Neue Studie zu Koma-Patienten
Die Berliner Charité behandelt jährlich Koma-Patienten im hohen dreistelligen Bereich. Eine neue Studie zeigt: Mehr von ihnen als bislang geahnt könnten doch noch etwas von ihrer Umwelt wahrnehmen. Farid Salih von der Charité hat täglich mit ihnen zu tun.
rbb|24: Hallo Herr Salih, welche Patienten betreuen Sie im Rahmen Ihrer Arbeit als Facharzt für Neurologie der Charité?
Farid Salih: Ich bin oberärztlich zuständig für eine Intensivstation, auf der Patienten mit schwersten neurologischen oder neurochirurgischen Krankheitsbildern liegen. Das umfasst sämtliche Erkrankungen des Gehirns, des Rückenmarks und der peripheren Nerven, die einen Menschen in einen schwerstgeschädigten Gesundheitszustand bringen. Mit Bewusstseinsstörungen, schweren Lähmungen, Störungen der Atemregulation. Um einige gängige Diagnosen zu nennen: Wir behandeln Patienten und Patientinnen mit Schädel-Hirn-Traumata, Verletzte aus Verkehrsunfällen oder Stürzen. Wir betreuen Patienten mit Schlaganfällen, also Hirninfarkten, bei denen ein großer Teil des Gehirns nicht mehr durchblutet wird. Bei uns liegen auch Patienten mit Gehirn-Blutungen, Patienten, die Entzündungen oder Infektionen des Gehirns oder seiner Hirnhäute entwickeln und auch Patienten mit schweren epileptischen Anfällen.
Darunter sind ja auch immer wieder Koma-Patienten. Wie kommt es zu Koma-Fällen?
Prinzipiell ist die Regulation unseres Bewusstseins im Gehirn verortet. Für unsere Wachheit ist eine Art Orchester aus unterschiedlichen Gehirnarealen mit unterschiedlichen Playern zuständig, die miteinander in Kontakt treten in der Tiefe des Gehirns bis hin zur Großhirnrinde. Wenn in diesem Bereich eine Schädigung auftritt, kommt es zu Bewusstseinsstörungen. Wenn diese und die zugrunde liegende Schädigung sehr ausgeprägt sind, kann das zum Koma führen. Dafür gibt es nicht die eine Ursache. Sondern die Ursachen umfassen jene Krankheitsbilder, die ich in den vorher skizzierten Diagnosen aufgelistet habe. Wir sehen also beispielsweise Patienten im Koma, bei denen ein großer Schlaganfall vorliegt. Oder eine Blutung in genau den Arealen, die für die Bewusstseinsregulation zuständig sind. Oder auch bei Patienten mit sehr diffusen Beeinträchtigungen der Hirnfunktionen, wie wir sie bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand sehen. Da liegt die Ursache außerhalb des Gehirns, doch alle anderen Organe – auch das Gehirn – hatten für eine Zeitlang keine Blutzufuhr und damit keinen Sauerstoff. Da handelt es sich dann um eine globale Schädigung des Gehirns.
Aber auch Patienten mit Schädel-Hirn-Traumata, also mit schweren Verletzungen das Gehirn betreffend, Patienten mit Blutungen aber auch mit entzündlichen Erkrankungen können im Koma sein. Eine ganze Reihe an unterschiedlichen Diagnosen und Ursachen können also zum Koma führen. Das ist gleichzeitig die große Herausforderung für uns, wenn ein Patient im Koma zu uns in die Klinik kommt. Denn wir versuchen dann herauszubekommen, woran es liegt. Auch, um auszuloten, ob es eine Ursache gibt, die wir gezielt behandeln können.
Gibt es eigentlich sowas wie ein Wachkoma?
Das ist ja erst einmal ein etwas unpräziser bzw. paradoxer Begriff, den man in der Medizin so nicht benutzt. Wir nennen es "Syndrom der unresponsiven Wachheit". Gemeint ist der Zustand, wenn ein Mensch im Rahmen einer schweren Gehirnschädigung zwar die Augen offen hat oder öffnen kann, sonst aber auf der geistigen oder der Verhaltensebene alle Stigmata eines komatösen Patienten aufweist. Also nicht auf seine Umwelt reagiert und diese und sich selbst nicht wahrnimmt, ihm nur ganz basale Funktionen, die in tieferen Hirnregionen verortet sind, wie Augen öffnen, Atmen und Schlucken, zur Verfügung stehen.
Wie viele Koma-Patienten behandelt die Charité?
Wenn man nach den codierten Diagnosen schaut, sprechen wir von einer mittelhohen dreistelligen Zahl pro Jahr auf den unterschiedlichen Intensivstationen der Charité. Darunter sind Patienten, die nur sehr kurzfristig ein Koma aufweisen – aber auch Patienten, die die Charité im Koma verlassen. Um beispielsweise in eine neurologische Früh-Reha-Klinik verlegt zu werden.
Wachen Koma-Patienten auch – so wie im Film - mitunter überraschend wieder auf und können wieder ganz die Alten sein?
Jemand, der über viele Jahre im Koma war, dann aufwacht und dann der Alte ist – das ist Hollywood. Es wachen aber Koma-Patienten auf und sind wieder die Alten. Ob das passiert, ist von der Ursache des Komas abhängig. Wir haben beispielsweise regelmäßig Patienten, die wegen ausgedehnter, langanhaltender epileptischer Anfälle im Koma sind. Wenn uns gelingt, diesen Zustand zu durchbrechen, ist es so, dass die Patienten relativ schnell – binnen weniger Stunden oder Tage – wieder ihr normales Bewusstseinsniveau erreichen können.
Eine neue Studie zeigt, dass viele (noch mehr als zuvor schon vermutet) äußerlich reaktionslose Koma-Patienten doch im Gehirn kognitiv auf Ansprache von Außen reagieren. Überrascht Sie das?
Wenn man sich über viele Jahre mit Koma-Formen und -Ursachen und den Studien dazu befasst, ist die neue Studie nicht überraschend. Sie hat Patienten mit einer schweren Bewusstseinsstörung, die gemäß den gängigen klinischen Methoden (die sogenannte Coma Recovery Scale, derer wir uns hier auch bedienen) kaum oder keine Reaktionen gezeigt haben, im Fokus. Man hat diese Patienten einerseits mithilfe eines MRTs untersucht. Da wurde geschaut, ob sich bestimmte Gehirnareale aktivieren, wenn man den Patienten Aufgaben stellt. Sowas wie: "Stellen Sie sich vor, sie bewegen Ihre rechte Hand." Dann hat man zusätzlich auf die Ableitung von Hirnströmen geschaut. Dabei werden Elektroden auf die Kopfoberfläche geklebt und man schaut auf Aktivitätsmuster in den oberflächlichen Gehirnarealen, der Gehirnrinde. Man sucht nach spezifischen Wellen, die im Koma beispielsweise eher flach oder verlangsamt sind.
Im Rahmen der Studie wurden den Patienten dann dieselben Aufgaben wie im MRT gestellt und geschaut, ob es dann zu einer Aktivierung der Hirnaktivität kam. Also ob sich an den genannten Wellen etwas verändert. Und in der Tat hat sich in dieser Studie mit über 350 Patienten gezeigt, dass jeder vierte – also ziemlich genau 25 Prozent – in diesen zusätzlichen Untersuchungen durchaus Reaktion bzw. Aktivierung zeigt. Das ist qualitativ kein ganz neuer Befund. Besonders ist aber, dass diese Studie nicht von einem bestimmten Untersucher-Team kommt, sondern verschiedene Einrichtungen haben genau das gleiche gefunden. Und, anders als in vorherigen Studien, bei denen weniger Patienten untersucht worden sind, liegt der Anteil der reagierenden Patienten jetzt doch noch einmal deutlich höher. Zuvor lag man bei zehn bis manchmal zwanzig Prozent. Dass es in der neuen Studie 25 Prozent sind, die reagiert haben, ist ein sehr bemerkenswertes Ergebnis.
Was bedeutet das Ergebnis für Ihre Arbeit?
Es beauftragt uns, mehr in diese Richtung zu forschen. Aber es beauftragt uns auch, im klinischen Alltag sehr, sehr genau hinzuschauen, ob wir Patienten haben, die irreversible schwerste Hirnfunktionseinschränkungen haben – oder ob es doch potenzielle Kandidaten sein könnten, die mit viel Rehabilitation vielleicht doch irgendwann in einen Zustand kommen, wo man auch klinisch Reaktionen wahrnimmt, mit denen man arbeiten kann. So gehen wir zwar ohnehin vor, aber die neue Studie erhärtet diese Haltung noch einmal.
Was sich in der Studie gezeigt hat, ist, dass die 25 Prozent, die diese Reaktionen gezeigt haben, im Vergleich zu den anderen Patienten, die diese Reaktionen nicht gezeigt haben, durchschnittlich mit einem Alter von 30 Jahren deutlich jünger war. Patienten ohne Reaktion waren im Schnitt 15 Jahre älter. Die Reaktionen zeigten sich zudem vorwiegend bei Patienten mit Schädel-Hirn-Traumata und weniger bei Patienten mit spontanen Gehirnblutungen oder nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Die meisten der Patienten, die den Befund dieser sogenannten "cognitive motor dissociation" aufwiesen – also eine Dissoziation zwischen motorischer und kognitiver Reaktion – waren schon länger in diesem Zustand. Der Auslöser lag bereits im Schnitt zehn Monate zurück.
Was kann man daraus ableiten?
Dass es durchaus wichtig ist, dass man sich bei der Behandlung von Patienten, bei denen die Prognose nicht von vornherein nicht sehr schlecht und limitiert ist, mehr Zeit lässt. Wir sprechen hier von Monaten, die diese Patienten in spezialisierten Reha-Einrichtungen verbringen sollten. Denn die Studie hat gezeigt, dass der Anteil derer, die diese Reaktion in der Ableitung der Hirnströme oder in der funktionellen Bildgebung zeigen, nach zehn Monaten signifikant höher ist als wenn man sie schon nach drei, vier Monaten macht.
Hat die Studie für Sie auch gezeigt, dass es auf Ihren Stationen mehr Patienten geben müsste, die über Bewusstsein verfügen, als Sie bislang dachten?
Da die Charité eine universitäre Einrichtung ist und wir die Literatur und die Forschungsergebnisse auch in den letzten Jahren sehr aufmerksam verfolgt haben, ist bei uns im Umgang mit Koma-Patienten sowieso die Haltung studienbasiert so, dass wir immer davon ausgehen, dass minimale Bewusstseinserlebnisse vorhanden sein könnten und das auch sehr genau testen.
Was bedeutet das im Alltag?
Es bedeutet beispielsweise im direkten Umgang mit diesen Patienten, dass wir mit ihnen kommunizieren. Wir stellen uns auch den Koma-Patienten vor, wenn wir an ihr Bett treten. Wir sagen ihnen, welcher Tag ist und wir sagen ihnen vor allen Dingen auch, was wir machen, wenn wir sie untersuchen oder auch bei pflegerischen Maßnahmen. Bei der Annahme, wie viele von diesen Informationen wirklich ins Bewusstsein gelangen, muss man sehr vorsichtig sein. Darauf muss man auch hinsichtlich der neuen Studie hinweisen.
Inwiefern?
Die neue Studie führt nicht zu der Erkenntnis, dass die Patienten, die Reaktionen gezeigt haben, alles umfassend erleben, was um sie herum passiert. Es handelt sich nicht um Patienten, die in ihrem Körper gefangen sind und die sonst alles um sie herum mitbekommen. Es sind Patienten, die schwerste Bewusstseinsstörungen haben. Es ist unklar, was es für das einzelne Individuum bedeutet, wenn im MRT etwas aufleuchtet auf die Anweisung, sich vorzustellen, die Zahnbürste mit der rechten Hand zu greifen. Wir gehen in unserem Alltag dennoch davon aus, dass ein Teil der externen Reize – also von dem, was um das Patientenbett herum passiert – bei den Patienten ankommen könnte.
Was ist ihre Empfehlung für die Angehörigen der Koma-Patienten?
Wir raten den Angehörigen, mit den Patienten zu sprechen. Ihnen zu erzählen, was im Alltag und was im familiären Umfeld passiert. Wir empfehlen ihnen auch, persönliche Dinge wie das persönliche Deodorant des Patienten mitzubringen. Denn nicht alles läuft ja über Akustik. Mithilfe des persönlichen Geruchssinns können sich die Patienten unter Umständen besser an die Umgebung gewöhnen. Wir raten den Angehörigen auch, die Erkrankten zu berühren. Die Hand auf den Arm zu legen, sich auch mal anzulehnen. Alles unter der Vorstellung, dass ein Teil dieser äußerlichen Reize über unterschiedliche Sinneseindrücke durchaus in der Tiefe des Bewusstseins ankommen kann. Objektivieren kann man das aber nur, wenn man auch klinische Reaktionen sieht.
Von welchen Reaktionen sprechen wir da?
Wenn man sieht, dass der Patient beispielsweise mit seiner Hand reagiert oder den Kopf ein wenig wendet, wenn man ihn berührt. Oder wenn man dabei Ausschläge auf dem Herz-Kreislauf-Monitor sieht. Wenn man solche Reaktionen reproduzierbar sieht, so etwas skizziert auch die Aufwachphase, dann können wir sicher sein, dass eine Reagibilität vorhanden ist. Wir empfehlen den Angehörigen und unseren Kollegen und Kolleginnen aber auch, wenn wir solche Reaktionen nicht sehen, Kontakt aufzunehmen.
Außerdem bekommen die Koma-Patienten bei uns auch Physio-Therapie, Krankengymnastik von Mitarbeitenden mit einer Fachausbildung, die zu uns auf die Intensivstation kommen. So werden die Patienten motorisch und sensorisch stimuliert. In der Intensivmedizin wird auch zunehmend Musiktherapie angewandt. So bekommt das Gehirn, salopp gesagt, Futter, um Signale zu verarbeiten. Das Ziel ist dabei, dass die Gehirnareale, die nicht beschädigt sind, einen Teil der Funktionen wieder übernehmen können. Und dass sich neue Verbindungen zwischen Nervenzellen einstellen. Sodass der Patient einen Teil seiner neurologischen Fähigkeiten wieder erlangt.
Passiert das denn regelmäßig? Gibt es Patientenschicksale, die sie besonders berührt oder über die Sie sich besonders gefreut haben?
Das gibt es immer wieder. Also dass wir Patienten über Wochen mit einer schweren Gehirnschädigung betreuen, die teils in komatösem Zustand in eine Reha-Klinik verlegt werden, weil wir denken, dass es ein Potential gibt und man therapeutisch die Flinte noch nicht ins Korn werfen sollte. Ich erinnere mich an einen jungen Mann mit einer schweren Hirnhautentzündung, der über viele Wochen in tiefem Koma lag. Er steht mittlerweile wieder voll im Leben und kann mit seinen beiden Kindern Skifahren. Und kürzlich hat sich die Ehefrau eines ehemaligen Patienten gemeldet. Ihr Mann hatte eine schwere Gehirnblutung vor zwei Jahren. Damals musste ich die Frau in den Prognosegesprächen etwas im Unklaren lassen darüber, was eine Reha bewirken könnte. Ich konnte ihr nur sagen, dass er, der hier bei uns künstlich beatmet wurde und der ohne Reaktion war, das Potential hat, wieder Lebensqualität zu erreichen. Sie mailte mir jetzt, dass sie mit ihrem Mann einen ambulanten Termin in der Charité hat und dass die beiden gern bei uns auf der Station vorbeischauen würden. Ihr Mann, das schrieb mir die Frau, habe noch Sprachprobleme, fahre aber jetzt wieder Fahrrad.
Das nährt auch unsere Motivation, mit diesen schwerstkranken Patienten in der Akutphase umzugehen. Es macht den Alltag erträglich. Denn in diesem verbergen sich sehr viele schwere Schicksale und Tragödien. Viele Patienten verlassen unsere Station auch nicht mehr, sondern sterben bei uns.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
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