Interview | Zwangsverheiratung in den Sommerferien
In den Sommerferien steigt für zahlreiche Schülerinnen aus der Region das Risiko, im Herkunftsland ihrer Eltern zwangsverheiratet zu werden. Doch solche Ehen werden auch hier geschlossen. Elisabeth Gernhardt von Terre des Femmes klärt in Schulen auf.
Die Menschenrechtsorganisation "Terre des Femmes" rechnet damit, dass auch in diesem Jahr hunderte Mädchen in Berlin zwangsverheiratet werden. Eine Umfrage des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg hat ergeben, dass 2022 allein in Berlin rund 500 Kinderehen geschlossen worden sind. "Terre des Femmes" vermutet, dass die Zahl höher liegt - es fehlen aber belastbare Zahlen. Ein Interview mit Elisabeth Gernhardt, Referentin bei "Terre des Femmes".
rbb|24: Hallo Frau Gernhardt. Was genau ist eine Zwangsheirat, was ist keine?
Elisabeth Gernhardt: Es ist von außen sehr schwer zu unterscheiden, ob eine Person unter Zwang geheiratet hat oder ob es sich beispielsweise "nur" um eine arrangierte Ehe handelt. Bei einer Zwangsheirat wurde die Person beispielsweise unter Einwirkung von Gewalt, Drohungen oder Erpressungen zu einer ehelichen Verbindung gezwungen. Es kann aber auch einfach das Gefühl der betroffenen Person sein, dass ein Nein gar nicht akzeptiert werden würde oder sie gar nicht erst gefragt wurde.
Weil es als Außenstehende sehr schwer ist, das einzuschätzen, gilt für uns immer die Betroffenenperspektive. Für Terre des Femmes ist auch jede Frühehe, also Eheschließung von Personen unter 18 Jahren, eine Zwangsheirat. Denn Minderjährige befinden sich in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern.
Sie haben jetzt von betroffenen Personen gesprochen. Sind von Zwangsverheiratungen alle Geschlechter gleichermaßen betroffen? Und in welchem Alter geht das los?
Von Früh- und Zwangsverheiratungen sind hauptsächlich Mädchen und Frauen betroffen. Unicef spricht von weltweit 640 Millionen Frauen, die unter 18 Jahren verheiratet wurden. Jedes Jahr kommen 12 Millionen Mädchen hinzu.
Für Mädchen steigt das Risiko für eine Zwangsverheiratung mit Beginn der Pubertät. Bei den Zehn- bis Zwölfjährigen haben wir die ersten Fälle. Das hat auch eine Umfrage aus Berlin ergeben. Bei Jungen ist das laut dieser aktuellen Umfrage etwas später der Fall. Sie sind eher 16 oder 17 Jahre alt. Für uns ist es eine Menschenrechtsverletzung - egal welches Geschlecht oder welche Identität die Personen haben.
Zehn bis zwölf Jahre alt sind die Mädchen dann nicht nur, wenn eine Zwangsheirat droht - sie werden in diesem Alter Umständen also auch schon verheiratet?
Ja, und das passiert auch in Deutschland und auch hier in Berlin. Der Arbeitskreis gegen Zwangsheirat hat vergangenes Jahr eine Umfrage bezogen auf das Jahr 2022 in Berlin veröffentlicht. Befragt wurden Beratungsstellen, Schulen, Jugendämter und andere Behörden. Der jüngste Fall betraf Mädchen in der Altersgruppe von zehn bis zwölf Jahren. Eine der entdeckten Zwangsheiraten war sogar vollzogen, drei waren konkret geplant und fünf waren befürchtet.
Das heißt, nicht alle von Zwangsheirat Betroffenen werden in die Herkunftsländer ihrer Eltern verschleppt?
Genau. Aber es fehlen uns da leider zuverlässige Daten. Wir fordern seit vielen Jahren eine Studie zu diesem Thema. Wir gehen schon davon aus, dass vor allem Mädchen und junge Frauen ins Herkunftsland der Eltern verschleppt werden - vor allem in den Sommerferien. Aber es besteht das ganze Jahr über für sie die Gefahr, dort verheiratet zu werden. Viele verbleiben dann auch dort. Ihnen werden oft die Pässe und das Handy weggenommen und jede Kommunikationsmöglichkeit nach außen unterbunden.
Wir wissen aber auch - das hören wir auch von Lehrkräften und SchulsozialarbeiterInnen, dass viele informelle Eheschließungen in Deutschland stattfinden. Informell heißt, sie haben keine Rechtskraft in Deutschland. Sie sind also nicht vor dem Standesamt - was für Minderjährige auch seit 2017 verboten ist - geschlossen worden. Die Betroffenen werden dann aber trotzdem in Zeremonien verlobt oder verheiratet.
Aus welchen Ländern kommen die Betroffenen hauptsächlich?
Meistens geht es um Länder, die streng patriarchal sind. In denen ist die Ungleichberechtigung also besonders hoch und Frauen gelten mitunter als "weiger wert". Das ist aber ein globales Problem, das sich nicht auf einen bestimmten Kreis an Ländern bezieht.
Was erleben Sie bei der Arbeit mit den Kindern in den Schulen? Richtet die sich vor allem an die Mädchen selbst oder auch an Freunde, Brüder und Cousins?
Wir richten uns in unserer Präventionsarbeit an alle. Denn es geht um Menschenrechtsverletzungen, die uns alle - auch die Gesellschaft - angehen. In der "Weißen Woche" gehen wir in die Klassen. Die Schülerinnen und Schüler wissen nicht, dass wir kommen. Wir wollen uns nicht nur an die Bedrohten und Betroffenen richten. Das möchten wir auch gar nicht abfragen.
Unser Ziel ist der Multiplikator-Ansatz. Wir sagen den Schülern, dass es ja auch sein kann, dass sie durch eine Mitschülerin, eine Freundin oder in ihrem späteren Berufsfeld auf das Thema treffen. Dann wissen sie, wie sie helfen können.
Worüber genau klären sie die Jugendlichen auf?
Gerade jetzt vor den Sommerferien weisen wir auf typische Warnzeichen hin. Dazu gehören Andeutungen über eine bevorstehende große Feier. Wenn man aufmerksam wird, kann man prüfen, wie viele Hin- und Rückflugtickets für die Reise gekauft wurden und ob die Anzahl identisch ist. Ein Warnzeichen für außenstehende Personen kann auch die Beobachtung sein, dass ein Mädchen nie an außerschulischen Aktivitäten teilnehmen darf, sie gebracht und geholt und insgesamt immer sehr stark von der Familie kontrolliert wird. Da kann man im Schulkontext das Gespräch suchen mit dem Mädchen. Wir sagen den Lehrkräften, dass sie in solchen Fällen niemals die Eltern kontaktieren sollen. Denn das kann das Mädchen zusätzlich gefährden.
Wer ins Vertrauen gezogen wird von einer betroffenen Person, der kann auf Fachberatungsstellen hinweisen. Wir listen diese auf "zwangsheirat.de" [Externer Link] auch bundesweit auf. Dort kann man sich anonym beraten lassen. In Berlin hat außerdem jede Schule SchulsozialarbeiterInnen. Die haben auch eine Schweigepflicht, was viele nicht wissen.
Sie haben gesagt, wenn Familien Mädchen auffallend isolieren, könnte das ein Warnzeichen sein. Inwiefern?
Das hat ganz viel mit patriarchalen Strukturen und der sogenannten Familienehre zu tun. In diesen Strukturen ist es ganz wichtig, dass ein Mädchen jungfräulich in die Ehe geht. Damit ist der Beginn der Pubertät ein heikler Zeitpunkt. Denn es könnte ja das Gerücht aufkommen, die Tochter hätte vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt. Deshalb werden die Mädchen oft sehr stark kontrolliert auf vermeintliches Fehlverhalten. Da kann es um so harmlose Vorfälle wie ein Gespräch mit einem Jungen auf dem Schulhof oder vielleicht das Gerücht eines Kuss gehen. Schon das kann die Familienehre verletzen.
Manchmal sieht sich die Familie dann zu schnellem Handeln gezwungen und eine Zwangsverheiratung ist eine Möglichkeit, das wieder in "geordnete Bahnen" zu lenken.
Was ist ihre Empfehlung, wenn Lehrer oder Schulsozialarbeiter Sorge haben, jemand könnte von Zwangsheirat betroffen oder bedroht sein?
Wir empfehlen, im Unterricht für Sprechanlässe zu sorgen. Beispielsweise Menschenrechte zu behandeln und dann auch auf das Thema Zwangsheirat einzugehen. Denn wir gehen davon aus, dass viele Betroffene wirklich nur zur Schule gehen dürfen und ansonsten sehr stark kontrolliert werden. Das heißt, die Schule als Ort sich Hilfe zu holen oder informiert zu werden, ist unfassbar wichtig. Hier kann auch auf die anonymen Beratungsstellen hingewiesen werden. Auch dritte Personen können sich hier informieren, wie sie vorgehen könnten.
Man kann auch das Gespräch unter vier Augen mit dem Mädchen suchen und seine Bedenken äußern. Aber nichts ohne die Zustimmung derjenigen unternehmen.
Und wenn es zu spät ist, und ein Mädchen befindet sich schon im Ausland?
Im Rahmen der Weißen Woche betonen wir immer wieder, dass es am besten ist, nicht mitzufliegen, wenn jemand ein ungutes Gefühl hat. Falls es sich nicht verhindern lässt, sollte man nicht unvorbereitet gehen. Wir empfehlen, dann vorher eine eidesstattliche Erklärung zu unterschreiben, dass man vorhat, zurückzukommen. Sich ein Prepaid-Handy zu besorgen kann auch gut sein oder eine andere Kontaktmöglichkeit, von der die Familie nichts weiß. Gut ist auch Passkopien in Deutschland bei einer Vertrauensperson zu hinterlassen. Aber all das ist keine Garantie, dass man zurückgeholt werden kann. Besitzt jemand nicht die deutsche oder doppelte Staatsbürgerschaft, ist es besonders schwierig, die Mädchen zurückzuholen.
Es gibt eine Stelle zum Schutz vor Verschleppung und Zwangsverheiratung in Berlin namens Papatya [papatya.org]. An sie kann man sich dann wenden - wenn man überhaupt eine Kontaktmöglichkeit nach außen hat.
Als letzten Tipp geben wir den Mädchen mit, dass der Flughafen in Deutschland ihre letzte Möglichkeit ist, sich hier Hilfe zu holen. Es gibt den Trick, sich einen Metall-Löffel in die Unterhose zu stecken. Dann geht an der Sicherheitskontrolle der Alarm los. In dem Moment könnte man noch sagen, dass man Hilfe braucht, wegen einer befürchteten Zwangsverheiratung.
Können die Betroffenen sich denn im Regelfall verweigern, ohne komplett mit ihren Familien zu brechen?
Davor haben ganz viele Mädchen Angst. Denn das ist ein großes Spannungsverhältnis. Einerseits möchten sie ihr eigenes Leben leben - sie sehen ja auch wie ihre Freundinnen und Mitschülerinnen aufwachsen. Andererseits möchten sie ihre - trotz allem geliebte - Familie nicht enttäuschen oder verraten. Für viele fühlt sich das wie Verrat an, wenn sie sich Hilfe holen.
Es gibt anonyme Schutzeinrichtungen, in denen auch minderjährige Mädchen unter therapeutischer Betreuung zur Ruhe kommen können. Sie können dann herausfinden, was sie für sich wollen. Viele von ihnen, wohl fast 50 Prozent, gehen zurück zu ihrer Familie.
Vielen Dank!
Das Interview führte Sabine Priess.
Sendung: Radioeins, 11.06.2024, 09:50 Uhr
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