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Quelle: dpa/Alessandra Schellnegger

Schule in Berlin-Neukölln

Nächste Stunde: Glück

Mathe, Englisch, Deutsch - und Glück? Seit einigen Jahren wird das Fach an einigen Berliner Schulen gelehrt. Die Schüler:innen sollen sich durch Selbsterfahrung besser entwickeln können. Aber wie funktioniert das im Unterrichtsalltag? Von Anna Severinenko

Die Schüler und Schülerinnen stürmen ins Klassenzimmer. Es ist die 7. Klasse der Gesamtschule Campus Efeuweg in Berlin-Neukölln. Mit einem Klangschalen-Gong begrüßt die Lehrerin Helene Harms die 12- und 13-Jährigen zur "Glück"-Stunde, das Ritual für den Unterrichtsbeginn. Man hört die junge Lehrerin kaum vor lautem Lachen, Zurufen, Gesprächen, Rangeleien. Plastikflaschen und zusammengeknülltes Papier fliegen durch die Luft. Ein Schüler brüllt rein: "Ich will kein Yoga machen und auch nicht meditieren".

Ab Montag

Zwölf Neuköllner Schulen bekommen wieder Wachschutz

Der Bezirk Neukölln hatte unter starkem Elternprotest den Wachschutz an Schulen im Sommer eingestellt - aus finanziellen Gründen. Im Zuge des Krieges in Nahost nahmen die Konflikte an Schulen zu. Nun werden sie wieder bewacht - zumindest vorerst.

Persönlichkeitsentwicklung anstatt Yoga

Dabei besteht das Schulfach "Glück" nie aus Yoga. "Der Name des Fachs 'Glück' ist etwas verwirrend. Weil es nicht darum geht, wie ich jetzt lerne, glücklich zu sein oder das vollkommene Glück zu haben, sondern mehr, was ich brauche, um mich wohl und gut zu fühlen", erklärt Harms. Im Fokus stehe viel mehr die Persönlichkeitsentwicklung.

"Es geht darum, mich selbst kennenzulernen, mich meiner selbst bewusst zu werden, mit all meinen Stärken, all meinen Schwächen, all meinen Visionen und mit den Fragen: Wer bin ich, was brauche ich und was möchte ich im Leben?" Fragen, die an einer Schule mit einem sehr hohen Migrationsanteil, nicht nur der Achtsamkeit dienen.

Status: Problemschule

Der Campus Efeuweg lehrt 750 Schüler:innen aus knapp 20 verschiedenen Nationalitäten. Von der ersten bis zur zehnten Klasse kommen alle Klassenstufen zusammen. "Gerade hier, in diesem Bezirk und mit dem, was die Schüler:innen mitbringen, fällt es einfach vielen sehr schwer, sich auf die Fächer zu konzentrieren", betont Harms. Die Kinder und Jugendlichen würden mit sehr unterschiedlichen Ressourcen kommen und bräuchten in vielen Bereichen Unterstützung. "Deswegen gilt die Schule auch als Problemschule."

Seit einigen Jahren benötigt die Schule Wachschutz am Eingangstor. Erst im Dezember gab es eine Massenschlägerei mit fast 50 Beteiligten.

Insgesamt sechs "Glücks-Lehrkräfte" im Einsatz

Die Neuköllner Gemeinschaftsschule, die ihren Schwerpunkt vor allem auf Sonderpädagogik legt, war eine der ersten, die "Glück" in Berlin in den Stundenplan aufgenommen haben. Inzwischen haben sich sechs Lehrkräfte an der Schule weiterbilden lassen und unterrichten das Fach. Organisiert wird das Pilotprojekt seit 2017 von der Sethasa GmbH, die deutschlandweit mit Schulen zusammenarbeiten.

Schulfach "Glück"

Berlin-Gropiusstadt

Streit an Oberschule eskaliert - Lehrer und Polizisten angegriffen

Ein Streit unter Schülern an einer Oberschule in Berlin-Gropiusstadt ist am Montag aus dem Ruder gelaufen. Im Verlauf der Auseinandersetzung wurden auch Lehrer und Polizeikräfte attackiert, es gab mehrere Verletzte.

Selbstreflexion als wichtiger Bestandteil

Das Thema der heutigen Stunde "Glück" lautet Gruppendynamik. Die Jugendlichen sollen in einer Gruppenarbeit eine Maschine bauen, die ein rohes Ei vor dem Zerbrechen schützen soll. Am Ende der Stunde soll es als Test aus dem Fenster geworfen werden. Die Übung soll die Schüler:innen zum Nachdenken bewegen, wie sie sich selbst vor Gefahr schützen, das rohe Ei soll sie repräsentierten. Bis Helene Harms das überhaupt erklären kann, vergehen 20 Minuten. Immer wieder rufen Schüler:innen rein oder laufen durch den Klassenraum. Es wirkt aufgedreht. Die Lehrerin spricht trotzdem in normaler Lautstärke, mit denen die stören, aber auch mit denen, die sich eher zurückziehen.

Ein Großteil ihrer Arbeit ist Beziehungsarbeit, meint sie. "Wenn ich von den Schülern erwarte, dass sie sich öffnen und mir mitteilen, was ihre Stärken und ihre Schwächen sind oder auch ihre Ängste, möchte ich auch als Modell vorangehen und das mitteilen können."

Diese Selbstreflexion ist wichtiger Bestandteil der Ausbildung zur Glückslehrkraft. Die Ausbildung unterscheidet sich dabei im Konzept nicht sehr von anderen Fächern. Der Unterschied wird eher in der Praxis deutlich: Anstatt die Sprache fließend zu sprechen oder geschichtliche Daten zu kennen, setzen sich die zukünftigen Glückslehrer:innen mit ihren eigenen Gefühlen und Verhaltensweisen auseinander.

Mit Störungen umgehen

Ein Schüler stört immer wieder während des Unterrichts und scheint lauter zu werden, je mehr die Lehrerin um Ruhe bittet. Sie bückt sich zu ihm und schaut ihm fest in die Augen: "Du kannst dir aussuchen, ob du hier bleibst und ruhig arbeitest oder eine Minute rausgehst und einmal ums Gebäude herumrennst." Der Junge geht raus und knallt die Tür zu, kommt aber ungefähr nach einer Minute wieder und wirkt gefasster.

"Ich habe mich oft gefragt, ob ich das richtig mache, ob ich der Klasse was beibringe", reflektiert die Lehrerin, "besonders wenn sie sagen: 'Wir haben keinen Bock, was soll das, was bringt uns das'. Aber als meine 10. Klasse letzten Sommer ihren Abschluss hatte, kamen einige von ihnen zu mir und sagten, es war das coolste Fach, sie werden es vermissen." Auch im Unterricht beobachtet sie, dass die Schüler:innen aufblühen und sich bei den Gruppenübungen engagieren. "Sich auf einmal trauen was zu sagen, sowas wie 'Ich fühl grade Angst', das ist dann ein Durchbruch."

Lernleistungen

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Die 12-jährige Alexandra erzählt, dass sie gelernt hat, wie viel ihr im Leben wichtig ist, weil sie das in einer anderen Stunde aufschreiben sollten. Auf dieses Fach freue sie sich immer mehr als auf andere Fächer, "weil es da mal um andere Themen geht und um die Schüler selbst."

"Glücks-Fach" als Grundlage

Aber wie passt dieses Fach mit Modulen zu Gefühlen, Bedürfnissen und Gruppendynamik zu Mathe, Deutsch und Geschichte? Und nach den bislang schlechtesten Ergebnissen der letzten Pisa-Studie Ende des Jahres 2023, vor allem in Mathematik und Lesen, bräuchte vor allem eine Brennpunkt-Schule nicht eher den Platz im Lehrplan um diese Grundlagen zu stärken?

Helene Harms hält dagegen: "Ich glaube, gerade deswegen brauchen sie das 'Glücks'-Fach, um eine Grundlage zu schaffen, um auch in anderen Fächern, nicht nur in den Hauptfächern, gut lernen zu können." Wenn die Kinder und Jugendlichen Angst oder Probleme zu Hause hätten, könnten sie auch nicht gut lernen, so die Pädagogin.

Gefühle fühlen und Emotionen benennen

Glück zu lernen, unterstütze die anderen Fächer geradezu. Denn die Schüler:innen setzen sich mit Grundlagen auseinander, die sich auf ihre Motivation auswirken können: Was ist mir wichtig im Leben? Was sind meine Stärken und Schwächen? Welche Strategien kann ich anwenden, um besser zu lernen? Wo möchte ich mal hin? Wie plane ich für meine Ziele?

Und auch die abstrakteren Fragen, wie es den Schüler:innen geht, sind zentral im Glücks-Unterricht, da sie zentral für ihre Entwicklung sind. "Der Punkt ist, dass die Schüler:innen dadurch das Gefühl bekommen, sie werden gesehen, sie werden gehört, jemand fragt wie es ihnen geht, denn das passiert nicht immer im privaten Umfeld. Sie üben hier, ihre Gefühle zu fühlen und Emotionen zu benennen."

Die Eier-Maschinen sind nach ungefähr 20 Minuten fertig und sollen auf den Prüfstand gestellt werden. Die Klasse geht raus zum Beobachten. Eine zweite Lehrkraft, die sich derzeit zur "Glücks"-Lehrerin weiterbilden lässt und die Unterrichtsstunde begleitet, wirft sie nacheinander aus dem Fenster. Die meisten Eier bleiben ganz. Die Schüler:innen zählen jedes Mal einen Countdown runter, jubeln, auch die stilleren Jugendlichen.

Beitrag von Anna Severinenko

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