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Quelle: picture alliance/dpa/M.Brichta

Interview | Soziologin Ulrike Ehrlich

"Man kann sehr plötzlich in die Rolle des pflegenden Angehörigen rutschen"

Wenn die Eltern älter werden, unterstützen oft die erwachsenen Kinder. Einige übernehmen nach und nach immer mehr Hilfe, andere geraten über Nacht in die Rolle des Pflegenden. Die Berliner Soziologin Ulrike Ehrlich erklärt, wen es besonders häufig trifft und wo die Probleme liegen.

rbb|24: Hallo, Frau Ehrlich. Woran erkennt man, dass die älteren Eltern Hilfe benötigen?

Ulrike Ehrlich: Es gibt Forschungsarbeiten, die zeigen, dass es sich dabei um einen schleichenden Prozess handelt und viele Angehörigen erst mit der Zeit merken, dass sie jetzt pflegende Angehörige sind. Es kann bis zu zwei Jahre dauern, bis man erkennt, dass die Eltern hilfs- oder pflegebedürftig sind und man in dieser Pflege längst angekommen ist.

Woran man das genau festmachen kann, ist sehr unterschiedlich. Es gibt viele Tätigkeiten, die Pflege- oder Care-Arbeit umfassen. Das geht los mit dem Einkauf für die Eltern, das können Haushaltstätigkeiten sein, viele bearbeiten auch Unterlagen und es geht weiter mit Arztfahrten und medizinischer Überwachung. Es fallen wirklich viele Aufgaben an und sie steigern sich meist.

Zur Person

Ulrike Ehrlich

Gibt es den typischen (Pflege-)Fall? Also beispielsweise: Oberschenkelhalsbruch - ab dann geht gar nichts mehr?

Nein, den gibt es nicht. Man kann sehr plötzlich in die Rolle des pflegenden Angehörigen rutschen. Da kann es um Unfälle oder um Krebserkrankungen gehen, um Parkinson oder auch um Demenz. Es gibt sehr viele Wege in die Pflege. Viele unterstützen auch erst einmal eher allgemein im Alltag und irgendwann rutscht das in Richtung medizinische Pflege.

Muss man sich zwingend um die gebrechlichen Eltern kümmern als erwachsenes Kind?

Bis zu einem gewissen Grad muss man sich finanziell kümmern und beispielsweise die Pflegeheimkosten der pflegebedürftigen Eltern tragen, wenn diese dazu nicht in der Lage sind. Zumindest, wenn man mehr verdient als 100.000 Euro brutto im Jahr. Stichwort: Elternunterhalt.

Aber dass man sich aktiv kümmern muss, ist nicht gesetzlich festgeschrieben. Vielmehr empfinden erwachsene Kinder ein Pflichtgefühl oder Verantwortungsgefühl oder einfach Verbundenheit, wenn es um die Frage geht, ob sie sich um die Eltern kümmern sollen oder nicht.

Politisch soll das Pflegen von Angehörigen ja möglich gemacht werden - auch mithilfe von Arbeitsflexibilitätsmaßnahmen wie "Pflegezeit" und "Familienpflegezeit". So können berufstätige Pflegende sich für bis zu 24 Monate von der Arbeit teilweise oder komplett freistellen lassen. Doch Pflege dauert im Durchschnitt sechs Jahre.

Im Rahmen der Pflegezeit, Familienpflegezeit oder zur "Begleitung in der letzten Lebensphase" - hierfür kann man sich für drei Monate freistellen lassen - kann man ein zinsloses Darlehen beanspruchen, um sich zu finanzieren - auch wenn das kaum genutzt wird. Denn das Geld muss man natürlich irgendwann zurückbezahlen.

Nutzen viele pflegende Angehörigen die von Ihnen erwähnte Familienpflegezeit?

Nein. Unsere Analysen auf Basis des Deutschen Alterssurveys zeigen, dass die "Kurzzeitige Arbeitsverhinderung", das ist eine weitere Maßnahme, von zwei Prozent der Pflegenden in Anspruch genommen wird, die Pflegezeit und die Freistellung für die Begleitung der letzten Lebensphase von je einem Prozent, die Familienpflegezeit so gut wie gar nicht. Die meisten Pflegenden nehmen also keine der gesetzlichen Freistellungsmaßnahmen in Anspruch. Sie regeln das vermutlich intern mit ihren Arbeitgebern oder nehmen ihr Recht auf Teilzeit in Anspruch.

Die Ampel-Koalition wollte eigentlich nachbessern für die berufstätigen pflegenden Angehörigen, wird das aber in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr schaffen.

In Berlin leben viele Zugezogene, die vom "Distance Caregiving" betroffen sind. Da leben die alternden Eltern, wenn es schlecht läuft, im Saarland. Wie geht das Ganze, wenn die Eltern weit oder weiter weg wohnen? Und ab wann ist es "weiter weg"?

Aus meinem Umfeld weiß ich, dass es schon weit weg sein kann, wenn man seine alternden Eltern in Brandenburg pflegt und dabei stets auf Abruf ist. Aber natürlich ist Brandenburg da eher bewältigbar als das Saarland. Da steht und fällt sicherlich alles auch mit dem Arbeitgeber.

Wie und wann klärt man mit den alternden Eltern am besten, welche Unterstützung gebraucht wird?

Man sollte sicherlich so früh wie möglich abklären, was die Eltern wollen und was man selbst in der Lage und Willens ist, zu tun. Doch ich glaube, das passiert nicht sehr häufig. Genau wie viele Menschen auch Vorsorge-Entscheidungen nicht treffen. Auch die Dokumente, in denen es um das Lebensende geht, also Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht, werden kaum vorbereitet., wie unsere Analysen auf Basis des Deutschen Alterssurveys belegen. Und genauso wenig wird womöglich darüber gesprochen, wie man im Falle einer Pflegebedürftigkeit gepflegt werden möchte. Nur die wenigsten klären auch, was ihre Kinder bereit zu tun sind.

Aus eigenen, vorläufigen Analysen weiß ich, dass etwa 90 Prozent der Leute, die gefragt wurden, von wem sie nach einem schwerwiegenden Unfall gepflegt werden wollen, gesagt haben: "von nahen Angehörigen".

Wer kann und sollte seine Eltern selbst pflegen?

In Deutschland ist das Pflegesystem über die soziale Pflegeversicherung so ausgerichtet, dass häusliche Pflege vorrangig ist. Und ambulante Pflege kommt vor stationärer. Es gibt finanzielle Anreizmechanismen, die die häusliche Pflege finanzierbarer als externe, professionelle Pflegeeinrichtungen machen. Ein Pflegeheim kostet, je nachdem wo in Deutschland man ist, bis zu 2.800 Euro zusätzlich pro Monat. Zusätzlich zu dem, was die Pflegeversicherung bezahlt. Das sind die sogenannten "Hotelkosten". Das muss man sich erstmal leisten können. Da das nicht viele können, ist klar, dass Pflege meist erst einmal in der Familie stattfindet. 84 Prozent der etwa fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden zuhause von Angehörigen versorgt. Manchmal mit ambulanten Diensten zusammen, meistens aber ohne diese.

Verband der Ersatzkassen

Zuzahlungen für Pflegeheime in Berlin und Brandenburg deutlich gestiegen

Fast 3.000 Euro im Monat muss man für das Wohnen im Pflegeheim im ersten Jahr zuzahlen. Wegen höherer Personalkosten sind die Zuzahlungen gestiegen. Dabei müssen Berliner Hunderte Euro mehr pro Jahr zahlen als Brandenburger.

Obwohl doch die wenigsten Familien noch über Generationen hinweg zusammenleben?

Ja. Und das wird sicherlich zunehmend schwieriger werden. Insbesondere das Potential der Elternpflege nimmt ab, also dass erwachsene Kinder die Unterstützung ihrer Eltern übernehmen. Es gibt einen Geburtenrückgang, es werden also auch immer weniger Menschen überhaupt Eltern.

Und dort, wo es Eltern-Kind-Beziehungen gibt, gibt es mitunter die schon benannten großen Distanzen zwischen den beiden Haushalten. Es wird zunehmend ältere Menschen geben, die gar nicht von ihren Kindern gepflegt werden können.

Da die Menschen in Deutschland immer später Eltern werden, sind ja viele auch noch mit der Aufzucht ihrer eigenen Teenager beschäftigt, wenn die eigenen Eltern hilfsbedürftig werden.

Richtig. Das Stichwort hierfür ist "Sandwich-Generation". Wer später Eltern wird, kann in diese Situation geraten, dass es zu ihren Kindern die eigenen Eltern gibt, die Unterstützung bräuchten. Und dann kommt noch die Vereinbarkeit mit dem Beruf hinzu.

Viele Arbeitgeber leiden unter dem Fachkräftemangel und wollen ihre Arbeitnehmer möglichst in Vollzeit halten. Auch die Sozialversicherungssysteme profitieren von vielen Vollzeitkräften – insbesondere die umlagefinanzierte Rentenversicherung. Nur so kann nachhaltig finanziert werden.

Das führt dazu, dass sehr auf die Frauen geschielt wird: Frauen werden beispielsweise als Mittel zur Bekämpfung des Fachkräftemangels genannt. Sie sollen in größerem Umfang erwerbstätig sein. Zusätzlich sollen Frauen – wie auch Männer – länger arbeiten. Aber keiner weiß, wie das gehen soll. Einerseits soll man seine Zeit in den vier Wänden der zu pflegenden Angehörigen verbringen, andererseits soll man möglichst 40 Stunden in der Woche dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Mehr Kinder als eines – und sich gut kümmern – soll man ja möglichst auch bekommen. Klingt, als wäre die Bettdecke überall zu kurz?

Ja, es bleibt die Frage, wie das alles funktionieren soll. Ein gewisses Anrecht auf Selbstverwirklichung haben die Menschen ja dann auch noch. Es ist eine schwierige Lage. Das Pflegesystem wird krachen, wenn man weiter davon ausgeht, dass die Familien das aus Liebe schon alles wuppen.

Gibt es dafür Lösungsansätze?

Eine Möglichkeit, die Situation zu verbessern wäre sicherlich, wenn man die Pflegeaufgaben gerechter zwischen Frauen und Männern verteilen würde. Noch immer sind Frauen, insbesondere im erwerbsfähigen Alter, die Haupt-Pflegepersonen. In dieser Zeit leisten Frauen etwa 70 Prozent der Angehörigenpflege. Nach dem Renteneintritt erhöht sich die Quote der Männer, die Pflege leisten.

Außerdem muss man die Pflegezeit einschließlich der Familienpflegezeit weiterentwickeln. Einschließlich einer finanziellen Absicherung währenddessen. Das ist angedacht und steht auch im Koalitionsvertrag. Es soll eine Entgeltersatzleistung in Anlehnung an das Elterngeld eingeführt werden. Das möchte Lisa Paus auch immer noch für die nächste Legislaturperiode - unter wem auch immer - durchsetzen.

Das Elterngeld funktioniert ja gut. Man sieht aber auch dort, dass es eher die Frauen sind, die es in Anspruch nehmen. Das geht häufig mit einer finanziellen Notwendigkeit einher. Weil Männer vielfach besser verdienen. Ähnlich wird dass dann auch bei einer Entgeltersatzleistung in der Pflege werden.

Abschlussbericht

Viel Lob und wenig Kritik für Brandenburger "Pakt für Pflege"

Wer zu Hause pflegt, soll Unterstützung bekommen. Dieser "Pakt für Pflege" - ein Schwerpunkt im Brandenburger Koalitionsvertrag - wurde wissenschaftlich untersucht. Die Auswertung sieht viel Gutes -und Verbesserungspotenzial. Von B. Raddatz und A. Hewel

In einer klassischen Paarbeziehung macht das dann meist die Person, bei der es finanziell weniger weh tut, wenn ein Teil des Einkommens wegfällt. Und es sind immer noch die Frauen, die weniger verdienen. Wenn man möchte, dass mehr Männer die Pflege übernehmen, muss man gut überlegen, wie hoch die Lohnersatzrate sein solle.

Außerdem kommt es darauf an, wie lange man künftig die Pflegezeit oder die Familienpflegezeit in Anspruch nehmen kann. Aktuell sind es insgesamt maximal zwei Jahre – bei einer durchschnittlichen Pflegebedürftigkeit, die viel länger ist. Wenn es für die Zeit nach den zwei Jahren keine guten institutionellen Rahmenbedingungen für die Pflegebedürftigen gibt, in denen sie professionell weiter gepflegt werden können, bringt den Familien das auch nicht viel. Alles geht also nur im Zusammenspiel mit einem gut ausgestatteten, professionellen Pflegesektor.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

Maßnahmen zu Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf

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