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Quelle: picture alliance/dpa-tmn/C.Klose

Interview | Zivilcourage

"Bringen Sie sich nicht in Gefahr, bleiben Sie auf Abstand, bleiben Sie höflich"

Zivilcourage ist immer wieder im Alltag erforderlich. Gar nicht so leicht, wenn einem auch als Zeuge von eskalierenden Vorfällen das Herz bis in den Hals schlägt. Sophia Oppermann von "Gesicht Zeigen!" sagt, wo und wie man helfen kann - und sollte.

rbb|24: Hallo Frau Oppermann. Ihren Verein "Gesicht Zeigen!" gibt es schon sehr lange. Merken Sie, dass das Klima in Berlin rauer wird?

Sophia Oppermann: Ja, das Klima wird rauer. Aber nicht erst seit den letzten Monaten. Das zeigt sich etwa seit der Corona-Pandemie, in der sich die gesellschaftlichen Gräben weiter geöffnet haben. Seither steht man entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Auch die Formen der Auseinandersetzungen sind aggressiver geworden. Das spüren wir sehr stark.

Zur Person

Sophia Oppermann

Sie sitzen in Berlin, Ihre Arbeit reicht aber über die Stadtgrenze hinaus. Gibt es einen Unterschied zwischen Berlin und Brandenburg? Meiden von Ausgrenzung betroffene Menschen aus Berlin Brandenburg?

Hier laufen dazu zwar nicht die Telefone heiß, aber ich kenne viele Menschen über die Initiative, die mir das aus ihren eigenen Erfahrungen berichten. Und ehrlich gesagt, kenne ich auch viele Menschen aus meinem eigenen Bekanntenkreis, die sagen, dass sie mit erkennbar anderer Hautfarbe, einer Kippa oder ähnlichem vorsichtig sind, wenn sie aus Berlin rausfahren. Aber ganz ehrlich: Das gilt auch für bestimmte Berliner Viertel. Das sollte man auch nicht verschweigen.

Von welchen Vierteln in Berlin reden wir da eigentlich, kann man die benennen?

Ja, ich glaube schon, dass man die benennen kann. Es gibt beispielsweise mit Sicherheit Straßen in Neukölln wie etwa die Sonnenallee, wo sich jemand, der eine Kippa trägt, nicht unbedingt sicher bewegen kann. Spätestens seit dem 7. Oktober und dem danach begonnenen Gaza-Krieg ist die Situation zwischen der palästinensischen und der jüdischen Community so unversöhnlich, dass sich momentan eine Sicherheit in bestimmten Gegenden nicht gewährleisten lässt.

Auch für People of Colour gibt es solche Orte. Da kommt es natürlich auch immer darauf an, ob jemand allein oder in einer größeren Gruppe unterwegs ist. Aber es gibt bestimmte Bezirke in Berlin, mehr im Osten, da gibt es Ecken, wo es unsicherer wird. Dort beispielsweise, wo eine rechtsextremere hegemoniale Kultur schon auf den Straßen zu erkennen ist. Sei es durch entsprechende Graffiti, durch Fahnen auf Balkonen oder durch aggressive Männergruppen. Also dort, wo man spürt, dass eine multikulturelle Straßenkultur nicht wirklich gegeben ist.

Inzwischen agieren gefühlt viel mehr Parteien gegen viel mehr vulnerable Gruppen in einem politisch aufgeheizten Klima. Es fängt ja mit dem Onkel an, der am Familiengeburtstag gegen Ausländer hetzt. Dann antisemitische Schmähungen von Rechts und aus der arabischen Szene. Auch behinderten- oder queerfeindliche Angriffe steigen. Wer und was ist alles im Spiel?

Ja, die, wenn man sie so nennen will, Feindesgruppen werden zahlreicher. Und sie bilden auch neue Allianzen. Hamas-Unterstützer können sich durchaus mit Rechtsextremen verstehen - was ihr gemeinsames Feindbild des Juden, der an allem Schuld ist, betrifft. Dass die Rechtsextremen die Hamas-Unterstützer – sofern diese nicht weiß und blauäugig sind – in Deutschland nicht haben wollen, wäre erst der zweite Schritt.

Hinzu kommt noch die Parallelwelt im Internet, in der Hate Speech inzwischen schon zum Alltag gehört. Hat das Internet die Situation verschärft?

Mein Eindruck ist, dass das Internet und da vor allem die Sozialen Medien gerade jedes Thema verschärfen. Das liegt sicher mit an der Anonymität, der Schnelligkeit und daran, dass nichts überprüft wird. Es findet sich kaum noch dafür Zeit, über etwas nachzudenken, eine Quelle zu überprüfen oder noch jemanden in der analogen Welt nach einem Sachverhalt zu fragen. Dadurch potenziert sich wahnsinnig viel. Und die Algorithmen spülen Hass und Hetze, die ja durch Provokationen Aufmerksamkeit und Traffic erzeugen, nach oben. Dann verbreiten sich die Inhalte noch stärker, als wenn jemand Dinge mit Love Speech postet oder positive Nachrichten.

Diese Entwicklung halte ich für sehr bedrohlich und bedenklich. Genau wie Fake-News und bewusste Propaganda – also das Verbreiten von Falschinformationen – von Menschen, die Interesse an bestimmten Themen haben. Das ist kaum aufzuhalten, wenn wir es nicht durch Gesetze regeln.

Bei vielem, was gerade los ist in Deutschland, geht es auch um Zivilcourage. Denn es werden ja auch wirklich Menschen angegriffen. Es stellt sich die nicht neue Frage, wie man am besten hilft. In München wurde vor einigen Jahren ein 50-Jähriger, der sich vor eine Schülergruppe gestellt hatte, die von anderen Jugendlichen abgezogen wurde, von den Angreifern zu Tode geprügelt. Da hieß es, er habe es nicht richtig gemacht. Wie macht man es denn richtig?

Der Mann, er hieß Dominik Brunner, ist damals richtig in die Situation reingegangen und das ist ihm zum Verhängnis geworden. Wenn wir für Zivilcourage im Alltagsleben plädieren, sagen wir inzwischen immer: Bring Dich selbst nicht in Gefahr. Das gilt dann für unterschiedliche Gruppen unterschiedlich stark. Frauen beispielsweise sind schneller gefährdet als Männer. Menschen, die zu marginalisierten Gruppen gehören oder Menschen, die von Rassismus betroffen sind, sind schneller in Gefahr als weiße Personen.

Also zuerst sollte man die Situation checken und klären, ob man sich eventuell in Gefahr bringt. Erst dann sollte man schauen, ob und was man tun kann. Vielleicht reicht es, jemand anderes mit ins Boot zu holen und gemeinsam die Polizei zu rufen.

Da gibt es auf vielen Websites dieselben Empfehlungen: Bringen Sie sich nicht in Gefahr, bleiben Sie auf Abstand, bleiben Sie höflich. Auch wichtig: nicht den oder die Täter, sondern das Opfer ansprechen. Man kann fragen, ob jemand Hilfe möchte, ob man sich neben denjenigen setzen soll. Eine schlechte Idee wäre es, die Angreifer aufzufordern, ihr aggressives Verhalten zu unterlassen.

Gibt es da auch Geheimtipps? Ich las beim weißen Ring, als Opfer könne es helfen, den "Angreifer zu überraschen mit irgendetwas, mit dem er nicht rechnet". Wer eine gute Singstimme hat, singt also "Somewhere over the rainbow"? Davon hat sich die Berliner Polizei kürzlich eher distanziert. Lässt man sich besser fallen und simuliert einen epileptischen Anfall?

Also Geheimtipps habe ich keine. Ich würde auch davon abraten, sich auf den Boden zu werfen. Aber es gibt tatsächlich den Ratschlag, eine Situation durch eine paradoxe Situation zu irritieren. Vielleicht ganz laut etwas in eine andere Richtung zu schreien. Also nicht den Täter adressieren, sondern in die andere Richtung. Sodass die Aufmerksamkeit im besten Fall woandershin abgelenkt wird.

Aber auch das kann in dem Moment das Falsche sein – man muss das in der Situation bewerten. Wir raten denjenigen, die sich mit Zivilcourage vertraut machen wollen, im allerersten Schritt zu versuchen, das eigene Herzklopfen und das Adrenalin, die in solchen Gefahrensituationen präsent sind, in den Griff zu kriegen. Denn erst dann kann man überlegen, ob man Verantwortung übernehmen müsste. Diese Verantwortung ist der erste Schritt. Dass sich jemand angesprochen fühlt und nicht die Scheuklappen ausfährt und denkt, dass ihn die Situation nichts angeht. Das kann auch heißen, dass man sofort die Polizei ruft und den Fall dieser übergibt. Oder man schafft es vielleicht, sich zu der Person zu setzen, die gerade in der Bahn blöd angemacht wird. Es gibt ganz unterschiedliche Eskalationsstufen.

Kann man das üben?

Wir raten immer, auch im normalen Alltag ruhig immer mal Hilfe anzubieten. Wenn jemandem die Tüten runterfallen beispielsweise. Also Menschen dann anzusprechen, wenn man den Eindruck hat, sie könnten Hilfe gebrauchen. Wenn man das ein paar Mal gemacht hat, fällt es auch leichter, in Situationen, die zivilcouragiertes Verhalten erfordern, zu reagieren. Außerdem lässt sich Zivilcourage lernen wie Erste Hilfe. Viele Organisationen bieten Kurse dazu an. Wir haben in einer Broschüre Tipps zusammengestellt und auf unserer Website [gesichtzeigen.de] zur Verfügung gestellt.

Wo ist die Grenze, ab wann sollte man irgendwas tun?

Sobald man den Eindruck hat, dass jemand wirklich gewalttätig wird. Sobald Gewalt im Spiel ist, kann man sich ja nicht einfach wegdrehen. Aber wie gesagt, es ist auch zivilcouragiertes Verhalten, die Polizei zu rufen. Und sich dieser im Anschluss als Zeuge oder Zeugin zur Verfügung zu stellen. Denn auf diese ist die Polizei oft dringend angewiesen – und meist ist keiner mehr da.

Wir wissen von den Opfern, selbst wenn es sich "nur" um verbale Gewalt gehandelt hat, dass sie sich oftmals sehr alleingelassen fühlten. Wenn keiner irgendwie reagiert.

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Sie sind seit der Gründung von Gesicht Zeigen! – also seit dem Jahr 2000 dabei. Seither kommt es immer wieder wellenartig zu vermehrten Anschlägen und Gewalttaten gegen unter anderem Migranten und jüdische Einrichtungen. Sind sie eigentlich frustriert?

Frustriert ist vielleicht das falsche Wort. Doch als wir den Verein im Jahr 2000 gegründet haben, dachten wir, wenn wir das ein paar Jahre machen, ist das Problem einigermaßen erledigt. Dem ist nicht so. Andererseits denke ich mir immer wieder, dass man ja auch nicht nur eine Generation Kinder in die Schule schickt und denkt, dass sich die Bildung der Menschheit damit erledigt hat. Es kommt auch da immer wieder eine neue Generation. So gibt es auch hier immer neue Gruppen, auch politisch gibt es immer neue Ups and Downs. Wir werden rechtsextremes Gedankengut, Menschenfeindlichkeit und Inhumanität nicht aus der Welt schaffen. Das wird es immer geben. Und eine Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, wie sie damit umgeht. Insofern ist "Gesicht Zeigen!" Teil der Gesellschaft, die versucht, mit diesen menschenfeindlichen Einstellungen umzugehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

Sendung: Radioeins, 19.09.2024, 7:50 Uhr

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