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Video: ARD-Mediathek - Welcome to Berlin! | 13.06.2024 | Quelle: rbb/Stoye

Welcome to Berlin | Russisches Paar

"Wir haben endlich angefangen, unser Leben zu leben, ohne Angst zu haben"

Vor einem Jahr sind Sergej und Evgeny nach Berlin gezogen. Sie wollten ohne Scham und Ängste zusammen sein können. In Moskau wussten nur ihre engsten Freunde, dass sie ein Paar sind. Hier ist das anders. Wie empfinden sie die Unterschiede?

Berlin wächst. 2023 sind rund 28.000 Menschen nach Berlin gezogen - aus den unterschiedlichsten Gründen. Für viele ist die Stadt ein Sehnsuchtsort. Sie wollen sich hier einen Traum erfüllen: von einer Karriere, einem neuen Leben, von Freiheit. rbb|24 fragt: Wer sind sie - und wie ist es ihnen ergangen?

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Welcome to Berlin ‧ Neu in der Stadt

Zum Beispiel: Sergej (42) und Evgeny (34) aus Russland. Sie lernen sich 2010 kennen – einer in Moskau, der andere 800 Kilometer weit weg in Kirov. Elf Jahre lang führen sie eine heimliche Beziehung, bis Sergej Evgeny drängt, das Land zu verlassen. 2021 ziehen die beiden erst nach Montenegro, dann nach Moldavien. Seit Oktober 2023 ist Berlin ihr neues Zuhause.

Beide sind mit einem Arbeitsvisum gekommen. Evgeny ist selbständiger Finanzberater. Sergej ist eigentlich Kulturmanager. In Berlin arbeitet er als Hausmeister für Quarteera, einen Verein, der russischsprachige Menschen der LGBTQ+-Community unterstützt.

Evgeny: Vor ein paar Wochen habe ich angefangen, eine Liste von Gründen zu machen, auf der steht, warum ich nach Berlin gezogen bin. Ganz oben steht, dass ich mich innerlich freier fühlen möchte. Ich bin in Russland in einer sehr konservativen Familie groß geworden, deshalb ist das nicht so leicht für mich. Ich habe mich manchmal sogar selbst dabei erwischt, dass ich Angst davor hatte, auch nur über bestimmte Dinge nachzudenken - zum Beispiel darüber, wie ich meine Freizeit verbringen möchte.

Als ich nach Berlin kam, hatte ich mir fest vorgenommen, Dinge zu tun, die ich nie zuvor getan hatte. Man hört so viel davon, dass Berlin wie ein heiliger Ort für Leute aus der ganzen Welt ist. Ich bin zwar kein Techno-Fan, aber ich wollte unbedingt sehen, wie diese Menschen auf Techno-Partys Spaß haben und wie sie sich selbst ausdrücken, das ist für mich eine wichtige Erfahrung. Ich möchte diese Erlebnisse von Freiheit auf diese Weise irgendwie in mich selbst injizieren.

Sergej: Ich habe zehn Jahre lang in Moskau gelebt. Es ist eine Stadt, die wie eine Straßenwalze über die Menschen rollt. Die Möglichkeit, die eigene Identität zu bewahren, ist ziemlich gering. Sich selbst zu bewahren, ist nur außerhalb dieses Landes möglich. Das war wahrscheinlich die wichtigste Motivation, nach Berlin zu kommen: die Atmosphäre zu verändern, um mich nicht zu verlieren.  

Für mich steht an erster Stelle das Recht auf freie Meinungsäußerung, aber auch die Sicherheit für LGBT-Personen und die Verantwortung für das eigene Handeln. Das ist mir sehr wichtig.

Vielleicht ist das eine Besonderheit der russischen Erziehung, vielleicht auch der russischen Literatur: Alles basiert darauf, dass man ständig zweifeln muss, Unzufriedenheit spüren muss. Das ist alles, was man über Dostojewski und Tolstoi lernen muss. Mir ist das fremd. Ich möchte nicht in einer Atmosphäre der Aggressivität, des Misstrauens und der Unsicherheit leben, die in Russland so geschätzt wird. 

Menschen in Berlin klarzumachen, was gerade in Russland passiert, ist schwer. Hier gibt es den Nollendorfplatz und andere Stadtteile, wo es eine halbe Million Pride-Paraden gibt. Menschen können sich an den Händen halten und küssen. Es ist fast unmöglich zu erklären, dass man in Russland für all das, was hier als normal und natürlich gilt, mit zwölf Jahren Haft bestraft werden kann. 

Welcome to Berlin | Stand-Up-Comedienne

"In Berlin lerne ich, ein dickeres Fell zu bekommen und nicht mehr so naiv zu sein"

Larissa ist Stand-Up-Comedienne. Ihr großes Thema auf der Bühne wie im Leben ist ihr Single-Dasein. Vor sechs Jahren ist sie vom Rheinland nach Berlin gezogen: Die Stadt soll zum Neuanfang für sie werden. Hat das geklappt?

Evgeny: Es ist das erste Mal, dass wir überhaupt öffentlich darüber sprechen. In Moskau wussten natürlich unsere engsten Freunde, dass wir als Paar zusammenleben. Aber in Moskau konnten wir nicht einfach eine Wohnung mieten und sagen: Das bin ich und das ist mein Lebenspartner. Wir mussten uns irgendwelche Märchen ausdenken und behaupten, wir seien Brüder oder Cousins.

Aber eine Wohnung in Berlin zu finden, ist ein Abenteuer. Dafür braucht man ja einen Schufa-Nachweis. Wer keine deutsche Staatsbürgerschaft hat, bekommt den aber nicht. Deswegen mussten wir Anbieter wie "Wunderflats" nutzen.

Es ist nicht leicht, die Berliner Mieten bezahlen zu können. Unsere Wohnung ist 42 Quadratmeter groß, möbliert und wir bezahlen 1.600 Euro pro Monat. Aber da ist dann alles drin: Strom, Internet, Wasser. Dazu kommt aber noch die Kaution von 3.300 Euro. Allen, die nach Berlin kommen wollen, würde ich raten, einzukalkulieren, dass man ganz schön viel Geld mitbringen muss, um eine Kaution hinterlegen zu können. Also, es ist alles andere als günstig. Als meine Freunde in Moskau davon erfahren haben, wieviel Miete wir zahlen, waren sie schockiert. Aber was sollen wir machen? Ich hoffe, dass wir uns das alles in Zukunft weiterhin leisten können.

In Russland haben wir immer an den großen politischen Aktionen und Protesten teilgenommen. Und es war immer gefährlich. Wir wussten nie, ob wir wieder nach Hause kommen oder festgenommen werden. Es war immer wie ein 15-Kilometer-Lauf. Du spürst einen unheimlich Adrenalinrausch, aber gleichzeitig das Risiko. Hier hat sich das anders angefühlt, überhaupt nicht riskant. Die Polizei ist auf den Demos nicht da, um einen zu unterdrücken oder zu verängstigen. Sie ist da, um einen selbst und alle anderen zu beschützen.

Sergej: Die Demos in Berlin sind für mich ein Gefühl der Reminiszenz an die Vergangenheit. Als wir 2017, 2018 mit solchen Methoden auf den Straßen und Plätzen Russlands kämpfen konnte. In Putins Russland wird politische Aktivität als Extremismus bezeichnet. Und die Wahrheit über den Krieg wird als Diskreditierung der Armee bezeichnet. Für mich ist die Hoffnung auf einen Wandel zum Besseren in Russland noch Jahrzehnte weit weg. Andere hoffen auf Veränderungen in den nächsten Jahren. Aber mir ist klar, dass es nicht so schnell passieren wird. Und man muss viel Geduld aufbringen. Wobei nicht alle Leute zehn Jahre Zeit haben.

Quelle: rbb/Thomas Ernst/ picture alliance/ imago

Seit März helfe ich manchmal einem Bekannten in seinem Laden am Nollendorfplatz. Das ist ein Geschäft für Fetischkleidung für Männer. In Russland nennt man so etwas Intimladen. Man findet hinter einem Vorhang ein paar wenige Kleidungsstücke. Es ist ziemlich versteckt und geheimnisvoll. In Berlin ist es ein Teil des normalen menschlichen Lebens, nicht nur des Sexuallebens nicht nur der queeren Community. Für mich ist das nicht nur ein Schritt, sondern wie ein Sprung über eine riesige Kluft. Hätte ich gedacht, dass ich das jemals tun würde? Nein, das hätte ich natürlich nie gedacht. In Russland würde ich wahrscheinlich eher versuchen, mich auf jede erdenkliche Weise von diesem Thema zu distanzieren. Aber nachdem ich jetzt einige Zeit in Berlin gelebt habe, weiß ich, dass das nicht als etwas Verbotenes und Sündhaftes behandelt wird, sondern wie eine normale menschliche Ausprägung. Dadurch wird der Mensch zu dem, was er ist.

Wenn ich Berlin wieder verlassen müsste, würde ich die Möglichkeiten vermissen, die diese Stadt bietet: von klassischer Musik bis hin zu Sexparties. Ich bin überzeugt, dass in Berlin jeder seinen Platz finden kann.

Gesprächsprotokoll: Stefanie Stoye
Originalsprache Englisch und Russisch
Übersetzung Russisch-Deutsch: Alina Ryazanova

 

Sendung: ARD-Mediathek - Welcome to Berlin, 12.06.2024

Beitrag von Stefanie Stoye

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