Suizidprävention | Interview
Seit 2003 gilt der 10. September als "Welttag der Suizidprävention", an dem für das Thema sensibilisiert werden soll. Winfried Glatz arbeitet für den Berliner Krisendienst und spricht täglich mit Menschen, die in ihrem Leben keinen Sinn mehr sehen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Association for Suicide Prevention (IASP) haben 2003 erstmals den 10. September als "Welttag der Suizidprävention" ausgerufen. Er soll dazu dienen, Menschen mit Suizidgedanken Auswege aufzuzeigen. Zahlen des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg zeigen, dass es in der Region seit 2017 mehr Suizide gibt.
Winfried Glatz arbeitet für den Krisendienst Berlin-Pankow und Reinickendorf. Im Gespräch mit rbb|24 zeigt er Möglichkeiten auf, die Betroffene zum Umdenken bringen können.
rbb|24: Herr Glatz, was tun sie, wenn jemand anruft und sagt, er oder sie würde gerade über Suizid nachdenken?
Winfried Glatz: Genau das habe ich heute im Dienst schon gehabt. Meistens ist es so, dass jemand damit nicht direkt ins Gespräch einsteigt. Wenn Suizidgedanken geäußert werden, geht es dann zuerst darum, ein bisschen mehr zu erfahren: Wie akut ist das? Wie unmittelbar ist eine Absicht? Da gibt es eine Reihe von Fragen, mit denen man das ein bisschen besser abschätzen kann.
Was wäre so eine Frage, die sie dann stellen?
Eine Frage ist, ob es schon mal einen Suizidversuch in der Vergangenheit gegeben hat. Das ist ein sehr starker Hinweis für eine akute Situation. Und dann, wie konkret diese Gedanken sind, also wenn die Person sagt: Ja, ich habe mir das so und so vorgestellt. Oder ist es mehr: So möchte ich nicht mehr leben. Wenn es keine konkrete Vorstellung gibt, ist die Gefahr weniger akut. Wenn es konkret ist, dann muss man weiter fragen: Gibt es schon konkrete Vorbereitungen? Auch die Lebenssituation sollte erfragt werden. Da gibt es bestimmte Faktoren, bei denen die Suizidalität statistisch sehr viel höher ist. Zum Beispiel: Mann, höheres Alter, Einsamkeit oder chronische Krankheiten.
Wenn Sie die Lage als sehr ernst und vielleicht lebensbedrohlich einstufen, was machen Sie dann?
Grundsätzlich sollte das keine kühle Abschätzung sein, wie es jetzt vielleicht klingt, sondern es ist wichtig, mit der Person in einen menschlichen Kontakt zu kommen. An die Betroffenen gerichtet: Sich zu isolieren, damit alleine zu sein, das ist was ganz Ungünstiges. Sobald ein Mensch sich öffnet, jemandem davon erzählt, ist es schon mal eine Sache, die sehr präventiv ist.
Also im Gespräch bleiben, hilft.
Da geht es dann um die Frage: Wie kann sich jemand von der Suizidabsicht, den Gedanken distanzieren. Wenn jemand hier anruft, dann ist es in der Regel so, dass die Person noch nicht so weit ist, es einfach machen zu wollen und dabei nicht gestört zu werden - denn sonst würde sie nicht hier anrufen.
Ein ziemlich wichtiger Punkt ist: Was ist das Motiv dahinter? Kaum ein Mensch hat den Wunsch, sich zu töten oder tot zu sein. Sondern eher: Ich möchte so nicht mehr leben, ich halte das nicht mehr aus. Oder ich brauche eine Pause, das ist gerade alles viel zu viel. Ich will eine Stopptaste drücken, damit das alles ruhig ist. Und wenn man dieses Motiv dahinter herausfindet, dann gibt es oft auch Möglichkeiten, die derjenige jetzt wegen seines Tunnelblicks vielleicht gerade nicht so sieht - oder keine Hoffnung hat, diese Pause auf eine weniger endgültige Art zu erreichen. Dann hat man einen Ansatzpunkt.
Weisen Sie dann auf Alternativen hin?
Ja. Wenn jemand sagt, das halte ich nicht mehr aus, dann kann man gucken: Gibt es vielleicht auch eine Möglichkeit, sich komplett rauszuziehen und zu verschwinden, ohne sich das Leben zu nehmen? Man hat dann einen konkreten Ansatzpunkt, der in der individuellen Situation des Anrufers liegt.
Wenn ich davon ausgehe, die Person will das selber auch nicht oder ist zumindest sehr ambivalent, dann ist abzuklären: Schafft sie es, sich zu distanzieren? Zu sagen: Ich habe solche Gedanken, die sind auch dringend, aber die nächsten zwei Tage mache ich jetzt noch nichts. Außerdem natürlich die Faktoren: Was hält jemand im Leben? Ganz oft sind es andere Menschen, Familie, Kinder, denen sie das nicht antun wollen, oder die Katze ist da. Wer soll die versorgen?
Und diese "Anker" betonen sie dann in dem Gespräch?
Nicht nur. Man muss im Prinzip beide Seiten erfragen. Wenn jemand anruft und sagt, ich kann nicht mehr, ich möchte weg sein – diese Seite hat auch ihre Berechtigung. Meine Erfahrung ist: Jemand sagt so etwas, der Gesprächspartner geht auf die positive Seite und sagt, aber guck doch mal – und dann gibt es so eine Polarisierung. Dann muss die Person ja sagen: Nee, aber mir geht es auch wirklich schlecht und geht auf die negative Seite. Wenn man sich nur auf das Positive konzentriert, kann das also auch ungünstig sein. Aber wir müssen diese Seite trotzdem mit bewusst machen.
Wenn diese Distanzierung nicht gelingt, die Person sich aber nicht gefährden möchte, dann käme infrage, eine Klinik zu empfehlen, wo es Schutz gibt. Oft gibt es auch die Möglichkeit, ein möglichst enges Netz zu machen, mit Kontakten zu Angehörigen. Manchmal kommen auch Leute mit so einer Problematik, und da sind Angehörige mit dabei, die sich Sorgen machen. Oder man vereinbart mit Betroffenen: Morgen kommen Sie wieder, wir machen einen Termin und die Person kann zusichern, dass sie sich bis morgen nichts antut beziehungsweise vorher Kontakt aufnimmt. Das ist ein sogenannter Anti-Suizid-Pakt. Das hilft nicht zu 100 Prozent, ist aber trotzdem ein sinnvolles Hilfsmittel.
Inwiefern gibt es einen Unterschied dazwischen, dass Suizidgedanken aus einer schweren Lebenskrise entspringen oder aus einer chronischen, unheilbaren Krankheit?
Naja, eine chronische, unheilbare Krankheit kann eine schwere Lebenskrise auslösen. Da ist die Frage der Hoffnungslosigkeit, und dass sich an der Situation womöglich tatsächlich erstmal nichts ändern wird. Eine Lebenskrise oder Depression kann das gleiche Gefühl hervorbringen, dass es nie mehr etwas wird. Aber objektiv ist es dann anders.
Es kann auch passieren, dass ich eine Situation geschildert kriege, in der ich auch nicht weiter weiß. Dann geht es bei Schwerkranken vielleicht um Sterbehilfe oder bestimmte Maßnahmen nicht mehr zu machen. Das sind aber in der Regel längere Prozesse und keine impulshaften Suizidhandlungen.
Sie haben vorhin gesagt, deutlich mehr Männer begehen Suizid. Haben sie dafür mögliche Erklärungen?
Das Verhältnis Männer zu Frauen ist bei Suiziden tatsächlich ungefähr drei zu eins. Bei Suizidversuchen ist es umgekehrt. Das ist viel häufiger bei Frauen. Männer wählen häufiger harte Methoden, die zuverlässiger funktionieren. Und es passiert öfter, dass sie sich bei Problemen keine Hilfe suchen. Das fällt Männern viel schwerer.
Es ist bei den meisten Beratungsstellen so, dass doppelt so viel Frauen Hilfe suchen wie Männer. Männer buchen Hilfesuchen eher als Misserfolg. Und sie haben eine stärkere Handlungsorientierung: Probleme werden durch Handeln gelöst. Das kann manchmal positiv sein, zum Beispiel im Umgang mit einer Depression, aber im Falle von Suizidgedanken ist es natürlich äußerst ungünstig.
Ich glaube, der Umgang mit Gefühlen ist auch ein wichtiger Punkt. In so einer Situation wird man von Gefühlen überschwemmt, und damit haben Männer in aller Regel viel weniger Erfahrung. Eine Lösung ist dann, sich Gefühle vom Leib zu halten, sie eher wegzudrücken. Das bedeutet, dass damit auch positive Gefühle weggedrückt werden und die Wahrscheinlichkeit, das Leben als hoffnungslos zu betrachten, ist größer. Sie haben ganz oft nicht gelernt zu akzeptieren, dass man jetzt gerade nichts machen kann, sondern dass man eine Situation manchmal einfach aushalten muss.
Sie haben beruflich vermutlich schon häufiger mit Menschen gesprochen, die Suizidversuche überlebt haben. Gibt es da etwas, was die meisten in ihren Erfahrungen eint?
Meine Erfahrungen sind da anekdotisch. Ein deutlich überwiegender Teil der Menschen ist hinterher froh, dass es nicht gelungen ist. Häufig ist es auch eine Ambivalenz, gibt es widerstreitende innere Anteile - und dann hat sich die Fraktion, die weiterleben wollte, letztendlich durchgesetzt. Dann ist es eine Erfahrung, eine Situation, die völlig aussichtslos schien, bewältigt zu haben. Das ist wieder etwas enorm Präventives, wenn jemand später wieder in so eine Situation kommt: Es kann wieder besser werden, ich habe es erlebt, das Leben ist nicht vorbei. Das ist oft auch der Nachteil von Jüngeren, die haben diese Erfahrungen noch nicht gemacht. Sie denken zum Beispiel, die Beziehung ist geplatzt, das wird nie wieder was. Es hilft, zu erleben, dass dieses Empfinden, es geht gar nichts mehr, nicht zuverlässig ist.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anna Bordel / rbb|24
rbb|24 berichtet in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche. Ausnahmen machen wir nur bei besonderen Umständen.
Sollten Sie selbst Selbsttötungsgedanken haben oder Gedanken, sich selbst Schaden zuzufügen, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Es gibt Hilfsangebote vor Ort, telefonisch, per Chat oder Mail. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar, auch anonym. Telefon: 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222.
Weitere Anlaufstellen gemeinnütziger oder städtischer Organisationen für Berlin sind auf berliner-notruf.de aufgelistet. Hilfsangebote in Brandenburg und überregional finden sich z.B. auf suizidprophylaxe.de (Webseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention).
Sendung: rbb24 Inforadio, 10.09.2024, 10:30 Uhr
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