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Invasive Art
Bisher wurden die rund 200.000 jährlich in Deutschland erlegten Waschbären entsorgt und zu Hundefutter verarbeitet. "Eine riesige Verschwendung", sagt Michael Reiß. Er verarbeitet die Tiere für den menschlichen Verzehr. Von J. Lichnau und P. Rother
Geduldig zupft Michael Reiß in seiner Fleischerei in Kade (Sachsen-Anhalt) einen Schweinedarm in die richtige Position. Dann verknotet er das eine Ende der dünnen Haut und startet die Wurstmaschine. Innerhalb kürzester Zeit purzelt eine Vielzahl an Bratwürsten auf den Tisch vor dem Fleischer.
Im Trichter der Maschine ist aber nicht durchgedrehtes Rind- oder Schweinefleisch wie in anderen Metzgereien. Reiß arbeitet mit Fleisch von Waschbären. Aus 15 Tieren macht er ungefähr 300 Bratwürste. Er verarbeitet die Allesfresser aber auch zu Soljanka, Knacker, Hackbällchen und Frühstücksfleisch.
Reiß ist gelernter Kfz-Mechaniker, lange betrieb er eine eigene Werkstatt. Nebenher jagte der 45-Jährige. Seine Reviere befinden sich um Wusterwitz, in Herrenhölzer (beide Potsdam-Mittelmark) und bei Zollchow (Havelland) im Westen Brandenburgs. Weil er seine geschossenen Rehe, Hirsche und Wildschweine selbst verarbeiten wollte, hat sich Reiß zum Metzger ausbilden lassen und eine eigene Wildfleischerei samt Hofladen eröffnet, die Wildererhütte Kade.
Seine Freundin dokumentierte alles im Internet. Schnell kamen 20.000 Follower bei Instagram zusammen. Das Jerichower Land wurde so auf Reiß aufmerksam, und fragte nach, ob er den Landkreis bei der Grünen Woche 2023 vertreten wolle.
Reiß sagte zu, wollte aber nicht mit seinen normalen Wildprodukten nach Berlin fahren. "Ich wollte etwas Besonderes machen", berichtet der 45-Jährige. Schnell kam ihm die Idee, Waschbären zu verarbeiten. Auf der Agrarmesse präsentierte der Sachsen-Anhalter dann erstmals seine Waschbärbällchen. Die Reaktionen seien unterschiedlich, aber positiv ausgefallen, sagt Reiß.
Seitdem hat der zweifache Vater sein Sortiment sukzessive erweitert und steht damit deutschlandweit im Fokus – auch in Japan wurde über seine Produkte und seine Wildererhütte schon berichtet: "Es ist ein richtiger Hype entstanden – die Menschen kommen aus Potsdam, aus Bad Freienwalde und Leipzig in meinen Hofladen", sagt Reiß. Auch einen Onlineshop hat er daher schon eingerichtet.
Im Jahr 1934 wurden zwei Waschbärenpaare am hessischen Edersee ausgesetzt. Von dort aus breiteten sich die Tiere über die Jahrzehnte in ganz Deutschland aus. Sie vermehren sich stark und haben keine natürlichen Feinde. Zudem bedrohen sie heimische Tierarten wie Wasservögel und Jungwild. Trotz intensiver Bejagung wächst die Population stetig. Mittlerweile werden die Waschbären als problematische invasive Art und somit als "Plage" betrachtet. "Für ein erlegtes Tier, rücken zwei nach", erklärt der Mann aus dem Jerichower Land.
Waschbären unterliegen dem Jagdrecht. Das bedeutet, dass nur ein Jäger die Tiere einfangen oder gar töten darf. Grundstückseigentümer dürfen sie in befriedeten Bezirken (Gärten, Gebäude) nur in bestimmten Fällen fangen. An dieser Stelle kommt Reiß ins Spiel: "Die Leute bringen die lebenden Tiere zu mir, kommen extra aus Falkensee und Berlin-Spandau, fahren fast 100 Kilometer – es ist verrückt", berichtet der 45-Jährige. Auch andere Jäger bringen ihm mittlerweile Waschbären: "Die sind froh, dass sie die erlegten Tiere nicht mehr selbst entsorgen müssen." Zehn Euro zahlt Reiß pro Tier. Der Jäger aus Kade stellt in seinen Revieren aber auch selbst Lebendfallen auf. Waschbären lieben die vielen Tümpel und Schilfgürtel in dem rund 2.000 Hektar großen Gebiet.
Im Jagdjahr 2022/23 wurden nach Angaben des Landesjagdverbandes Brandenburg allein in Brandenburg rund 30.000 Waschbären erlegt, fast zehn Prozent mehr als im Jagdjahr zuvor. "Die Waschbären sollten nicht umsonst getötet werden. Die sollen nicht weggeworfen, sondern verwertet werden. Von der Idee habe ich, glaube ich, einige Menschen überzeugen können", sagt Reiß mit Stolz.
Bisher wurden die rund 200.000 jährlich in Deutschland erlegten Waschbären entsorgt und zu Hundefutter verarbeitet. "Eine riesige Verschwendung von völlig unbedenklichem und schmackhaftem Fleisch", sagt der Mann aus Kade.
Rund zehn Waschbären pro Woche erlegt und verarbeitet Reiß. Das Fleisch der Tiere wird vor der Weiterverarbeitung amtlich untersucht. Zudem werden Proben im Labor auf Parasiten wie Trichinen untersucht. Auch Wildschweinfleisch muss diese Schleife durchlaufen.
"Mein Waschbärfleisch wird intensiver kontrolliert als viele andere Lebensmittel", erklärt Reiß: "Es ist vollkommen unbedenklich." Der Geschmack ist eher intensiv, wie bei Wild üblich. Es ist aber weicher als das Fleisch vom Wildschwein oder Hirsch.
Andere Fleischer haben die Idee aber offenbar noch nicht übernommen. "Ich kenne niemanden, bei mir hat sich auch niemand gemeldet", sagt der Metzger. "Vermutlich ist das aus kommerzieller Sicht auch eher abschreckend", vermutet Reiß. Die Parasitenuntersuchung koste pro Tier fast 14 Euro, auch für die Fleischbeschau müsse gezahlt werden.
"Wenn ich den Waschbär nicht selbst gefangen habe, sind wir schon bei mehr als 25 Euro Fixkosten ohne die Arbeitszeit pro Tier. Und ein Tier bringt nur 1,5 bis 2,5 Kilo Fleisch", so der 45-Jährige. Die Gewinnmarge sei nicht die größte. Dennoch lohne sich das Geschäft: "Die Kunden kaufen gleichzeitig ja auch andere Produkte."
Waschbären kommen ursprünglich aus Nordamerika. Dort werden die Tiere schon länger auch gegessen. In Europa wurde bisher fast ausschließlich das Fell verarbeitet. Das hat Reiß geändert. Und er hat weitere Pläne: In den kommenden Monaten wird er Waschbären für die Doktorarbeit einer Tierärztin zur Verfügung stellen. Sie will am Institut für Lebensmittelsicherheit und -hygiene der Freien Universität Berlin die Verbraucherakzeptanz von Waschbärenfleisch als Lebensmittel erforschen. Schon jetzt läuft dazu eine Umfrage [limesurvey.net]. Zudem hält Reiß mehr und mehr Vorträge über seine Waschbärwurst-Produktion.
Beitrag von Jennifer Lichnau und Philipp Rother
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