Meinung
Großstädte wie Berlin sind laut, das weiß man. Anna Severinenko stört sich nicht am Verkehrslärm. Sie führt aber einen inneren Kampf gegen Menschen, die an vollgepackten Orten die Boombox aufdrehen oder in der U-Bahn laut Reels gucken.
Ich sitze in der U3 auf dem Heimweg nach der Arbeit, es ist warm, es ist voll, es ist laut. Ich habe den ganzen Tag geredet, zugehört, abgesprochen, reingequatscht, Lärm ausgeblendet. Kurz: Ich will Ruhe. Neben mich setzt sich ein Fahrgast und schaut auf sein Handy, plötzlich, ohne jede Vorwarnung: "IT'S MURDER ON THE DANCEFLOOR, BUT YOU STILL – DADARADA DADA DADARADA – *heftiges Schlagzeug* – Computerstimme: THIS IS HOW YOU CAN BUY A HOUSE IN ITALY FOR ONE – FEEL THE RAIN ON YOUR SKIN". Alles in einem drei-Sekunden-Takt.
Die Person, die keine zwei Zentimeter neben mir sitzt, schaut sich Reels in den sozialen Medien an und lässt mindestens sechs weitere Fahrgäste daran teilhaben. Ungefragt natürlich. Der Haken: Die Geräuschbrocken machen keinen Spaß, wenn man das Reel nicht sehen kann. Versteht die Person das nicht? Ist es ihr komplett egal, dass alle mithören können und müssen? Raste nur ich dabei innerlich aus? Ich fühle mich, wie passend, an Pessoas "Buch der Unruhe" erinnert: "Wer leidet, leidet allein."
In diesem Text versuche ich den akustischen Exhibitionismus Berlins zu verstehen. Menschen, die sich etwas anhören – Musik, Reels, Sprachnachrichten, Telefonate – und Außenstehende ungefragt daran teilhaben lassen. Eine Typologie der auditiven Flasher, also der Menschen, die unnötig Lärm verbreiten.
Erster Typ: Laute Handy-Nutzer:innen (ohne Kopfhörer). Zurück in die U3, neben mir das beschriebene Exemplar dieser Gattung. Mein Ohr stechend, meine Stirn zusammengezogen, meine Augen rollend, mein Mund stumm. Aufstehen und weggehen kommt nicht in Frage. Die U-Bahn ist voll - der andere soll sich anpassen und das Ding leise machen, nicht ich. Wenn man so nah an Fremden ist, dass man nicht laut seine Geheimnisse erzählen würde, sollte man auch nicht seinen Musikgeschmack oder Reel-Algorithmus verraten. Nach dem gefühlt sechsten Reel schreie ich innerlich, traue mich aber nicht, etwas zu sagen. Berliner öffentliche Verkehrsmittel, ich bin doch nicht lebensmüde.
Also versuche ich die zweite Strategie: Blickkontakt zu anderen suchen, um Bestätigung für die Ruhestörung zu finden und stark in der Gruppe dagegen vorzugehen. Ab und zu blitzen auch andere Augen den Störenfried an, aber direkt wenden sich alle ihren Handys zu oder sind durch eigene Kopfhörer protektiert. Keine Unterstützung zu erwarten. Ich gehe in die Offensive, seufze genervt, schaue demonstrativ aufs Handy meines Sitznachbarn. Er schlägt nur die Beine übereinander und swipet zum nächsten Reel. Keine Chance.
Eine weitere Unterkategorie des lauten Handynutzers sind die Schrei-Telefonierer:innen in unmittelbarer Nähe. Also wieder in der akustischen Folterkammer der Öffis oder in Cafés und Restaurants. Telefone sind mobil geworden, damit man überall erreichbar ist, auch in der Außenwelt. Ich bin dankbar für diese Evolution. Aber einige Leute telefonieren in einer Lautstärke, als wären sie in einer Telefonzelle mitten im Schneesturm. Und dabei sind sie auf denselben zwei Quadratmetern wie ich.
Das Problem: Wenn ich die gesprochene Sprache verstehe, ist es ziemlich unmöglich, wegzuhören. Meist ist es jedoch leider nicht interessant genug, um zuzuhören. Aber diesem Typus sei verziehen, da spielen andere Parameter mit rein, wie die womöglich zeitliche Dringlichkeit für das Gespräch oder wichtiger Gossip.
Eine weit verbreitete Spezies in Berlin ist der gemeine Bluetooth-Boombox-Träger. Das Leben sollte einen Soundtrack haben, das denke auch ich. Viele Momente und auch der graue Alltag sind viel schöner, intensiver und lebendiger, wenn Musik drunter liegt. Aber hat nicht jeder seinen eigenen Soundtrack? Warum dann, wenn ich im Freibad liege, einem Ort der Entspannung, legt sich zwei Meter entfernt von mir jemand hin, der allein – ALLEIN – ist und auf seiner JBL Schranz-Techno anmacht? Ich beschalle dich doch auch nicht auf 80 dB mit meiner Jessica-Pratt-Playlist, die ich grade höre.
Die Technologie-Industrie hat uns Kopfhörer in allen Ausführungen geschenkt, in-ear, on-ear, mit geringeltem Kabel, kabellos, klein, groß, für ASMR, mit Noise Cancelling, im 1970er Style oder futuristisch. Warum möchten Menschen, dass alle ihre Musik hören, die nicht darum gebeten haben? Gescheiterte DJ-Träume? Geltungsdrang? (Lauter) Schrei nach Aufmerksamkeit? Ich weiß es nicht, Jessica kommt jedoch nicht gegen die Techno-Bässe an, ich suche kühle Stille und tauche in den Pool.
Ein typischer Archetyp für Berlin und eine weitere Vergrößerung der Beschallungsgeräte ist meist auf Fahrrädern unterwegs. Der Ich-fahre-eine-Riesenanlage-mit-meinem-Rad-rum-Typ. Eine mobile Party, um es euphemistisch zu sagen. Lärmbelästigung auf Rädern, laut den Partypoopern. Ich gehöre zu Letzteren, und nein, ich bin noch nicht alt. Die große Musikbox, die locker eine Halle beschallen könnte, sitzt und plärrt im Cargo-Bike oder ist irgendwie anders ans Rad gezwungen. Abgesehen von der möglichen Gefahr für die Verkehrssicherheit fährt die Box auch meist zu schnell an einem vorbei, als dass man dazu tanzen oder singen könnte. Man erfährt auch nicht, wohin sie fährt, um wenigstens der Party zu folgen.
Der oder die Fahrerin kann zudem auch gar nicht absteigen und zwischendurch im Café was trinken, aus Angst, die Box könnte geklaut werden. Um ehrlich zu sein, verstehe ich vor allem nicht, warum man ungebeten ein Konzert geben muss. Fühlt ihr euch dadurch cool? Uncool anderen gegenüber.
Der Lärm Berlins beschert nicht nur mir Aufreger-Momente, sondern liegt auch auf dem Tisch der Berliner Verwaltung. Nach zahlreichen Beschwerden von Anwohner:innen hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg einen "Lärmomat" aufgestellt. Das Gerät hat die Lautstärke an der Admiralsbrücke gemessen und wenn diese einen Richtwert überschritt, leuchtete es rot und rief die Umgebung zur Ruhe auf – also schonmal mutiger als ich. Gebracht hat es aber nicht viel.
Und jetzt kommt mir nicht mit "Dann zieh doch aufs Dorf, wenn‘s dir zu viel ist in der Stadt". Das Totschlagargument für jede Beschwerde über Berlin. Natürlich gehören zu einer Großstadt auch Lärm und Dreck und Hektik – und ich mag's, ja, ich lieb's. Ich liebe es, in Berlin zu leben, ich liebe die Freiheit hier. Aber achtet bitte ein bisschen auf die der anderen, wenn ihr euch eure nehmt.
Wer nicht aus der Stadt flüchten will, aber trotzdem kurz die eigenen Gedanken hören möchte: Es gibt auch Orte der Stille in dieser ruhelosen Stadt. Im "Raum der Stille" am Brandenburger Tor kann man seit 1994 allein oder mit anderen nichts hören. Der Raum ist 30 Quadratmeter groß, hat zehn Stühle und einen Wandteppich. Man kann so kurz oder lange bleiben, wie man will.
Wer still sein, aber trotzdem die Sinne beschallen möchte, kann hoffentlich bald wieder im Museum der Stille abtauchen. Momentan ist es vorübergehend geschlossen, bietet aber einen sensorischen Stillstand. In einem der Räume hängen nur zwei Bilder des russischen Künstlers Nikolai Makarov, nebelhafte Wolken- und Landschaftsfragmente zeigend, die Wände sind knallrot, aber die Ohren können Pause machen.
Danach kann man sich wieder in den Lärm stürzen. Wahrscheinlich sollte ich auch einfach mal froh sein, dass zwischen Autohupen, Schienenschrillen und ständig auftauchendem Martinshorn, Musik durchkommt. Die Kakofonie der Stadt macht doch auch die Symphonie Berlins aus.
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Beitrag von Anna Severinenko
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