Insektenretter in Berlin
Wer in Berlin ein Wespennest loswerden will, landet oft bei Christian Görs. Der siedelt ehrenamtlich fast täglich Nester um - und bringt sie mit Bus und Bahn aufs Land. Ein Tag mit einem Mann, dem Wespen lieber sind als Menschen. Von Pauline Pieper
"Wie kann man denn das nicht merken?", motzt Christian Görs. Er steht vor einem Lagerregal im Hinterhof eines Teppichladens auf der Hermannstraße in Neukölln. Aus einer Teppichrolle wächst ein grau-braunes Gebilde, das aussieht wie ein angetrockneter Misthaufen. An den Insekten, die pausenlos hinein und hinaus fliegen, erkennt man schnell, was das ist: ein Wespennest.
"Das bauen die hier doch schon seit Monaten", sagt Görs und schaut in den Teppichladen hinein, auf der Suche nach dem Geschäftsführer, der ihn hergebeten hat. Dort kniet ein Mann auf einem Teppich und betet. Er reagiert nicht. "Deswegen arbeite ich lieber mit Wespen als mit Menschen", murmelt Görs und beginnt seinen Reiserucksack auszupacken. Imkeranzug, Kescher und quadratische Gitterbox kommen zum Vorschein.
Der 32-jährige Christian Görs siedelt ehrenamtlich Insektennester um – fast jeden Tag. Er ist Helfer beim Naturschutzbund Berlin (Nabu). Bei einem vom Senat geförderten Projekt [berlin.nabu.de] kann man Wespen-, Bienen-, Hornissen- und Hummelnester melden. Sie selbst zu entfernen, ist verboten und kann hohe Strafen nach sich ziehen. Denn die Tiere stehen unter Naturschutz. Nur wenn Gefahr droht, darf man sie töten.
Dazu komme es aber nur in ein bis drei Prozent der Fälle, sagt Stephan Härtel vom Nabu. Entweder arrangierten sich die Leute mit den Nestern – oder die würden verlegt. Etwa 75 Wespennester hätten sie dieses Jahr schon umgesiedelt und ebenso viele Hornissen- und Hummelnester. Umgesiedelt, nicht entfernt, betont der Biologe. "Wir bekämpfen nicht und entfernen, sondern wir siedeln um und retten."
Aus diesem Grund hat auch der Geschäftsführer des Teppich-Paradies' in Neukölln den Nabu kontaktiert. Yakup Kaya kommt aus dem Laden und begrüßt Görs, der Der zieht sich gerade den Schutzanzug über seine schwarz-gelb gestreifte Hose.
"Ich hätte sie auch töten können, aber ich bin Tierliebhaber", sagt Kaya gut gelaunt. "Es ist richtig, dass sie uns angerufen haben", entgegnet Görs. Und hakt nach: "Aber warum müssen sie denn überhaupt weg?" Ob Kaya nicht wisse, dass die Wespen mit dem Ende des Sommers sowieso sterben?
Der Teppichhändler wirkt überrascht. Viele Leuten wüssten nicht, dass Wespen nur eine Saison leben, erklärt Görs. Eine Wespenkönigin beginnt im Frühling mit dem Nestbau, versorgt ihre Nachkommen und zeugt etwa im August neue Königinnen. Diese suchen sich einen Platz zum Überwintern und gründen im nächsten Jahr neue Nester. Die alte Königin stirbt mit ihrem Volk und lässt ein leeres Nest zurück.
Teppichhändler Kaya will die Wespen trotzdem loswerden. Er macht sich Sorgen, dass seine Mitarbeiter oder Kunden gestochen werden könnte - und er will den Teppich noch verkaufen, in dem sich die Wespen ihr Zuhause gebaut haben, sagt er. Görs zuckt mit den Schultern, fragt nach einer Leiter und bittet dann alle schaulustigen Mitarbeiter, die mittlerweile aufgetaucht sind, das Feld zu räumen.
Bis zu 8.000 Wespen könnten zu einem Volk der "Gewöhnlichen Wespe" gehören. Eigentlich sei der Name Gemeine Wespe verbreitet. "Aber das klingt so, als ob sie böse sind", sagt Görs. Daher nenne er sie nach ihrem lateinischen Namen - "Vespula Vulgaris" - gewöhnliche Wespe. Ihr schlechter Ruf als böse, aggressiv oder unnützlich hat die Wespe zu Unrecht, bestätigt auch Stephan Härtel vom Nabu. "Wespen sind die besseren Bienen", sagt er und zählt Gründe auf: Wespen bestäuben, sie fressen für uns gefährliche Tiere wie Mücken und Fliegen und verhindern dadurch Krankheitsübertragungen, sie verwenden Totholz für ihre Nester und sie fressen Aas.
Görs weiß das alles. Und obwohl er meckert, dass Kaya sich wegen des Nests im Teppich nicht früher gemeldet hat, ist er eigentlich dankbar: "Später freue ich mich, wenn ich das Nest habe." Er klettert die Leiter hoch, bis er auf Augenhöhe mit dem Nest ist. Die Wespen umschwirren ihn, mit einem Messer trennt er das Nest ab und verstaut es schnell in einem Eimer.
Anschließend schwenkt er einen Kescher durch die Luft, fängt einige Insekten ein und stülpt den Kescher über eine kleine Röhre, die in die gelbe Fangbox führt. Manche Tiere fliegen direkt in die Box, die anderen pustet Görs mit den Mund hinein.
Beim Entfernen des Nests spüre er das Gift der "Viecher", wie er sie liebevoll nennt, auf sein Gesicht spritzen. Die Wespen stechen auf den Kopfschutz ein. So markieren sie ihn als Feind. Görs fängt so viele Wespen ein, wie geht und pustet sie sachte eine nach der anderen in die Box – zwei Stunden lang.
Seit er denken könne, sei er fasziniert gewesen von Wespen, erinnert sich Görs. Einmal nimmt er ein vermeintlich leeres Nest mit nach Hause. Aus den Larven in der Wabe schlüpfen Wespen, die er im Kinderzimmerschrank vor seinen Eltern versteckt. Er nimmt das Nest mit in die Schule.
Die anderen Kinder finden ihn komisch. Erst als er in der Zeitung vom Nabu-Projekt liest, stellt er fest: "Es gibt noch andere so Verrückte wie mich." Die Projektleiter seien überrascht gewesen, wie viel er wisse. "Ich hatte jeden Tag stundenlang an Nestern gesessen und die Tiere beobachtet", sagt Görs und wirkt stolz. Er begleitet die Nabu-Mitarbeiter, und bekommt von der Berliner Naturschutzbehörde die Erlaubnis, Insektennester bei sich aufzunehmen. Mehr als 25 Wespen- und Hornissenvölker leben momentan auf dem Feriengrundstück der Familie in Fredersdorf. Wie viele genau, weiß Görs nicht: "Ich habe ein bisschen den Überblick verloren."
Auch das Nest aus dem Teppichladen nimmt er mit nach Hause. Er verstaut es in einer gelben Netto-Tüte. Aus einer anderen Tasche lugt die Fangbox heraus. Es summt. Geschäftsführer Kaya bedankt sich und reicht Görs 80 Euro. Damit deckt der die Kosten für Material und Deutschlandticket – denn Görs hat keinen Führerschein und transportiert die Tiere mit Bus und Bahn. Einen bezahlten Job hat er nicht.
In der U8 ist es so voll, dass man den Atem der Mitreisenden im Nacken spürt. Görs hält die Tüten mit den Tausenden Tieren fest, damit die hineindrängenden Leute sie nicht umstoßen. Ein Mann bemerkt die Wespen in Görs’ Tasche und fragt erstaunt nach. Görs erklärt ihm, dass er die Tiere für den Nabu umsiedelt, als plötzlich eine freie Wespe über die Fangbox krabbelt. Bevor sie in der überfüllten Bahn für Panik sorgen kann, fängt Görs sie mit bloßen Händen ein. "Das ist eine Drohne, die sticht nicht". Görs hält die männliche Wespe fest, bis er umsteigt und verstaut sie in einem Gefäß im Rucksack.
Es ist schon fast dunkel, als Christian Görs mit den Wespen am S-Bahnhof Fredersdorf ankommt. Jetzt warten noch drei Kilometer Fußweg auf ihn, vorbei an Reihenhäusern, bis zum Grundstück am Waldrand. Hier verbringt er fast den ganzen Sommer. Im Winter wohnt er bei seinen Eltern in Altglienicke. Die kämen mit seiner Leidenschaft zurecht. interessierten sich aber nicht groß dafür. Ein Nachbar in Fredersdorf habe sich schon über seinen Insektenzoo beschwert. Görs ist das egal.
Er stellt die Fangbox in dem kleinen Häuschen in den Kühlschrank. Durch die Kälte beruhigen sich die Insekten. Wenn sie entspannt genug sind, wird Görs das Nest in einen Holzkasten auf dem weitläufigen Grundstück klemmen. Keine ungefährliche Sache im Dunkeln. Aber sonst müsste er die Wespen im Kühlschrank alle zwei Stunden füttern. Noch bis in den Herbst hinein erwartet Christian Görs Anrufe, um Tiere umzusiedeln.
Dann kommt der Winter, den Görs hasst - denn dann gibt es keine Nester. Der Wespenretter hofft dann immer nur, dass er schnell vorbeigeht.
Beitrag von Pauline Pieper
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