Studie Barmer
Mit Hilfe von Daten der Krankenkasse Barmer haben Experten erstmals eine bundesweite Statistik zu Rettungsdiensteinsätzen erarbeitet. Sie zeigt erhebliche Unterschiede zwischen Berlin und Brandenburg. Von Simon Wenzel
Eine bundesweite Studie [bifg.de] zeigt erstmals, wie groß die Unterschiede beim Einsatz von Rettungsdiensten in den unterschiedlichen Bundesländern sind. Sowohl in Bezug auf die Einsatzart, als auch auf die entstehenden Kosten. Grundlage sind Daten des Versicherers Barmer aus dem Jahr 2022, die Ergebnisse wurden am Mittwoch vorgestellt.
Rettungswageneinsätze sind in Brandenburg so teuer wie in kaum einem anderen Bundesland. Das ergab die Auswertung der Barmer-Daten. Nur in Schleswig-Holstein sind die Kosten im Mittel höher.
Ein Rettungswageneinsatz mit Notarzt kostet in Brandenburg fast 1.500 Euro, einer ohne Notarzt immerhin fast 800 Euro. In Berlin sind diese Kosten deutlich niedriger. Nur 660 Euro für einen Einsatz mit Notarzt, etwas mehr als 160 Euro ohne ihn.
Dafür müssen die Rettungskräfte in der Hauptstadt deutlich häufiger ausrücken als in Brandenburg. Die Zahlen des Papers für das Flächenland Brandenburg seien weitgehend normal, so Co-Autor Janosch Dahmen. Der bundespolitische Sprecher für Gesundheit bei den Grünen sagte zudem gegenüber dem rbb, die Zahlen für Brandenburg seien durch die Struktur des Bundeslandes erklärbar. In Berlin wiederum, so Dahmen weiter, gebe es einige Auffälligkeiten, die nicht alleine durch das Leben in der Großstadt erklärbar sind.
Die niedrigen Kosten sind grundsätzlich in einem Ballungsraum zwar logisch, denn hier sind die Wege kürzer. Die einzelnen Rettungswägen und ihre Besatzung schafften so mehr Einsätze pro Tag, während die Fixkosten ähnlich wie auf dem Land blieben. Allerdings hat Berlin auch im Vergleich zu den anderen Stadtstaaten Hamburg und Bremen deutlich niedrigere Kosten pro Einsatz.
Was erstmal positiv klingen mag, ist es nicht zwangsläufig. Denn wenn Berlin weniger Geld pro Einsatz von den Krankenkassen einnimmt, kann auch weniger ins System investiert werden. Janosch Dahmen sagt rbb24 dazu: "Berlin setzt überraschend geringe Kosten für die Leistungen der Notfallrettung an."
Kosten wie die Bearbeitung von Notrufen, die in anderen Bundesländern geltend gemacht würden, rechne Berlin nicht in die Gebühr ein. In Nordrhein-Westfalen seien das zwischen 50 und 70 Euro pro Einsatz des Rettungsdienstes, so Dahmen.
Außerdem auffällig: Berlin hat im Verhältnis sehr viel mehr Rettungsdiensteinsätze ohne Notarzt als andere Bundesländer und mehr Menschen, die mehrfach pro Jahr den Rettungsdienst rufen.
Eine weiterführende Statistik aus der Studie, die dem rbb vorliegt, zeigt: Nicht einmal ein Viertel der Fahrten ohne Notarzt auf Rettungswagen entfallen auf die der Fahrzeuge der Berliner Feuerwehr. Den überwiegenden Teil übernehmen Krankentransporte. Dies ist eine Ausnahme im Bundesvergleich, denn die meisten Bundesländer haben deutlich mehr Rettungswagen-Einsätze als Krankentransportfahrten.
Laut Dahmen lässt sich das zum einen soziologisch erklären: In Berlin gibt es viele Single-Haushalte. Die Stadtbevölkerung sei außerdem häufig ärmer, kränker und einsamer, sagt Dahmen.
Dadurch sei der Rettungsdienst auch bei einfachen medizinischen Notlagen teilweise die einzige Option, das "letzte Sicherheitsnetz". Die Mehrfacheinsätze könnten insbesondere bei der pflegebedürftgien Bevölkerung anfallen. Wobei sich nicht alles davon in Bezug auf Berlin statistisch belegen lässt - so sind die Menschen in Berlin beispielsweise im Schnitt fünf Jahre jünger als in Brandenburg.
Die Autorinnen und Autoren der Studie fordern in ihren Maßnahmen deshalb unter anderem, die Primärversorgung älterer und pflegebedürftiger Menschen zu stärken. Ein Vorschlag ist sogenanntes "Community Health Nursing" - gemeint ist Pflegepersonal, welches auch geschult ist, um beispielsweise Menschen mit chronischen oder Mehrfacherkrankungen zu versorgen. So soll für mehr medizinische Probleme eine Versorgung zuhause ermöglicht werden.
Angelehnt an die derzeitige Reform der Notfallversorgung fordern die Autorinnen und Autoren auch eine Reform der Rettungsdienste.
Dr. Philipp Kellner, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme im Vivantes Klinikum im Friedrichshain schildert die Lage dem rbb: "Es ist jeden Nachmittag eine Herausforderung, weil eine Fülle von Patienten bei uns sind." So gebe es auch eine "erhebliche Anzahl von Patienten", so Kellner, die von ihrem Hausarzt in die Notaufnahme geschickt würden, weil es keinen freien Termin bei Fachärzten gebe.
Es gehe dabei lediglich um Abklärungen und Untersuchungen. Manche Patienten hätten auch gar keinen Hausazrt oder würden nirgendwo mehr aufgenommen. "Die landen dann, orientierungslos im Gesundheitssystem, irgendwann in der Notaufnahme", so der Chefarzt der Notaufnahme.
Die Rettungsdienste in Berlin klagen seit langem immer wieder über Überlastung. Innensenatorin Iris Spranger (SPD) hatte im vergangenen Jahr in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, private Rettungsdienste sollten die Feuerwehr unterstützen.
Dass in Berlin weniger oft als in anderen Bundesländern der Notarzt mit ausrücken muss, liegt laut Janosch Dahmen auch daran, dass das Land als eines der wenigen im Bund eine qualitätsgesicherte, standardisierte Notrufabfrage in der Leitstelle verwende. Damit lasse sich verlässlicher und schneller abschätzen, um welche Art von Notruf es sich handelt. Der Notarzt wird also häufiger nur dorthin entsandt, wo er auch wirklich benötigt wird. Außerdem traue Berlin seinen Notfallsanitätern mehr zu an eigenständigen Maßnahmen.
"Dieser Mix aus guter Ausbildung, einem hohen Maß an eigenständiger Tätigkeit der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter und präziser, qualitätsgesicherter Notrufabfrage ermöglichen eine besonders hohe Zahl an Einsätzen ohne Notarzt", so Dahmen.
In manchen Regionen ist das nächste geeignete Krankenhaus - zum Beispiel für Herz-Kreislauf-Stillstand - nur wenige Minuten entfernt. In manchen Gegenden leben hingegen mehr als eine Million Menschen, aber der Fahrtweg ins nächste Krankenhaus ist länger als 30 Fahrminuten entfernt. Das kann zu lange sein, denn in der Regel sollen Betroffene ab dem Herz-Kreislauf-Stillstand in nicht mehr als 60 Minuten im Krankenhaus ankommen.
Das SWR Data Lab hat für ganz Deutschland die Erreichbarkeit von Krankenhäusern in unter 30 Fahrtminuten berechnet. Die folgende Karte zeigt, wie die Klinikstruktur Mitte Juni 2024 für Reanimationen aufgestellt war.
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Beitrag von Simon Wenzel
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