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Audio: rbb|24 | 02.07.2024 | O-Ton aus dem Interview mit Martin Gött | Quelle: dpa/Felix Kästle

Interview | Minderjährige Geflüchtete

"Während der Flucht widerfährt Kindern und Jugendlichen sehr viel Illegales und Traumatisierendes"

Sie haben Gewalt erlebt, Missbrauch, manchmal sogar Folter - viele Minderjährige, die nach dramatischen Fluchtwegen irgendwann hier ankommen, leiden unter teils komplexen Traumatisierungen. Doch nur wenigen wird geholfen.

rbb|24: Herr Gött, Trauma ist ein Begriff, der inzwischen fast inflationär benutzt wird. Was ist ein echtes Trauma?

Martin Gött: Der Begriff Trauma an sich heißt erstmal Wunde. Das Wort wird weitverbreitet eingesetzt mittlerweile, das stimmt. Für meine Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen finde ich das nicht hinderlich. Es herrscht im Gegenteil relativ wenig Wissen über Traumatisierungen und deren Auswirkungen. Durch die weitverbreitete Nutzung des Begriffs gibt es inzwischen viel mehr gutes Info-Material, das den Begriff Trauma niedrigschwellig erklärt und zugänglich macht.

Zur Person

Martin Gött

Können Sie erklären, inwiefern ein Trauma eine Wunde ist?

Wir nutzen in der Praxis tatsächlich oft das Bild einer Wunde für eine Traumatisierung. Wir erklären Kindern und Jugendlich meist, dass es mit einem Trauma ein bisschen so ist, als hätte man sich mit einem Messer geschnitten: Da gibt es eine Wunde, die verheilen muss. Sie soll also weniger schmerzhaft werden und nicht aufgehen. Aber eine Narbe wird zurückbleiben, die immer präsent bleiben wird. Aber diese soll sich im besten Fall nicht entzünden. Mit diesen Bildern arbeiten wir, wenn wir ein Trauma erklären.

Sie erläutern also, dass es sich nicht um tatsächliche, sondern um psychische Wunden handelt?

Ja. Denn das ist vielen nicht so klar. Wenn junge Menschen zu uns kommen, die Schlaf- oder Konzentrationsstörungen haben, oder vielleicht mit aggressivem auto- oder selbstverletzendem Verhalten, ist ihnen oft nicht klar, wo das herkommt. Deshalb erklären wir ihnen, dass sie etwas erlebt haben, was sie verwundet hat. Und am Vernarbungsprozess dieser Wunde arbeiten wir gemeinsam.

Es gibt unterschiedliche Formen von Traumatisierung. Kommen denn die geflüchteten Kinder und Jugendlichen mit derselben Art von Trauma zu Ihnen?

Zur Erklärung: es gibt einmal das Mono-Trauma. Da handelt es sich um eine einmalige Traumatisierung. Dazu zählen oft Unfälle - also einmalige Ereignisse.

Und dann gibt es noch wiederkehrende Traumatisierungen und auch komplexe Traumatisierungen. Davon spricht man, wenn jemand immer wieder, auch von Kleinkind an, durch etwaige Vernachlässigungen oder Gewalterfahrungen, traumatischen Erlebnissen ausgesetzt war. Oft ist es so, dass geflüchtete Menschen aus Gebieten kommen, in denen Krieg herrscht. Ihr Fluchtweg ist häufig voller Gewalterlebnisse. Und selbst das Ankommen hier kann traumatisch sein. Die Menschen haben die Erwartung, an einen sicheren Ort zu kommen, und landen dann vielfach mit unsicherem Aufenthaltsstatus in einer Gemeinschaftsunterkunft. In solchen Fällen spricht man von komplexer Traumatisierung. Also wenn viele Ereignisse zu einem Konglomerat von Traumatisierung führen. Man arbeitet dann nicht an einem Vorfall, sondern an verschiedenen schmerzhaften und verletzenden Ereignissen, die an verschiedenen Zeitpunkten in der Lebenslinie des Jugendlichen stattfanden.

Wie finden die Kinder und Jugendlichen zu Ihnen?

Wir bieten Psychotherapie und soziale Arbeit. Überwiegend betreuen wir unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die ihren Weg vielfach über die Jugendhilfe zu uns finden. Sie sind also beispielsweise in einer Wohngruppe untergebracht und ihre Betreuerinnen oder Vormünder rufen uns an. Oder es melden sich Lehrer oder Sozialarbeiterinnen. In leider selteneren Fällen handelt es sich um Familienkinder. Denn die Kinder, die mit ihren Familien hier ankommen, landen nicht direkt in der Jugendhilfe, sondern in einer Gemeinschaftsunterkunft. Von da ist der Weg sehr viel schwieriger. Und weniger Menschen wissen, dass es Angebote wie unseres gibt. Aber man kann sich in unserer Telefonsprechstunde melden, die zwei Mal in der Woche stattfindet.

Viele der betroffenen Kinder werden also nicht von Familienmitgliedern emotional aufgefangen mit ihrem Trauma?

Ungefähr zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen, die wir betreuen, sind unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die keine Bezugspersonen außer den Betreuern in der Wohngruppe oder etwaigen Einzelfallhelfern haben. Die meisten haben wenig bis kein soziales Netz und werden kaum aufgefangen. Sie haben aber den Vorteil, dass sie immerhin über die Jugendhilfe in einer geregelten Betreuung sind, ein eigenes Zimmer haben, die Schule besuchen und krankenversichert sind. Das klappt in Berlin sehr gut.
Kinder, die mit ihren Familien hier ankommen, haben oft einen hohen Hilfebedarf, werden aber weniger gesehen. Weil man davon ausgeht, dass dafür die Eltern da sind. Aber oft sind auch die sehr belastet und merken gar nicht, wie schlecht es ihren Kindern geht. In den Unterkünften gibt es wenig Personal, sodass kaum jemand die Kapazität hat, auf die Kinder zu schauen. Sie gehen da leider sehr oft unter und kriegen viel zu spät Hilfe.

Durch welche Art von Erlebnissen im Fluchtkontext entsteht eine Traumatisierung?

Es gibt verschiedene Fluchtrouten. Und von denen hängt auch ab, was die Kinder und Jugendlichen erleben. Viele Geflüchtete aus der Subsahara erzählen uns, dass sie durch Libyen flüchten mussten. Wie schlimm die Zustände dort sind, ist hinlänglich bekannt. Fast alle, die von dort zu uns kommen, sind schwer traumatisiert. Viele wollten nie auf den Seeweg und wurden mit Waffengewalt in ein Boot gezwungen. Nachdem sie dort über Monate als Arbeitssklaven in Käfigen ohne Dach gehalten wurden. Das berichten uns viele der jungen Menschen.
Von den anderen Fluchtrouten gibt es meist nicht die schweren Folterberichte, sondern es geht viel um Gewalterfahrungen an den Grenzübergängen. Um Schläge und um wochenlange Gefängnisaufenthalte. Junge Menschen finden auf allen Fluchtrouten keinen Schutz. Viele werden älter geschätzt und als Erwachsene behandelt. Dabei sind sie in der Realität erst 15 oder 16 Jahre alt. Während der Flucht widerfährt ihnen sehr viel Illegales und Traumatisierendes. Viele berichten uns, dass sie die Flucht nie angetreten hätten, wenn sie gewusst hätten, was ihnen auf dem Weg passiert.

In welchem Alter sind die Kinder und Jugendlichen, die Sie betreuen?

Wir betreuen Kinder und Jugendliche von etwa fünf bis 21 Jahren. So lange gilt es auch als Krankenkassen-Leistung. Überwiegend haben wir jugendliche Patienten hier. Der jüngste Patient, den wir behandelt haben, war ein schwer belasteter drei Jahre alter Junge. Er ist gemeinsam mit seiner Mutter, die auch traumatisiert war, geflüchtet und bei der Überfahrt über das Mittelmeer fast ertrunken, weil er ins Wasser gefallen war. Da haben wir erst Mutter und Kind gemeinsam hier gehabt und am Ende auch mit dem Jungen alleine gearbeitet. Das ist dann in der Therapie sehr spielerisch. Da geht es um Entlastung und darum, einem Kind Sicherheit durch eine sichere Beziehung anzubieten. Mit kleinen Kindern geht es nicht darum, die Traumatisierung aufzuarbeiten.

Wie arbeiten Sie insgesamt?

Das hängt immer auch vom jeweiligen Therapeuten und seinem oder ihrem Hintergrund ab. Manche arbeiten tiefenpsychologisch, andere verhaltenstherapeutisch. Zudem kommen unterschiedliche therapeutische Methoden zum Einsatz. Fast immer ist kognitive Verhaltenstherapie mit im Spiel. Also das Reden über das Trauma - sofern es möglich ist. Das ist immer eine Entscheidung, die die Patienten treffen. Wir machen viel Lebenslinien-, also rückblickende Arbeit mit den jungen Menschen. Das klappt relativ gut.
Parallel bieten wir viele körperliche Angebote an, das ist insgesamt ein Prozess von zwei, drei Jahren. Eine Traumatisierung äußert sich nämlich immer auch körperlich in Form von Schmerzen oder ähnlichem. Da helfen dann Entspannung, Muskelrelaxation oder Aufmerksamkeitsübungen. Zudem gibt es gemeinsame Gruppenaktivitäten wie Grillnachmittage oder Ausflüge. Aktuell haben wir mehrere junge Geflüchtete, die Schwimmtraining machen, weil sie sich nach ihren oft schlechten Erfahrungen auf der Überfahrt ihrer Angst vor dem Wasser stellen und schwimmen lernen wollen.

Das klingt, als sei auch ein komplexeres Trauma durchaus heilbar?

Da stellt sich immer die Frage, was Heilung in diesem Kontext heißt. Wir sagen immer, dass die Patienten mit großem Leidensdruck zu uns kommen. Sie können beispielsweise nicht schlafen, nur schlecht essen oder haben andere Symptome. Wir beginnen also damit, nach den Ursachen dafür zu suchen. Im weiteren Verlauf versuchen wir, die Symptomatik zu minimieren. Wenn jemand wieder besser schlafen, geregelt zur Schule gehen kann, haben wir schon Ziele erreicht.

Heilung ist ein so großer Begriff. Die traumatischen Erlebnisse der Menschen werden durch die Behandlung ja nicht gelöscht. Die Erinnerung daran wird bleiben und auch immer wieder hochkommen. Das sind dann die sogenannten Trigger. Also Auslöser wie Gerüche, Geräusche oder etwas, was man sieht. Dann kommt das Trauma wieder hoch. Es entsteht Stress, viele der Patienten schwitzen oder zeigen dissoziatives – also wie weggetretenes – Verhalten. Das passiert den Patienten immer wieder und darüber muss man sie auch aufklären.

Sie haben jetzt schon ein paar Symptome genannt, die typisch für traumatisierte Menschen zu sein scheinen. Woran erkennt man noch, dass jemand traumatisiert ist?

Ich würde sagen: im Alltag gar nicht. Ein Trauma ist etwas, was man ein Stück weit erfragen muss. Aber es gibt auch immer wieder aufmerksame Lehrer und Lehrerinnen oder Sozialarbeiter und Psychologinnen im Jugendhilfebereich, die das im Alltag feststellen können.
Aber ein Anzeichen kann sein, wenn Kinder und Jugendliche in der Schule wegdriften. Ein Hinweis ist auch, wenn sie dauerhaft ein hohes Stresslevel haben, also dauernd unter Anspannung sind. Viele traumatisierte Menschen haben eine hohe Herzfrequenz, sind übererregt und immer in Alarmbereitschaft. Dazu gehören auch schnelle Wutausbrüche und impulsives Verhalten. Genau wie Schlafstörungen, Albträume und nächtliche Gedankenspiralen. Es gibt ein ganzes Spektrum von Symptomen bis hin zum Dissoziieren. Da sitzen junge Menschen über Stunden hinweg in ihrem Zimmer und sind nicht ansprechbar. Wenn man sie fragt, was sie gemacht haben, sagen sie, sie hätten über nichts nachgedacht und nichts gemacht. Sie waren wie in einem Schwarzen Loch.

Ich habe Ihren bisherigen Schilderungen entnommen, dass sehr viele Menschen im Fluchtkontext mit schweren Traumatisierungen hier ankommen. Was schätzen Sie, wie viele sind betroffen?

Es gibt dazu immer wieder Untersuchungen. Sie zeigen, dass von den Menschen, die hier ankommen, etwa ein Drittel mit Diagnose traumatisiert sind und Behandlung bräuchten. Doch nur sehr wenige – 2022 waren es nur etwa drei Prozent - kommen dann auch in Behandlung. Um mehr zu behandeln, fehlt es an Therapieplätzen und Personal. Eines der großen Probleme ist auch die Sprachmittlung. Daher arbeiten niedergelassene Psychotherapeuten in der Regel auch nicht mit Geflüchteten.

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Wenn so viele Menschen mit behandlungsbedürftigem Trauma keine Hilfe bekommen – laufen sie dann quasi als Zeitbomben durch die Gegend?

Zeitbombe ist da vielleicht das falsche Wort. Man kann aber davon ausgehen, dass es Menschen sind, bei denen sich ihre psychische Krankheit chronifizieren kann. Begleiterscheinungen sind neben den schon genannten auch Depressionen, Angststörungen und sozialer Rückzug. Wer damit über Jahre nicht behandelt wird, dem ist am Ende viel schwieriger zu helfen. Alles was da an früher Behandlung verloren wird, muss später mit viel mehr Aufwand und viel mehr finanziellen Mitteln nachgeholt werden.

Das heißt, die fehlende Prävention führt zu eine Art Kostenlawine zu späterem Zeitpunkt?

Ja, das gilt für den Kinder- und Jugendhilfebereich allgemein. Das fängt jschon bei den Offenen Jugendzentren an. Wer nicht im Jugendalter aufgefangen oder therapiert wird, wird als Erwachsener deutlich mehr Kosten verursachen. Wobei unsere Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen ja nicht präventiv ist. Da geht es um akut nötige Hilfe, die nicht stattfindet.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

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