Wehrpflichtige Ukrainer in Berlin
In letzter Zeit wächst der Druck auf ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich im Ausland aufhalten. Nun bekommen sie keine neuen Pässe mehr. Zwei Ukrainer in Berlin erzählen, wie sich ihr Leben als Kriegsdienstverweigerer anfühlt. Von Juan F. Álvarez Moreno
"Ein Aufenthalt im Ausland befreit einen Bürger nicht von seinen Pflichten gegenüber seinem Land", schrieb der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba im April auf der Plattform X. Gemeint waren Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich im Ausland aufhalten. Etwa 280.000 von ihnen leben laut Bundesinnenministerium in Deutschland. Obwohl die ukrainische Armee vor zwei Wochen mit einem Vorstoß in die russische Region Kursk überraschte, sind die russischen Soldaten im Krieg in der Überzahl. Seit Monaten versucht deshalb die ukrainische Regierung, mehr Männer im wehrpflichtigen Alter aus dem Ausland in die Heimat zurückzubringen.
Der 32-jährige Vitali* und der 28-jährige Andrij* sind zwei von ihnen. In ihrer Heimat werden sie von manchen als Verräter bezeichnet, weil sie sich im Krieg für ein Leben in Berlin entschieden haben. Keiner von ihnen hat je gedient – und beide haben das auch weiterhin nicht vor.
"Ich empfinde keine Scham, ich hatte einfach Glück", sagt Vitali. Im Februar 2022, als russische Soldaten in die Ukraine einmarschierten, machte der Mediziner aus Lwiw Urlaub in Berlin. Seitdem ist er hier, doch seine Entscheidung war am Anfang nicht so eindeutig: Zweimal habe er an der polnisch-ukrainischen Grenze gestanden, und fast habe er sie überquert. "Meine ukrainischen Freunde bestanden darauf, dass ich nicht zur Armee gehe." Als Arzt hätte er wahrscheinlich nicht an die Front gehen müssen. "Ein Freund sagte mir dann: Wenn du zurückkehrst und nicht kämpfst, dann isst du uns nur das Essen weg", sagt Vitali. Er blieb in Berlin.
Der 28-jährige Andrij sammelte im ersten Kriegsjahr Spenden für die ukrainische Armee und unterstützte sein Land mit Kulturprojekten, wie er erzählt. Im folgenden Jahr kam er aus der Hauptstadt Kyjiw nach Berlin mit einer Sondererlaubnis für seine Arbeit und blieb ebenfalls hier. In Berlin fühle er sich als Ukrainer willkommen. "Ich werde erst zurückkommen, wenn der Krieg zu Ende ist", sagt er. "Ich will nicht für mein Land kämpfen oder sterben. Meine Priorität ist, am Leben zu bleiben."
Andrij habe aufgehört, seine alten Social-Media-Accounts zu benutzen, weil er nicht mit Leuten in Kontakt sein wollte, die ihn kritisieren könnten. "Manche Leute und auch Teile der Regierung nennen uns Verräter", sagt er. "Mein näheres Umfeld war hingegen einfühlsam und die meisten unterstützten meine Entscheidung." Trotzdem folge er einigen Soldatinnen und Soldaten. "Ich kann nicht wirklich begreifen, was sie durchmachen. Unsere Realitäten sind so unterschiedlich, wie sollte ich ihnen von meinem Leben in Berlin erzählen?"
Den zunehmenden Druck der Regierung auf Männer im wehrpflichtigen Alter spüren beide. Seit Mitte Mai geben die ukrainischen Konsulate keine neuen Pässe an Männer zwischen 18 und 60 Jahren aus. Und die Bundesländer, auch Berlin und Brandenburg, geben ukrainischen Männern im wehrpflichtigen Alter keine deutschen Ersatzreiseausweise. Immerhin: Ukrainer haben bis zum 4. März 2025 ein Aufenthaltsrecht in Deutschland, auch wenn ihre Pässe abgelaufen sind.
Andrij hat bereits im März einen neuen Pass beantragt, wie er erzählt. Vier Tage später bekam er eine Benachrichtigung, dass das Dokument fertig sei und bald in das ukrainische Passbüro am Treptower Park geschickt werde. Es kam aber nicht dort an. "Sie haben mir gesagt, es gebe ein technisches Problem und Männer zwischen 27 und 60 Jahren bekämen keinen neuen Pass", so Andrij. "Das ist seltsam, denn das Gesetz war noch nicht in Kraft. Gesetze dürfen nicht retroaktiv wirken. Das ist nicht verfassungskonform", kritisiert er. Auch Vitali wartet seit Mai auf seinen neuen Pass, der zwar fertig sei, aber nicht mehr ankomme.
"Ich verstehe die Maßnahmen der Regierung, auch wenn sie gegen mich benutzt werden können", sagt der 32-jährige Arzt Vitali. "Ähnlich wie wenn man bei Rot die Straße überquert: Du entscheidest dich als Individuum gegen die Regeln, weißt jedoch, dass Ampeln für die Gesellschaft sinnvoll sind." Er ist zuversichtlich, dass er bei einer Rückkehr keine Waffe in die Hand bekäme; im schlimmsten Fall würde er als Arzt beim Militär arbeiten müssen. "Ich würde den Druck auf mich niemals mit dem Druck auf jemanden vergleichen, der an der Front getötet werden kann."
"Es ist abscheulich", sagt hingegen Andrij. Die Regierung wolle nur der ukrainischen Öffentlichkeit zeigen, dass sie diejenigen bestrafe, die für viele als Verräter gelten. Doch von den Maßnahmen seien auch Männer betroffen, die schon lange vor Kriegsbeginn im Ausland lebten – keine gute Idee, so der 28-Jährige. "Du fängst an zu denken, dass dein Reisepass toxisch ist." Manche würden dann versuchen, Pässe aus anderen Ländern zu erhalten – die Einbürgerung als Lösung.
Wie fast alle Ukrainer kennen Andrij und Vitali aktive Soldaten im Krieg. Andrijs ehemaliger Lebensgefährte wurde schon lange gemustert, wie er erzählt. Mit ihm habe er seitdem nur einmal gesprochen. Der beste Freund von Vitali ist laut dem 32-jährigen Westukrainer gerade an der Front in der Region Donezk. "Nur zehn Kilometer vom russisch besetzten Gebiet entfernt", sagt er. "Es war sein Wunsch, dorthin zu gehen. Er ist sehr diszipliniert und schlau." Vitali telefoniert mit seinem besten Freund einmal alle paar Wochen. "Er hat mir nie gesagt, dass ich mich der Armee anschließen sollte. Aber er wollte, dass ich ihm Bilder aus Berlin schicke."
Keiner der beiden Männer glaubt daran, dass Russland je das gesamte Territorium der Ukraine kontrollieren kann. "Sie haben uns zu viel angetan", sagt Vitali. Die Ukrainer würden eine russische Besetzung nicht hinnehmen. "Das Land wird weiter bestehen", ist sich auch Andrij sicher. Und was, wenn es doch anders kommt? "Ich würde nie zurückkommen, ich möchte nichts mit Russland zu tun haben", sagt der 28-Jährige.
*Beide Protagonisten wollten anonym bleiben.
Sendung: Radioeins, 20.08.2024, 17:40 Uhr
Beitrag von Juan F. Álvarez Moreno
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