 24 Frauen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit entsprechend dem Prostituiertenschutzgesetz angemeldet. Ein Jahr später waren es 139 und in diesem Jahr waren es 153 angemeldete Frauen. Da haben sich die Zahlen innerhalb von zwei Jahren versechsfacht.
Das deckt sich auch mit unseren Beobachtungen in der aufsuchenden Arbeit in Bordellen. Es gibt ein Bordell, in dem bisher überwiegend rumänische und bulgarische Frauen waren. Dort waren schon im Mai 2022 – also drei Monate nach Kriegsausbruch – fast ausschließlich ukrainische Frauen da. Wir wissen von vier weiteren Bordellen in der Stadt, die überwiegend mit geflüchteten Ukrainerinnen besetzt sind. Und die Frauen tauchen auch in fast allen anderen Bordellen auf.
Und Sie reden jetzt schon von den angemeldeten Frauen. Gibt es da auch eine hohe Dunkelziffer von Frauen, die ohne Anmeldung in der Prostitution tätig sind?
Ja, auf jeden Fall. Nur ein kleiner Teil der in der Prostitution tätigen Frauen ist angemeldet. Aber die Zahlen der angemeldeten machen gut deutlich, dass es einen enormen Anstieg gibt.
Wie geraten ukrainische Frauen und Mädchen in Deutschland in die Prostitution? Sind das Frauen, die sich auch in der Ukraine schon prostituiert haben?
Die Frauen, die wir jetzt antreffen, sind auch alle nach dem Februar 2022 erst geflüchtet. Teils sind die Männer der Frauen im Krieg. Viele der Frauen waren hier in Aufnahmezentren. Eine der Frauen, die wir betreuen, ist jetzt 18 Jahre alt. Sie ist als Minderjährige geflüchtet, flog mit 18 aus dem Hilfesystem und landete in einem Bordell.
In der Ukraine ist Prostitution verboten. Bestraft werden dort die Frauen. Es gab sie aber natürlich trotzdem. Die Frauen, mit denen wir hier zu tun haben, waren vorher aber nicht in der Prostitution.
Sie werden – oft noch während ihrer Flucht – mit Web-Anzeigen auf Ukrainisch angeworben. Meist wissen sie aber nicht, worauf sie sich einlassen. Da geht es oft um den "Dienstleistungsbereich", manchmal auch um "Massage". Um was es wirklich geht, dass die Frauen in einem Prostitutionsbetrieb landen, wird verschleiert. Mein Eindruck ist, dass der Wille zu arbeiten sehr groß ist. Und oft wissen die Frauen auch nicht, dass sie hier eigentlich viele Rechte haben.
Warum suchen sich die Frauen nicht einen Job im Supermarkt an der Kasse oder werden Krankenpflegerin? Dieses Personal wird doch händeringend gesucht in Deutschland.
Viele ukrainische Frauen arbeiten ja in den von Ihnen genannten Bereichen. Oft ist es aber so, dass sie die vorhin genannten Anzeigen schon gelesen haben, als sie sich auf die Flucht begeben haben. Sie reisen dann gezielt dorthin, wo der Anbieter sitzt, der ihnen verspricht, dass sie Arbeit haben werden, womit sie sich und teils ihre Kinder versorgen können.
Dann landen sie hier und stellen fest, was sie da machen sollen. Viele Frauen beißen dann die Zähne zusammen und machen das erstmal. Die meisten Frauen, mit denen wir sprechen können, sagen aber, dass sie etwas anderes machen wollen. Am liebsten das, was sie eigentlich gelernt haben: Friseurin, Verkäuferin oder ähnliches. Aber sie sind in einem Teufelskreis. Denn die Frauen wohnen zumeist, auch wenn das nicht erlaubt ist, in den Prostitutionsstätten. Wenn sie aufhören würden, wäre komplett unsicher, was mit ihnen geschieht. Angefangen mit der Wohnsituation. Diese Unsicherheit ist ausschlaggebend für viele Frauen, in der Situation zu verbleiben.
Welche Mädchen und Frauen sind besonders gefährdet?
Geflüchtete Frauen sind insgesamt besonders vulnerabel. Doch Frauen, die in der Ukraine im Wohlstand gelebt haben, haben meist auch hier ganz andere Optionen. Gefährdet sind eher die Frauen, die sich in der Ukraine kaum über Wasser halten konnten und die alles zurücklassen mussten. In einem Bordell haben wir auch eine traumatisierte Frau angetroffen, die auf der Flucht mehrfach vergewaltigt wurde. Sie wurde durch unser Hilfesystem nicht aufgefangen.
Inwiefern können Sie den Frauen helfen und wie können sie überhaupt wieder herausfinden aus der Prostitution?
Eine der großen Schwierigkeiten ist die Situation auf dem Wohnungsmarkt. Wer also erstmal im Bordell wohnt, kann nicht einfach raus und sich etwas anderes suchen. Mit Frauen in der Prostitution muss man eigentlich immer mehrere Probleme gleichzeitig lösen. Man muss schauen, dass sie über Transferleistungen versorgt werden oder Arbeit finden und auch, dass sie eine Unterkunft haben.
Für uns gibt es in der Arbeit mit den Frauen große Probleme mit der Sprachbarriere. Wir haben Sprachmittlerinnen, die Bulgarisch, Rumänisch und Ungarisch sprechen, da kamen bislang die meisten Frauen her. Aber wir haben keine Sprachmittlerin, die Ukrainisch spricht. Das erschwert es, Zugang zu den Frauen zu finden.
Sie hatten die Strippenzieher, die die Frauen vielfach über Anzeigen in die Prostitution locken, schon erwähnt. Sind das immer Männer? Und werden da die Strukturen genutzt, die es auch vor dem Krieg schon gab?
In den Bordellen, die wir aufsuchen, sind zum Teil die Betreiberinnen Ukrainerinnen. Sie haben auch vor dem Krieg schon einen Prostitutionsbetrieb geführt und haben die Chance gesehen, gezielt Frauen aus der Ukraine anzuwerben. Aber sie werden auch von Männern angeworben.
In der Ukraine gab es auch vor dem Krieg schon große Probleme mit Korruption und auch mit Menschen- und Frauenhandel. Da gab es Strukturen, die zum Teil hierher verlegt wurden. Kriminelle sehen meist sofort ihre Chancen, aus der Not – in dem Fall von Frauen – zu profitieren.
Es waren ja auch sofort im Februar 2022 diejenigen, die da ihre Chancen gewittert haben, am Berliner Hauptbahnhof und haben geschaut, ob sie Frauen anwerben oder abschleppen können.
Ihren Vorteil haben eventuell ja auch die Freier gesehen. Wie reagieren diese denn auf die vermehrten ukrainischen Frauen in der Prostitution hier?
Direkt schon im Februar 2022, als die ersten Frauen hier ankamen, entstanden Diskussionen in den sogenannten Freier-Foren, wo sich die Männer austauschen. Da wurde sich über ukrainische Frauen ausgelassen und sich gefreut auf "Frischfleisch". Da wurden die rumänischen und bulgarischen Prostituierten rassistisch und frauenverachtend abgewertet. Die Ukrainerinnen sind da – gemeinsam mit Frauen aus dem Baltikum - mit am begehrtesten. Da gab es eine Art Goldgräberstimmung unter den Sexkäufern in Hunderten von Einträgen.
Den Männern war also gleich klar, dass die Not die Frauen hierhertreiben würde und ihnen Zugang verschaffen wird?
Ja. Und das war ganz anders als 2015, als aus Syrien und Afghanistan vor allen Dingen Männer kamen. Die Freier hatten gleich auf dem Schirm, dass die Männer im Krieg bleiben müssen und dass da vor allen Dingen Frauen kommen würden. Ich weiß auch, dass Männer, die im Umfeld des Straßenstrichs unterwegs sind, direkt am Bahnhof geschaut haben, ob sie fündig werden. Es gibt eine Art Wohnungsfreier, die Frauen ein Bett anbieten gegen freie sexuelle Verfügung. Die haben alle sofort reagiert.
Wie freiwillig kann Prostitution unter den Umständen von Krieg, Not und Flucht sein?
Wenn Frauen durch eine Notsituation gezwungen sind, sich und ihren Körper der Prostitution zur Verfügung zu stellen - das haben wir auch mit Drogenabhängigen oder Armutsprostitution aus Bulgarien und Rumänien und der Slowakei. Da sind die Zwänge so groß, dass die Frauen ihren Körper verkaufen. Das ist dann keine Freiwilligkeit. Jede dieser Frauen würde etwas anderes machen, wenn sie eine andere Möglichkeit hätte.
Wie geht es den Familien der Frauen damit? Wissen die davon? In der Ukraine ist das Anbieten von Sexdienstleistungen sogar verboten.
Die ukrainischen Männer im Krieg wissen nicht, dass sich ihre Frauen hier prostituieren, um zu überleben. Genauso wenig wie andere Familienangehörige. Die Frauen erzählen, sie arbeiten im Dienstleistungsbereich oder der Gastronomie. Zumindest in den allermeisten Fällen.
Was bräuchten die Frauen, um aus der Prostitution herauszukommen oder gar nicht erst darin zu landen?
Erst einmal Aufklärung darüber, welche Rechte sie hier haben als Geflüchtete aus der Ukraine. Man könnte denken, dass sie das wissen müssten, das ist aber nicht so. Viele wissen gar nicht, dass sie einen Anspruch auf Versorgung haben. Ansonsten fehlt es an Unterkünften und an sozialer Arbeit in diesem Bereich. Und an Sprachmittlerinnen, um Zugang zu den Frauen zu bekommen. Wenn eine Tür aufgeht, sind die Frauen auch bereit, etwas anderes zu machen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
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