Interview | Zehn Jahre vertrauliche Geburt
Seit zehn Jahren ermöglicht die vertrauliche Geburt Müttern, unter Pseudonym zu entbinden und das Kind zur Adoption freizugeben. Mit 16 können diese ihre Herkunft erfahren. Ein Berliner Seelsorger erzählt, warum manche Frauen sich so entscheiden.
rbb|24: Herr Rösler, Sie arbeiten als Seelsorger im Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede. Wie melden sich Frauen wegen einer vertraulichen Geburt bei Ihnen und was ist dann das Vorgehen?
Gersom Rösler: Die Frauen, die den Wunsch haben vertraulich oder im weitesten Sinne anonym zu gebären, melden sich bei uns per Telefon direkt bei der Seelsorge. Denn bei uns im Krankenhaus sind die vertraulichen und anonymen Geburten bei der Seelsorge angesiedelt. Wir hören den Frauen zunächst einmal zu. Dann laden wir sie, wenn es ihnen möglich ist, zu einem Erstgespräch ein – unter Wahrung der vollständigen Anonymität.
Sie beraten die Frauen dann ja auch zu den verschiedenen Möglichkeiten – und da gibt es ja nicht nur die vertrauliche Geburt.
Genau. Neben der vertraulichen Geburt gibt es auch die vollständig anonyme Geburt. Sie wurde in der Vergangenheit seltener gewünscht. Denn die vertrauliche Geburt ist im Rahmen der Anonymität da eher ein Schritt weiter. Denn die Mütter haben in der Regel schon den Wunsch, die Möglichkeit zu haben, irgendwie Kontakt zu ihrem Kind aufnehmen zu können. Das ist den meisten schon wichtig. Gerade weil es sich häufig um Frauen handelt, die selbst aus einer Situation kommen, in der ihre Herkunftsfamilie unklar war.
Das heißt, viele Frauen wollen gar nicht unbedingt dem Kind gegenüber anonym bleiben, sondern vielleicht eher den Behörden?
Richtig. Viele der Frauen kommen, weil sie das Gefühl haben, dass sie das Kind nicht angemessen versorgen können. Sie möchten es aber trotzdem austragen und in eine Adoptionsfamilie geben. Es gibt aber auch Frauen, die versuchen, die Schwangerschaft heimlich auszutragen. Das sind dann oft Frauen in äußert prekären Situationen.
Wollen viele der Frauen wissen, welchen Weg ihr Kind weiter nimmt?
Im Grunde ja. Diese Frage gerät den Frauen nach der Geburt stärker in den Blick. Vor der Geburt geht es häufig eher darum, das Kind möglichst gesund und oft auch zügig auf die Welt zu bringen. Viele denken zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so sehr an die Zeit danach. Es ist auch gar nicht immer einfach, die Zeit nach der Geburt mit den werdenden Müttern zu besprechen. Aber wir sind auch nach der Geburt noch da, um mit den Frauen in Kontakt zu bleiben. Und das sind wir an dieser Stelle auch nicht alleine, denn wir arbeiten mit unterschiedlichsten Beratungsstellen zusammen und vermitteln die Frauen auch weiter.
Gibt es auch Frauen, die sich erst mit einsetzenden Wehen melden oder zu ihnen kommen?
Das ist auch schon vorgekommen. Da kamen Frauen zur Geburt, die sich vorher gar nicht bei uns gemeldet haben. Aber wir weisen das ja auch so aus, dass man zu uns auch unter diesen Umständen kommen kann, um zu gebären. Das ist dann natürlich möglich. Wir tun dann alles, was notwendig ist, um die Frauen psychosozial aufzufangen und das Kind zu versorgen.
Wie viele der Frauen, die sich bei Ihnen melden, entscheiden sich nach den Gesprächen dann für eine vertrauliche Geburt?
Der überwiegende Teil der Frauen entscheidet sich für die vertrauliche Geburt. Jede Frau, die zu uns kommt, möchte zunächst anonym bleiben. Da aber die Vertraulichkeit die Möglichkeit birgt, dass zumindest das Kind im Alter von 16 Jahren seine Herkunft erfahren kann und die Mutter in ihrer Anonymität geschützt bleibt, entscheiden sich die meisten Frauen dafür. Bei vollständiger Anonymität gibt es ja keinen standesamtlichen Herkunftsnachweis. Da ist es dann später sehr viel schwieriger, das Kind jemals wieder aufzufinden und in Kontakt zu kommen.
Jede Frau bringt da ja ihr individuelles Schicksal und eine offenkundig ausweglose Situation mit. Gibt es dennoch etwas, was alle Frauen, die sich melden, eint?
Es sind in der Regel Mütter, die aus prekären Lebensverhältnissen stammen. Viele brauchen selbst Hilfe und nehmen diese auch in Anspruch. Manche der Frauen sind auch schon Mütter und können aufgrund ihrer Lebenssituation kein weiteres Kind versorgen – selbst, wenn sie es wollten. Ich habe es bisher nicht erlebt, dass eine der Frauen aus einer gehobenen Bildungsschicht kam. Solche Frauen würden wahrscheinlich dann eher eine offene Adoption anstreben.
Erleben Sie Leichtfertigkeit bei den Frauen?
Ganz und gar nicht. Häufig ist es sogar eher so, dass die Frauen sich in dem Moment, in dem sie ihre Schwangerschaft bemerken, sehr genau überlegen, welchen Weg sie gehen wollen. Viele der Frauen sind, bevor sie zu uns kommen, schon in einer Schwangerschafts-Konfliktberatung gewesen. Einige schrecken auch davor zurück, das Kind abzutreiben, selbst, wenn sie eine Indikation für eine Abtreibung bekommen haben. Bei den jüngsten beiden vertraulich-anonymen Geburten, die wir im Krankenhaus Waldfriede hatten, waren das Frauen, die in der Praxis, in der die Abtreibung vorgenommen werden sollte, kehrtgemacht haben. Die Mutter wollte dem Kind das Leben schenken.
Wie viele vertrauliche Geburten gibt es bei Ihnen im Jahr ungefähr?
Das sind etwa vier im Jahr. Es gibt ja noch mehr Krankenhäuser in Berlin, die vertrauliche Geburten durchführen. Wir haben im Krankenhaus Waldfriede seit dem Jahr 2000 auch eine sogenannte Babywiege [Anm. d. Redaktion: auch unter dem Begriff Babyklappe bekannt]. Das letzte Mal hatten wir im Jahr 2015 ein Kind darin liegen. Seit dieser Zeit gehen die Frauen eher und bewusster den Weg einer vertraulichen Geburt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess.
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