Interview | Demografie in Brandenburg
In Brandenburg gibt es deutlich mehr junge Männer als junge Frauen, nicht erst seit diesem Jahr. Die Soziologin Katja Salomo beschäftigt sich mit der Frage, woran das liegt – und was den Trend umkehren könnte.
In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen gibt es dem Zensus 2023 zufolge in Brandenburg einen Männerüberschuss – vor allem in ländlichen Gemeinden. Der Männerüberschuss in Brandenburg hat, ähnlich wie in anderen ostdeutschen Bundesländern, historische, wirtschaftliche und soziale Gründe, sagt die Soziologin Katja Salomo. Forscher:innen wollen nun herausfinden, wie sich das Verhältnis von Frauen und Männern auf das Leben in Ostdeutschland auswirkt.
rbb|24: Frau Salomo, mit dem Zusammenbruch der DDR begann eine Abwanderungswelle – auch aus Brandenburg. Ist der Männerüberschuss in einigen Teilen der Bevölkerung eine Spätfolge der 1990er Jahre?
Katja Salomo: So könnte man es sagen, allerdings gibt es dafür noch mehr Gründe. Ostdeutschland hat drei große Abwanderungswellen erlebt, die erste noch vor dem Bau der Mauer.
Die zweite Abwanderungswelle nach der Wende war eine Reaktion auf die Massenarbeitslosigkeit. Dementsprechend sind vor allem Menschen gegangen, die schon etwas älter waren und arbeitslos geworden sind, und natürlich auch die, die schon immer gehen wollten.
Dann gab es eine dritte Welle, die ihren Höhepunkt zwischen 2000 und 2005 hatte, über die sprechen wir heute. Hier geht es um die erste Generation, die vergleichbare Lerninhalte und Schulabschlüsse zu Westdeutschland und somit vergleichbare Chancen auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt hat. In der dritten Welle sind es junge, zumeist gut ausgebildete Menschen, die gegangen sind. Da Frauen häufiger formal höhere Schulabschlüsse erreichen, waren unter ihnen schon allein deshalb mehr Frauen als Männer.
Sie haben in einem anderen Interview erklärt, nach der Abwanderung zu Beginn der 1990er Jahre seien tendenziell eher Männer in die Heimat zurückgekehrt. Viele Frauen dagegen im Westen geblieben – woran liegt das?
Was die Frauen im Westen gehalten hat, lässt sich nicht hundertprozentig erklären. Es gibt aber ein paar Hinweise darauf, dass es ostdeutschen Frauen in Westdeutschland leichter fiel als ostdeutschen Männern, Partner zu finden und eine Familie zu gründen. Nach der Familiengründung im Westen sind dann viele der Frauen auch dortgeblieben. Männer sind hingegen häufiger zurückgekehrt, um Familien zu gründen. Natürlich ist das nur eine Tendenz, es gibt etliche Ausnahmen.
Welche Regionen waren denn ganz besonders von dieser Abwanderung betroffen?
Alle neuen Bundesländer waren stark betroffen, innerhalb der Bundesländer aber kann man differenzieren. Die größeren Städte zählen nicht zu den großen Abwanderungsorten, insbesondere nicht die Universitätsstädte. Betroffen sind vor allem ländliche Regionen, insbesondere diejenigen, die in den 1990er Jahren unter hoher Arbeitslosigkeit litten. Die kollektive Erfahrung sehr hoher Arbeitslosigkeit hat jungen Menschen vielleicht signalisiert, dass man diese Regionen verlassen muss, um etwas aus sich zu machen. Auch das ist eine Spätfolge der Wende und wie sie gehandhabt wurde.
Welche Rolle hat die Wirtschaft in Ost und West gespielt, beziehungsweise der Umstand, dass Frauen tendenziell in anderen Berufen gearbeitet haben und noch immer arbeiten?
In der Forschung vermuten wir tatsächlich, dass ein weiterer Grund für die Abwanderung von Frauen ist, dass sie häufiger in Dienstleistungsberufen arbeiten. Erstens ist das Gehaltsgefälle in vielen Dienstleistungsberufen zwischen Ost und West noch größer als in anderen Berufen. Wenn sie das Gehaltsniveau in den Pflegeberufen zwischen Sachsen, Thüringen oder Brandenburg mit denen in Bayern vergleichen, werden sie feststellen, dass es sich finanziell einfach wirklich lohnt, im gleichen Beruf in Bayern zu arbeiten.
Zweitens gibt es anteilsmäßig mehr Dienstleistungsberufe in Westdeutschland. Das hat viel mit der unterschiedlichen Struktur der Wirtschaft in Ost und West zutun, aber von staatlicher Seite wurde auch nicht gut gegengesteuert. Beispielsweise steht im Einheitsvertrag, dass alle neuen Bundesinstitutionen im Osten gegründet werden sollten. Das ist nie passiert, und somit kamen weder diese Jobs nach Ostdeutschland noch die Dienstleistungsjobs, die sich meist im Umfeld solcher Institutionen ansiedeln. Wenn man keine für sie attraktiven Jobs anbietet, kann man die Frauen auch nicht halten in der Region, das ist ganz klar.
Sie hatten einmal über einen Zusammenhang von Männerüberschuss und Rechtspopulismus gesprochen. Was bedeutet die jetzige Situation für die politische Entwicklung der ländlichen Regionen in Brandenburg?
Eine Studie von US-amerikanischen Wissenschaftler:innen konnte zeigen, dass es in Deutschland zwischen 2015 und 2017 häufiger zu Übergriffen auf Flüchtlingsheime und Attacken auf Flüchtlinge kam, wo Frauen in der Heiratspopulation fehlten. Dieser Zusammenhang gilt für die neuen und alten Bundesländer, nur ist der Männerüberschuss in den neuen Bundesländern viel stärker ausgeprägt. Erklärt wurde das damit, dass die AfD damals gezielt die Drohkulisse aufgebaut hat, männliche Flüchtlinge würden den deutschen Männern die Frauen "wegnehmen". Das heißt ja, insofern existiert ein Zusammenhang.
Ein weiterer Zusammenhang ergibt sich eher aus problematischen demografischen Entwicklungen. Regionen, die hohe Abwanderung erfahren haben, an Alterung, Männerüberschuss und geringen Kinderquoten leiden, haben auch viel an Infrastruktur verloren. Alles von regelmäßigen Busverbindungen in die nächstgrößten Städte bis hin zum Bäcker, dem Fleischer, oder der Post ging verloren, Häuser stehen leer, soziale Netzwerke werden homogener, weil viele jungen Menschen nicht mehr vor Ort sind. Soziale Treffpunkte wie Kneipen oder Tankstellen schließen, Jugendclubs in den ländlichen Gebieten in Ostdeutschland gibt es eh selten. Das alles macht etwas mit den Menschen und dieses Gefühl des Verlusts und der Stagnation weiß die AfD für sich zu nutzen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass sich der Trend umkehrt und mehr junge Frauen nach Brandenburg kommen?
Ich will nicht hoffnungslos klingen, aber das wird schwer. Denn Abwanderung löst einen Teufelskreis aus, sobald auch die Infrastruktur vor Ort schrumpft. Viele Schulen, Kitas und andere Einrichtungen, die für junge Familien wichtig sind, wurden in ländlichen Gebieten aufgrund der hohen Abwanderung geschlossen oder zusammengelegt, sodass zum Beispiel Schulwege länger wurden. Politisch müsste man versuchen, die ländlichen Gebiete für junge Familien attraktiver zu machen. Der Wille dazu ist definitiv da, aber oft fehlt den Gemeinden auch die weibliche Perspektive, um zu wissen, wo man am besten ansetzen sollte. Das liegt daran, dass Frauen politische Ämter in Gemeinden generell seltener als Männer übernehmen und genau diese Generation von Frauen in den ostdeutschen ländlichen Regionen zudem seltener leben.
Was könnte man noch unternehmen, um die Regionen für Frauen attraktiver zu machen?
Eine Studie aus Ostsachsen zeigt, dass junge Frauen stärker als junge Männer darunter leiden, dass sowohl Mobilitätsangebote als auch kulturelle Angebote auf dem Land etwas eingeschränkt sind. Vielleicht könnte man da ansetzen. Generell bin ich jedoch der Meinung, Regionen sollten eher versuchen, Familien anzulocken. Im Ausbau der Digitalisierung und der Ausweitung von Homeoffice-Jobs liegt eine riesige Chance für ländliche Gebiete. Jedoch: Wenn man beispielsweise vergisst, Schulwege auf dem Land möglichst kurz zu halten, wird man trotz Homeoffice keine Familien anziehen. Keine Familie freut sich, wenn die Kinder zwei Stunden am Tag im Bus sitzen. Das wären Gebiete, in denen Akteure in der Politik langfristig Verbesserungen erzielen könnten. Und immerhin lässt sich ja schon festhalten, dass die Zu- und Abwanderungsrate in Ostdeutschland heute schon eher ausgeglichen ist. Das ist ein gutes Zeichen.
Frau Salomo, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Roberto Jurkschat
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