Jubiläum in Berlin
Erst 40 Jahre nach Erfindung der Elektro-Lok begann die Bahn, sich in Berlin von der Dampflok zu verabschieden. Aus Anlass des 100. S-Bahn-Jubiläums zeigt das Deutsche Technikmuseum jetzt eine Original-S-Bahn von 1924. Von Frank Drescher
Kaum eine Minute ohne Zugverkehr am Bahnhof Alexanderplatz: S-Bahnen, Regionalzüge und ICEs rollen von früh bis spät auf vier Gleisen. Vor 100 Jahren war dort schon ähnlich viel Verkehr, allerdings langsamer, lauter - und wolkiger: Jeder Zug zog eine riesige Fahne aus Wasserdampf und Rauch hinter sich her und vernebelte die Umgebung. Unmengen Ruß wirbelten durch die Luft und schwärzten die Fassaden.
"Es war ein großes Argument, dass die Luftverschmutzung deutlich abnehmen würde durch die Elektrifizierung", sagt Peter Schwirkmann, Abteilungsleiter Sammlungen und Ausstellungen im Deutschen Technikmuseum, das anlässlich des 100-jährigen S-Bahn-Jubiläums drei Bahnwagen aus dieser Zeit in der Sonderschau "Besser, schneller, elektrisch. Die Anfänge der Berliner S-Bahn" präsentiert.
Im frühen Industriezeitalter vervierfachte sich Berlins Bevölkerung, von rund 250.000 Einwohnern im Jahr 1830 auf mehr als eine Million 1877. Die Eisenbahn machte diese Entwicklung erst möglich: Zwischen 1838 und 1875 entstanden die wichtigsten Fernstrecken ab Berlin. Über sie konnte die Industrie ihre Waren schnell abtransportieren. Deren Arbeitskräftebedarf lockte massenhaft Landbewohner.
Doch das damalige Berlin umfasste nur wenig mehr als die heutigen Bezirke Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Die berüchtigten Mietskasernen entstanden, die Wohnungsnot grassierte. Im damaligen Umland, also Orten wie Schöneberg, Lichtenberg oder Reinickendorf, war dagegen noch Platz. Um Arbeiter, die sich dort ansiedelten, zügig zu ihren Betrieben zu befördern, lag es nahe, das Bahnnetz weiterzuentwickeln. An den Fernstrecken entstanden zusätzliche Bahnhöfe in der näheren Umgebung Berlins. Viele erhielten zusätzliche Gleise für den Vorortverkehr, um die Fernzüge nicht auszubremsen.
Zur Anbindung von Nachbarstädten wie Charlottenburg und Vororten wie Rixdorf entstanden neu die Ringbahn 1877 und die Stadtbahn 1882. Die erfreuten sich großer Beliebtheit: Schon 1906 fuhren 170 Millionen Passagiere mit den Stadt-, Ring- und Vorortbahnen - ein Drittel des Beförderungsvolumens der Berliner S-Bahn von 2023.
Im Jahr 1924 sah die Bahn schon einmal ziemlich alt aus: Die Technologie der Dampfzüge war mehr als 100 Jahre alt. Dabei gab es seit der Erfindung der Elektro-Lok 45 Jahre zuvor schon längst etwas Neues, das sich außerdem seit über 30 Jahren bei der Straßenbahn und seit über 20 Jahren bei der U-Bahn bewährt hatte.
Die preußische Staatsbahn hingegen experimentierte ab 1900 mit Stromschienen und Oberleitungen. Erkenntnisse daraus bescherten zwar Hamburg eine elektrische Vorortbahn, aber in Berlin blieb es bis 1924 bei den Versuchen. Das lag nicht nur am Ersten Weltkrieg und der Zeit der Hyperinflation danach. "Das Eisenbahnnetz ist ja ungleich größer als ein kommunales Straßenbahnnetz", erklärt Peter Schwirkmann vom Deutschen Technikmuseum.
Hinzu kam: Die preußische Staatsbahn beschäftigte sich jahrelang mit technischen Grundsatzfragen: Gleichstrom oder Wechselstrom? Vorhandenes Wagenmaterial weiterverwenden oder komplett neue Züge bauen? Mit jeder Entscheidung waren Vorteile, Nachteile und Folgekosten verbunden. "Und dann musste man schließlich auch noch die Frage klären, auf welche Weise eigentlich angetrieben werden sollte: Mit einer elektrischen Lokomotive, mit einem Triebgestell, das man einfach nur unter vorhandene Wagen stellt und oder eben dann mit dem modernen Triebwagen-Steuerwagen-Beiwagen-Konzept", so Schwirkmann.
Die 1920 gegründete Reichsbahn entschied sich für das Konzept, das auf ihrem langlebigsten, von der preußischen Staatsbahn geerbten Versuchsbetrieb seit 1903 in der Erprobung war: Zwischen Groß-Lichterfelde-Ost und dem heute nicht mehr existierenden Potsdamer Bahnhof am Potsdamer Platz pendelten Züge mit Triebwagen, zwischen denen motorlose sogenannte "Beiwagen" gekuppelt waren. Gleichstrom aus einer Stromschiene setzte die Triebwagen in Bewegung. Dieses System ging weiterentwickelt am 8. August 1924 auf der Strecke Berlin - Stettiner Vorortbahnhof (später: Nordbahnhof) - Bernau in den regulären Betrieb.
Peter Schwirkmann vergleicht die Zeit bis zu dieser Entscheidung mit dem Mobiltelefon: "Wenn Sie schauen, wie lange es dauert, um den Stecker für das Handy-Ladegerät zu normieren, sind 25 Jahre auch eine stolze Zeit für eine relativ simple technische Aufgabe", sagt er.
Der Bedarf für ein schnelles Massenverkehrsmittel war gewaltig: Durch Eingemeindungen war Berlin seit 1920 mit 3,8 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der Welt. Eine "Elektrisierung", wie es damals hieß, versprach die schnellste Erschließung des großen Stadtgebietes: Denn die U-Bahn gab es fast nur in der Innenstadt, Straßenbahn und Bus waren für größere Distanzen zu langsam und die wenigen Autos waren für die meisten unerschwinglich. Die Bahn hingegen verlief bereits sternförmig von der Innenstadt aus in alle Richtungen. Und nachdem sich Elektro auch auf der Strecke nach Bernau bewährte, machte die Bahn richtig Tempo: In nur fünf Jahren setzte sie 230 Kilometer des Berliner Netzes bis ins Umland unter Strom. Seit 1930 vermarktet sie es als "S-Bahn" mit dem bis heute üblichen grünen Logo.
Die erste Fahrzeugserie der Berliner S-Bahn, die sogenannte "Bauart Bernau", erwies sich schnell als überholt. Schon ab 1925 ließ die Bahn Nachfolgemodelle entwickeln. Eines davon, die Bauart "Stadtbahn", war gewissermaßen der VW Käfer unter den Schienenfahrzeugen. In großer Stückzahl gebaut und mit rund 70 Jahren Einsatzdauer besonders langlebig, prägten diese Züge für Jahrzehnte das Stadtbild und auch die Klangkulisse Berlins.
Neben einem Exemplar aus dieser Serie zeigt das Technikmuseum auch das, was von einem Bernauer Triebwagen noch übrig ist. "Das Fahrzeug wurde 1942 stillgelegt und stand in Schöneweide, wurde mutmaßlich dort in den 1950er Jahren als Schulungsraum, später als Werkstatt genutzt", erzählt Peter Schwirkmann. Weil er dort im Weg stand und für den Straßentransport auf ein anderes Bahngelände zu sperrig war, wurde er 1992 einfach halbiert. Einen sogenannten "Beiwagen" der Bauart Bernau, also ein Waggon ohne Motor und Steuerstand, restauriert das Technikmuseum derzeit noch.
Sendung: rbb24 Abendschau, 08.08.2024, 19:30 Uhr
Beitrag von Frank Drescher
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