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Quelle: rbb/Oliver Noffke

Pionierin der trans* Geschichte

Dora ging nach Böhmen

Vor einem Jahr fragte rbb|24, was aus Dora Richter wurde – der ersten Person, die eine Geschlechtsangleichung erfuhr. Ihre Spur verlor sich im Berlin der dreißiger Jahre. Nun steht fest: Dora überlebte die Nazizeit und starb als alte Frau. Von Oliver Noffke

Motzstraße 11. Ein Haus, wie mit Bauklötzen geplant. Nachkriegsmoderne im Kastenformat. Über dem gedrungenen Erdgeschoss stapeln sich fünf Laubengänge. Ihre himbeerfarbenen Balkonmauern sind von dunkelgrauen Fassadentürmen eingerahmt. Ein Anblick ohne Schnörkel. "Hier könnte doch eine Plakette hängen." Clara Hartmann zeigt auf eine kahle Stelle unterhalb der Hausnummer. "Das wäre doch schön: An dieser Stelle lebte Dora Richter." Hartmann hat das herausgefunden.

Ihre Freizeit widmet sie dem Aufbau der Lili-Elbe-Bibliothek. Zum einen sammelt sie Biografien von trans- oder intergeschlechtlichen sowie non-binären Persönlichkeiten. Sie recherchiert aber auch zu Menschen, die vergessen oder bisher ignoriert wurden. Hartmann sucht nach Puzzleteilen aus diesen Leben. Sie schreibt Archive an und Dokumentationszentren, fragt nach Hinweisen und wartet. Oftmals vergebens. Wird sie hingegen fündig, bloggt und postet Hartmann zu ihren Erkenntnissen. "Über die Personen der frühen trans* Geschichte gibt es hier und da ein Buch und ein paar Wikipedia-Einträge. Aber ansonsten gibt es nicht so viele gut lesbare Quellen."

Auf diese Weise hat sie die wahrscheinlich letzte Adresse von Dora Richter in Berlin ausfindig gemacht. Sie war 1934 in der Motzstraße 71 gemeldet. Im Zweiten Weltkrieg wurden in der Straße einige Gebäude durch Fliegerbomben gesprengt oder in Brand gesteckt. Auch die 71 wurde zerstört. Nach dem Krieg wurden die Hausnummern in der Motzstraße neu geordnet. Nun hängt unter den purpurnen Balkonen eine 11. Hartmann geht zur Straßenseite gegenüber. "Ich will noch schnell ein Foto machen." Stunden später sammelt es Herzen auf Instagram ein.

Geschlechtsidentität und Genderforschung

Was wurde aus Dora?

Dora Richter war die erste Person, die eine vollständige Geschlechtsangleichung erfahren hat. Ihr Weg als Patientin ist gut dokumentiert. Wer sie war, ist hingegen weitestgehend unklar. Ihre Spur verwischt vor 90 Jahren in Berlin. Von Oliver Noffke

Freiheiten während der Weimarer Jahre

Dora Richter gilt als bedeutende Pionierin. Sie war die erste trans* Person, die eine Geschlechtsangleichung erfahren hat. Ihr medizinischer Weg ist seit Langem gut dokumentiert. Zwischen 1923 und 1931 unterzog sie sich in Berlin mehreren bahnbrechenden Operationen. Nach und nach wurde ihr Körper so an die Gefühle in ihrem Inneren angepasst.

Diese Transition war möglich, da die Chirurgie zu dieser Zeit enorme Sprünge machte. Erkenntnisse etwa in der Hygieneforschung ermöglichten plötzlich invasive Eingriffe, die wenige Jahre zuvor noch als sichere Todesurteile galten. Das weckte den Eifer vieler Ärzte und das Verlangen einiger trans* Personen. Vieles, was sie als Patientin durchlebte, war bis dahin gänzlich unerprobt.

Wenig bekannt ist hingegen über die Person Dora Richter. Wie sie war, was sie mochte. Nur einige Details sind dokumentiert. Sie beschäftigte sich viel mit Handarbeit. Ein Foto zeigt Dora Richter am Klöppelsack, aufgenommen im Institut für Sexualwissenschaft in der Beethovenstraße. Dort war Dora zur Zeit der Weimarer Republik im Haushalt angestellt. Mit dem Gründer des Instituts, Arzt und Wissenschaftler Magnus Hirschfeld, war sie freundschaftlich verbunden. Er nannte sie liebevoll "Dorchen". Ihre Lebensgeschichte und ihr Wille weiteten seinen Blick für Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde.

Quelle: Hirschfeld-Gesellschaft/public domain

Die Bibliothek endet auf dem Opernplatz

Nach der Machtübernahme durch die Nazis wurde das Institut von nationalistischen Studenten und der SA geplündert. Die Bibliothek des Hauses wurde bei der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz zerstört. Viele der Ärzte, die während der Weimarer Jahre im Institut relativ frei arbeiten konnten, sowie die Patient*innen, für die es oftmals eine Zuflucht darstellte, wurden zu Verfolgten. So auch Dora.

Vor einem Jahr berichtete rbb|24, dass der Taufschein von Dora Richter nachträglich angepasst wurde. Clara Hartmann hatte den Eintrag über eine Anfrage am Tschechischen Nationalarchiv in Prag ausfindig gemacht. Das Pfarramt in Doras Heimatort Seifen (tschechisch: Ryžovna), auf der böhmischen Seite des Erzgebirges, hatte den männlichen Geburtsnamen durchgestrichen und mitgeteilt, sie dürfe sich nun Dora Rudolfine nennen. Alles mit Genehmigung des Landespräsidenten in Prag. Der Vorgang ist auf den "28. Jänner 1946" datiert.

Den Antrag dafür hatte Dora bereits viele Jahre zuvor in den Blick genommen, als sie noch in der Beethovenstraße arbeitete. Doch in der Zeit nach der Machtübernahme verschwanden die Lebenszeichen. Vergangenes Jahr schien möglich, dass sie nie von dieser Änderung erfahren hat. Doch so kam es nicht. Hartmann konnte mittlerweile diverse Lebensereignisse von Dora rekonstruieren und hat der Redaktion Einblick in ihre Funde gewährt.

Viel wahrscheinlicher ist nun, dass Dora Richter selbst dafür gesorgt hatte, dass der Taufeintrag korrigiert wurde. Sie hat den Krieg überlebt und sich der Verfolgung durch die Nazis entzogen. Dora ging in den dreißiger Jahren nach Böhmen. In ihren Heimatort Seifen.

Quelle: rbb/Oliver Noffke

Dorf ohne Ortschaft

Aus dem Wald steigt Dampf. Über den Kiefern wiegen die nassen Schwaden in einer Brise. Sie tanzen hin und her, auf und wieder ab. Als wären Wolken ins Erzgebirge gestürzt, die von Nadelzweigen am Neustart gehindert werden. Der Bergkamm schlängelt sich in langen Wellen zum Horizont. Der Regen wäscht die weiten Wiesen in sattes Froschgrün.

Bricht die Sonne durch das Grau, dreht für kurze Momente der Kontrast voll auf. Himmel und Wiesen blenden die Augen. Dazwischen pikst das Kiefernband tiefdunkle Spitzen in die Luft. Bei wechselhaftem Wetter sieht die Gegend entweder aus wie das Finale einer Wolf-Haas-Verfilmung oder der Bildschirmhintergrund von Windows 95. Gruselthriller oder Bergidyll, dazwischen gibt es nichts.

Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich

Die Frau, die "Nein" sagte

Sie half Juden im Untergrund, stemmte sich gegen die Verrohung, dokumentierte den Untergang des Dritten Reichs und seiner Hauptstadt. Ruth Andreas-Friedrich war kühn, modern und eigensinnig. Vor 120 Jahren wurde die große Berlinerin geboren. Von Oliver Noffke

An der schmalen Landstraße, die sich von Oberwiesenthal zur Kleinstadt Horní Blatná durch die Berge schlängelt, kann man in Ryžovna einkehren. Im Wirtshaus wird Wildgulasch mit Knödeln serviert - dazu selbstgebrautes Himbeerbier. "Essen wie bei Mutti", steht auf Deutsch neben dem Eingang. In der Stube im Obergeschoss spielen ein paar Radfahrer Karten. Auf jedem Tisch liegt ein Spiel bereit. Eine der Kellnerinnen malträtiert genervt ihr Handy. Der Empfang ist äußerst schüchtern.

Der Ausblick auf den Ort zeigt eine Handvoll Häuser, die zwischen den Hügeln klemmen. Zu weit entfernt voneinander, um benachbart zu sein. Zu nah, um von Einsamkeit zu sprechen. Umgeben von dichtem Wald und trotzdem nackt in der Landschaft. Nicht alle scheinen bewohnt. Eines verliert gerade einen lange währenden Kampf gegen die Natur, ein anderes befindet sich möglicherweise gerade im Umbau. Ryžovna ist ein Dorf ohne Ortschaft.

Als es noch Seifen hieß, standen hier rund 60 Häuser in ähnlich zerstreuter Weise. Auf Infotafeln am ehemaligen Friedhof oder an einer Ortskreuzung, die keine Straßen mehr verbindet, kann man das auf alten Postkartenmotiven sehen. Es kann kein einfaches Leben gewesen sein vor rund 90 Jahren in dieser Gegend. Zu kurze Sommer für ordentliche Kartoffeln, lange Winter, beschwerliche Wege, Bergbau, Schnitzen, Handarbeiten. Abgeschiedenheit.

Viele suchten ihre Papiere zusammen

Wann Dora Richter an ihren Geburtsort zurückkehrte, ist nicht ganz klar. Zwischen dem Meldedatum in der Motzstraße und dem nächsten Puzzleteil ihres Lebens liegen mehr als fünf Jahre. Am 17. Mai 1939 wurde sie bei einer Volkszählung in Seifen registriert: "Dora, Richter, Haushaltsführungsvorstand, geboren 16. Apr. 1892, led., röm. kath., Staatsangehörigkeit deutsch, Muttersprache deutsch, Volkszugehörigkeit deutsch." Es sind nur wenige Monate bis mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg beginnt.

Mehr als sechs Jahre später, im Winter 1946 stand fest, dass die östlichen Teile des Nazireichs kein deutsches Territorium mehr sein würden. Das Sudetenland, eine heterogene Ansammlung böhmischer Gebiete, die ab 1938 von Hitler beansprucht wurden, stand nun unter sowjetischem Einfluss. In der neugegründeten Tschechoslowakei war es unvorstellbar, dass der deutschstämmige Teil der Bevölkerung nach Allem im Land bleiben konnte.

Direkt im Januar begann die Abschiebung von insgesamt mehr als drei Millionen Böhm*innen. Wo immer auch das neue Leben begann, es war schlau, sich ordentlich ausweisen zu können. Dora Richter brauchte Papiere, die sie als Frau benannten. Der geänderte Eintrag im Taufbuch tat das. "Zu der Zeit haben in Böhmen viele deutschstämmige Menschen ihre Papiere zusammengesucht. Es war ja klar, dass sie vertrieben werden", sagt Clara Hartmann.

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"Wir haben da was gefunden"

Als sie im vergangenen Sommer den Eintrag der Volkszählung aufgespürt hatte, weiß Hartmann noch nicht, dass Dora Richter tatsächlich zu den Vertriebenen gehörte. Schließlich stand nicht fest, wie genau es zu der Änderung im Taufbuch gekommen war. Eine Zeitlang stochert sie erfolglos im Gewirr aus National-, Landes- und Kommunalarchiven. Dann erhält sie den Tipp, den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes zu kontaktieren.

"Ich habe herumgefragt, wie man nach Personen aus dem Sudetenland recherchieren kann." Sie habe keine großen Erwartungen gehabt, weil andere, potentielle Quellen trotz mehrmaliger Eingaben nicht zu sprudeln begannen. Doch nach wenigen Wochen erhielt sie Antwort: "Ich solle schnell ein Dokument ausfüllen, damit man mir etwas zuschicken könnte." Die Archivare des DRK hätten nur gesagt: "Wir haben da was gefunden."

"Ich war sehr aufgeregt und sehr, sehr glücklich", sagt Hartmann, "weil diese monatelange Suche ohne wirkliche Spuren doch noch zum Erfolg führte und ich damit dieses Rätsel um den Verbleib von Dora Richter endlich lösen konnte."

Auf Anfrage von rbb|24 schickt der DRK-Suchdienst den Scan eines Fluchtscheins. Richter, Dora, geboren am 16. April 1892 in Seifen. Erlernter Beruf: Klöpplerin, katholisch, ledig. Jetzige Anschrift: Allersberg 377, Kreis Hilpoltstein. Datiert ist der Schein auf den 1. Mai 1946. Dora Richter wird bis zu ihrem Lebensende noch 20 Jahre in dem kleinen Städtchen südlich von Nürnberg verbringen.

Von der Wiege bis zur Bahre ... Formulare, Formulare

Häuser in blassem Orange und zarten Tönen von grün bis zitronengelb. Spitze Dächer, krumme Straßen, leergefegte Plätze. Gemütlich liegt das Wochenende über Allersberg. Ein Dorf wie ein Rundling. Auf einer historischen Karte der heutigen Gemeinde Markt Allersberg ist unten links das Grundstück 377 zu finden. Es liegt außerhalb des Rundlings. Heute befindet sich an ihrer Stelle eine Wohnsiedlung, die in den frühen Achtzigern gegründet wurde.

Quelle: Markt Allersberg

Hartmanns Anfrage beim DRK Suchdienst hat eine weitere Information zutage befördert: ein Todesdatum. Dora Richter starb am 26. April 1966 in Allersberg. Im katholischen Pfarramt existiert ein Eintrag im Sterbe-Matrikel. Auf Anfrage heißt es, als Zeitpunkt der Beerdigung sei dort 10.30 Uhr am 29. April 1966 notiert. Sie starb als Rentnerin in einem Spital.

Auf dem Friedhof der Gemeinde geht es samstags durchaus geschäftig zu. Menschen pflanzen oder gießen Blumen, jäten Unkraut und wischen Schmutz von den Marmorplatten. Bekannte treffen sich und sind in Gespräche vertieft. Überall blüht es. Einzig das Grabfeld links der Kapelle fällt etwas aus dem Bild. Es hat mit Abstand die ältesten Ruhestätten, die zudem nicht besonders dicht beinander liegen. Familiengräber mit schweren Gedenksteinen oder Granitkreuzen an denen Flechten kleben. Hier wurde Dora Richter beigesetzt.

Doch das Grab existiert nicht mehr. Es wurde 1998 aufgelöst und an die Gemeinde zurückgegeben. Viele Inschriften auf den verwitterten Grabsteinen sind nur schwer zu entziffern. Kaum ein Sterbedatum reicht weiter zurück als 1970. Es ist in Allersberg wie in Berlin in der Motzstraße oder an der ehemaligen Beethovenstraße im Tiergarten, es ist wie in Ryžovna: Die Orte, an denen sich Dora Richters Leben abspielte, existieren eigentlich nicht mehr. Ihr Leben besteht aus Puzzleteilen. Einträgen in Datenbanken, die erst zusammen ein Bild ergeben. Clara Hartmann hat es zusammengefügt.

Ein paar Wenige im Ort erinnern sich

"Es ist schon ein bisschen komisch, dass das alles nicht bekannt war und ich das nebenbei in meiner Freizeit aufdecke", sagt sie. "Es gibt über die frühe trans* Geschichte noch wahnsinnig viel zu entdecken. Vieles schlummert in Archiven und wartet darauf, gehoben zu werden. Damit sollten sich eigentlich Forschende auf akademischer Ebene beschäftigen können."

Quelle: rbb/Oliver Noffke

Ein paar ältere Allersberger wollen sich an eine Dame und ihren Bruder erinnern. Die beiden hätten wie andere Vertriebene in Barracken am Ortsrand gelebt. Der Bruder sei für seinen Witz bekannt gewesen, wird erzählt. Und die Schwester wegen ihrer Handtasche. Darin habe immer eine Taube gesessen. Wie in einem Nest. Selten sei die Dame ohne die Tasche gesehen worden. Hin und wieder habe sie etwas Futter hineinfallen lassen, erzählen mehrere im Ort übereinstimmend. Außerdem sei Dora Richter oft gut gelaunt gewesen. Doch das sei ja lange her, heißt es immer wieder. Deswegen bleibt auch zweifelshaft, ob der Mann wirklich ein Bruder war.

Ihre Erkenntnisse will Clara Hartmann nun ordnen und mit detaillierten Angaben veröffentlichen. Sie hat noch deutlich mehr herausbekommen. "Eine Sammlung von Biografien wäre ein guter Platz, um von Doras Leben zu erzählen."

Dora Richter wurde 74 Jahre alt. Zum Zeitpunkt ihres Todes ein normales Sterbealter. Sie übertraf die durchschnittliche Lebenserwartung ihres Jahrgangs um Jahrzehnte. Überstand zwei große Kriege, die Umwürfe und Repressionen dazwischen sowie die Spanische Grippe, die Vertreibung aus ihrer Heimat, dazu revolutionäre Operationen. Sie war eine außergewöhnliche Frau und führte doch in vieler Hinsicht kein ungewöhnliches Leben.

Quelle: Magnus Hirschfeld Gesellschaft

Beitrag von Oliver Noffke

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