Psychische Krisen
Immer wieder sind auf den Straßen in Berlin verhaltensauffällige Menschen zu sehen. Pandemie, Kriege und ein neuer Drogen-Trend könnten einen Anteil daran haben, dass ihre Zahl steigt, meinen Experten. Von Julian von Bülow
Betrunkene Touris in U-Bahnen, religiöse Prediger auf offener Straße oder etwas zu extrovertierte Straßenmusiker. Allesamt verhaltensauffällig, aber kaum ungewöhnlich für eine Weltstadt. Sie mögen manchmal nerven, aber man kennt sie und kann sie auch einigermaßen einschätzen. Und manchmal tragen sie auch einfach zum Charme der Hauptstadt bei.
Um wen es in diesem Text gehen soll, sind die Menschen, die wir nicht einschätzen können - die unberechenbar scheinen, vielleicht auch gefährlich sind. In einer Großstadt bekommt das eine besondere Bedeutung, denn so groß Berlin auch sein mag, in einer vollen Bahn ist man im Zweifel auf Tuchfühlung. Fangen Menschen plötzlich an, laut zu schreien, gegen Scheiben zu schlagen oder sich oder andere zu verletzen, dann ist das schwierig für alle Beteiligten. Zumeist liegt dann eine psychische Ausnahmesituation vor.
Gibt es solche psychischen Ausnahmesituationen häufiger auf den Straßen Berlins? Eine exakte Statistik zu finden scheint vergebens. Die Berliner Polizei kann auf rbb|24-Anfrage etwa die Zahl an vorläufigen Unterbringungen von psychisch kranken Menschen nennen.
Jene können gegen ihren Willen in eine Einrichtung eingewiesen werden, "wenn und solange durch ihr krankheitsbedingtes Verhalten eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ihr Leben oder ihre Gesundheit oder für besonders bedeutende Rechtsgüter Dritter besteht" und der Gefahr anders nicht beizukommen ist. So steht es im entsprechenden Gesetz. Zudem: Nur weil eine Person ihre Krankheit nicht behandeln lassen wolle, rechtfertige das noch keine Unterbringung.
Die Zahl dieser Eingewiesenen lag laut Berliner Polizei 2019 bei 558, stieg 2020 auf 690 und fiel bis 2023 auf 524 und damit knapp unter das vorpandemische Niveau.
Psychische Erkrankungen gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten. Angesichts der aktuellen Debatte um die Sicherheit am Görlitzer Park in Kreuzberg sowie am Leopoldplatz im Wedding geraten aber zwei Personengruppen besonders in den Fokus der Öffentlichkeit: wohnungslose und suchtkranke Menschen. Sozialarbeiter nennen dafür im Gespräch mit rbb|24 fünf mögliche Faktoren.
Der erste: Vorerkrankungen der Betroffenen. Erklären kann das Sozialarbeiter Juri Schaffranek. Er kümmert sich beim Verein Gangway um obdachlose Menschen auf der Straße und sagt: Menschen verlören ihre Wohnungen unter anderem aufgrund von psychischen Krankheiten wie Depressionen oder Traumata. Die Obdachlosigkeit sei dann eine weitere psychische Krise.
"Manche versuchen diese Scham, den psychischen Schmerz und mögliche Auffälligkeiten, die die Leute ja selbst durchaus bemerken, weil die Gesellschaft darauf reagiert, mit Drogen quasi selbst zu medikamentieren", sagt Schaffranek.
Im Arbeitsalltag begegnen dem Sozialarbeiter Wohnungslose mit Psychosen, Depressionen und Verfolgungswahn, erzählt er. Aus den Gangway-Jahresberichten geht hervor, dass in den vergangenen Jahren rund ein Drittel der angetroffenen Wohnungslosen Probleme mit psychosozialer Stabilität gehabt habe. Etwas mehr als die Hälfte sei drogenabhängig gewesen.
Das ist ein Schwerpunkt von Raphael Schubert, Geschäftsführer von Fixpunkt. Die Organisation bietet in Berlin niedrigschwellige Hilfe für suchtkranke Menschen an - in Drogenkonsumräumen und mit Straßensozialarbeit. Schubert sagt: "Zum einen ist eine Sucht schon eine psychische Erkrankung und wir merken, dass viele Menschen, die unsere Angebote in Anspruch nehmen, eine weitere psychische Erkrankung haben." Jene Menschen bräuchten eine psychiatrische oder psychologische Betreuung, so Schubert. Das heiße aber nicht automatisch, dass alle von ihnen in der Öffentlichkeit verhaltensauffällig seien.
Ein zweiter Faktor für sichtbarere Verhaltensauffälligkeit: Die Berliner Wohnungsnot mache vorher Verborgenes sichtbarer. "Für Suchtkranke wird es immer schwieriger, Wohnraum zu finden", sagt Schubert. Das sei für Normalverdiener bereits schwierig. Und weil in Berlin immer mehr nachverdichtet werde, gebe es weniger Orte, an denen sich wohnungslose Menschen aufhalten könnten. "So spielt sich auch der Drogenkonsum immer mehr in der Öffentlichkeit ab", sagt Schubert.
Nun führt Drogenkonsum per se nicht zu Verhaltensauffälligkeit in der Öffentlichkeit, betont der Fixpunkt-Geschäftsführer. Aber, und das ist der dritte Faktor: "Wir sehen, dass die Verfügbarkeit von illegalen Substanzen zunimmt. Feststellen können wir das anhand von Sicherstellungen von Drogen und an verändertem Konsumverhalten." In Drogenkonsumräumen und auf der Straße werde mehr Crack konsumiert. "Das wirkt so aufputschend, dass die Konsumenten verhaltensauffälliger werden - und das eben in der Öffentlichkeit", sagt Schubert.
Ein vierter Faktor für Verhaltensauffälligkeit: Die Versorgungslage für Menschen mit psychischen Erkrankungen sei generell angespannt, so der Fixpunkt-Geschäftsführer. "Es wird immer schwieriger, Termine bei einem Psychiater zu bekommen", sagt Schubert. Wegen Mangel an Medizinern und Pflegepersonal sei die Aufnahme in ein psychiatrisches Krankenhaus eine Herausforderung.
Menschen außerhalb der Regel-Krankenversorgung hätten es noch schwieriger: etwa Geflüchtete mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Aber auch Menschen, deren psychische Krankheit noch nicht diagnostiziert oder behandelt worden sei, weil sie aufgrund von Obdachlosigkeit oder Arbeitslosigkeit gar nicht die Mittel oder Möglichkeiten hätten, Hilfe in Anspruch zu nehmen, so Raphael Schubert.
Das Coronavirus nennen beide Sozialarbeiter als fünften möglichen Faktor, der zur Verhaltensauffälligkeit beigetragen habe. "Die Pandemie hat für viele eine drastische Verschärfung der allgemeinen psychischen Situation ergeben und zu einer Zunahme von auffälligen Störungen, psychischen und Suchterkrankungen bis runter zu sehr jungen Menschen geführt", sagt Juri Schaffranek von Gangway. Auch viele sozialen Träger hätten wegen der Lockdowns und Hygieneregeln ihre Angebote zurückfahren müssen.
"Wohnungslose mussten sich dann noch mehr als sonst im Freien durchschlagen und haben die wenigen sozialen Kontakte, die sie untereinander hatten, teils verloren", sagt Schaffranek. Für Wohnungslose sei es ein Elend gewesen: psychisch durch Isolation, durch mangelnde Kontakte und durch Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung wohnungsloser Menschen. "Es konnte nur noch ein Drittel des Angebotes aufrechterhalten werden. Zwei Drittel, so unsere Wahrnehmung, sind einfach weggefallen", sagt der Sozialarbeiter.
"Ich habe auch das Gefühl, dass seit der Corona-Pandemie innerhalb der Gesellschaft ein großer Riss aufgetreten ist. Man merkt, dass es verstärkt Schwierigkeiten gibt, wohnungslose Menschen zu akzeptieren oder ihnen zu helfen", sagt Fixpunkt-Chef Schubert.
Wie verhält man sich nun aber richtig, wenn man doch einmal in einer für sich nicht einschätzbaren Situation mit verhaltensauffälligen Menschen ist, etwa in der Bahn?
"Es gibt kein Rezeptbuch, weil es darauf ankommt, was ich gerade da vor mir sehe", sagt Juri Schaffranek. Generell könne man aber sagen: Wirkt eine Situation bedrohlich, sollte man auf keinen Fall eskalieren. "Es muss einem immer klar sein, dass das gerade psychische Störungen sind. Bei der anderen Person funktioniert die normale Umgangslogik dann nicht mehr, also etwa Höflichkeit." Als Laie sollte man sich deshalb freundlich und defensiv verhalten.
Winfried Glatz vom Berliner Krisendienst rät zudem: "Wenn keine unmittelbare Gefahr besteht und man ist sich unsicher, ob jemand Hilfe von außen braucht, kann man beim Krisendienst für eine Einschätzung und Infos über Hilfsmöglichkeiten anrufen." In gefährlichen Situationen solle man die Polizei informieren.
Polizeieinsätze mit psychisch kranken Menschen sind nicht unumstritten. Im Herbst 2022 starb etwa ein Berliner mit psychischer Erkrankung nach einem Polizeieinsatz.
"Die Polizei habe ich in vielen Situationen eher eskalierend erlebt. Ich halte sie nicht für das geeignetste Mittel", erzählt Juri Schaffranek. Er würde es begrüßen, wenn sowohl bei der Polizei der Umgang mit psychisch kranken Menschen ein wesentlicher Teil der Ausbildung wäre.
Die Polizei Berlin teilt auf rbb|24-Anfrage mit, dass bei der Polizeiausbildung in Seminaren "wesentliche im praktischen Dienst zu erwartende psychische Verhaltensauffälligkeiten thematisiert und umfassend besprochen" werden. Zusätzlich würden "Einsatzsituationen, in denen psychische Auffälligkeiten relevant sind dargestellt und in Rollenspielen geübt." Verpflichtende Fortbildung für bereits tätige Polizisten gebe es nicht.
Wilfried Glatz vom Berliner Krisendienst sagt mit 25 Jahren Berufserfahrung: "Wir merken, dass die Polizei auf den Umgang mit Personen mit psychischen Problemen immer besser vorbereitet ist." Es gebe von der Berliner Polizei-Akademie Seminare für die Polizeibeamtinnen und -beamte zum Umgang mit psychisch Kranken. Dabei seien Betroffene, Mitarbeiter aus psychiatrischen Kliniken und des Berliner Krisendienstes regelhaft dabei.
"Bei den Polizistinnen und Polizisten gibt es offenbar einen großer Bedarf, denn Leute, die an dem Seminar teilnehmen wollen, müssen länger auf einen Platz warten", so Glatz. Zudem ziehe die Polizei den Krisendienst hinzu, wenn sie den Eindruck habe, dass es nicht um Gefahrenabwehr, sondern um weitere Hilfe gehe. "Da gibt es eine Zusammenarbeit, die gut funktioniert", so Winfried Glatz.
Raphael Schubert von Fixpunkt zeichnet ein gemischtes Bild: "Ich habe bislang mit Polizistinnen und Polizisten gearbeitet, die sehr gut reagiert haben. In Ausnahmesituationen gab es aber auch welche, die schlecht reagierten." Letztlich sei die Polizei ein so großer Arbeitgeber, dass es schwer sei, eine pauschale Aussage zu treffen.
Psychische Erkrankungen sind eine zusätzliche Herausforderung für Menschen in ohnehin fordernden Lebensumständen. Was bräuchte es also, um die Situation zu bessern?
Die Senatsverwaltung für Gesundheit verweist auf Maßnahmen, die 2023 beim Berliner Sicherheitsgipfel beschlossen wurden. So will der Senat etwa die aufsuchende Sozialarbeit für Suchtkranke stärken und mehr Unterkünfte und Drogenkonsumräume schaffen. Das sei zumindest punktuell geschehen, bestätigt Schaffranek.
Geht es nach Raphael Schubert von Fixpunkt, dann brauche es verstärkt niedrigschwellige Hilfen - nicht nur Aufenthalt und Sozialarbeit, sondern auch psychiatrische Hilfe. Denn die bestehenden Möglichkeiten seien sehr hochschwellig. "Man muss einen Termin machen, pünktlich und regelmäßig erscheinen, und hat oft lange Wartezeiten, bis der Termin stattfindet", so Schubert.
In der Suchthilfe fehle ein Angebot, da bräuchte es mehr Möglichkeiten. "Wichtig wäre natürlich ein Ausbau. Wenn das nicht passiert, sollte der Senat wenigstens das Niveau an bestehenden Angeboten aufrechterhalten", sagt Raphael Schubert. Sonst verschlechtere sich die Situation. Das sei für niemanden wünschenswert.
Sozialarbeiter Juri Schaffranek von Gangway blickt allerdings düster in die Zukunft. Angesichts drohender Kürzungen im Landeshaushalt sagt er: "Ich bin hundertprozentig davon überzeugt, dass es eine Verschärfung der Situation in allen Bereichen geben wird." Denn es werde immer in den Bereichen am meisten gekürzt, die am wenigsten Lobby hätten.
Die Zukunft scheint zumindest ungewiss. Da heißt es einerseits: "Perspektivisch wird gesamtstädtisch das Angebot berlin- bzw. bezirksweiter Straßensozialarbeit ausgeweitet, um auf Bedarfe, etwa an Hotspots, reagieren zu können. Aus Mitteln des Sicherheitsgipfels ist die Finanzierung für das Jahr 2025 für diese Maßnahme gesichert", so ein Sprecher von Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD). Andererseits teilt er mit: "Dazu, ob es im Bereich der Suchthilfe und -prävention zu Kürzungen kommen wird, können im Moment noch keine abschließenden Äußerungen getroffen werden". Nach Sicherheit für die Sozialarbeit klingt das nicht.
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Beitrag von Julian von Bülow
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