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Schabowskis PK am 9. November 1989
Die DDR plante Ende '89 neue, komplizierte Reiseregelungen. Günter Schabowski aber hatte bei der Verkündung am 9. November nur grobe Notizen zur Hand. Zum Glück, sagt der Politlinguist Steffen Pappert. Von Stefan Ruwoldt
Er war neu. Erst seit wenigen Tagen im Amt. Drei höhere Entscheider für Fachfragen sollten ihm assistieren. Vor ihnen warteten Journalisten. Vielleicht fünfzig oder mehr. Der Abend des 9. November 1989 in der Ostberliner Mohrenstraße startete mit einer Veranstaltung, wie sie heute üblich scheint. Es sollte um Entscheidungen gehen. Um Korrekturen, die aber keiner so richtig verantworten wollte. Reisemöglichkeiten würden wohl Thema sein, so viel war durchgesickert. Stellvertreter wurden vorgeschickt.
"Diese PK, das war das Gegenteil von gewöhnlich. Also für die DDR", sagt Steffen Pappert. Er ist Politlinguist und blickt genauer auf das, was gesprochen wird und wie es formuliert wird. Pappert nimmt sich die Wörter und Phrasen vor, in denen Entscheidungen daher kommen. Er ist in der DDR aufgewachsen und blickt genauer auf den Sprech der DDR-Amtsträger.
Für die DDR-Parteifunktionäre, die am Abend des 9. November 1989 in der Mohrenstraße in Berlin-Mitte im Podium saßen, waren solche Pressekonferenzen neu. Runden, wo plötzlich Fragen gestellt wurden und vor allem Nachfragen üblich waren, gehörten nicht zur Idee der sozialistischen Pressearbeit.
"Es war erst die zweite PK, die vom Politbüro so abgehalten wurde, also die dann auch live übertragen wurde", erklärt Pappert die Situation in diesem Wendeherbst 1989. Der entscheidende Punkt sei hier, dass die DDR-Praxis der Amtsträger nicht länger funktionierte. "Denen war es eingehämmert, wie geredet wurde." Pappert nennt es "Versatzstückkommunikation" - feste Formulierungshülsen, die die Wahrheit in einen Schleier hüllten, sodass nach der Wortmeldung die eigentliche Information gar nicht mehr zu erkennen war. "Der Sprachgebrauch der Funktionäre."
In exakt diese Routine sei Schabowski verfallen, als er nach den neuen Reiseregelungen gefragt wurde. "Sprachlich und inhaltlich wurde vorgefertigt gesprochen in der DDR", erläutert Pappert. "Es wurde nicht geantwortet. Diese Funktionärssprache war gar nicht darauf ausgelegt, dass man auf etwas antwortete." Schabowski war vor dieser PK nur bruchstückhaft informiert worden, wie er später erklärte. Und er hatte offenbar auch nur bruchstückhaft informieren wollen, wie sein Notizzettel wiedergibt. "Parteilatein reichte aus", sagt Pappert über diese Art von Funktionärsantworten. Doch dann kam eine Nachfrage von einem Journalisten.
Entsprechend dieser erlernten Routine war es auch für Pappert nachvollziehbar, was Schabowski dann machte. Er schnappte sich seine Zettel und las vor: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.(...) Ähh, ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu West-Berlin erfolgen."
"Man muss nur mal die Ähs zählen", sagt Pappert. "Schabowski klebte an diesem Zettel." Das Dilemma des erst seit wenigen Tagen als eine Art Pressesprecher der SED-Parteiführung amtierenden Schabowski sei eben gewesen, dass Widerspruch an diesem Abend erlaubt war. Und Nachfragen. Antworten auf solche Nachfragen aber gab Schabowskis Zettel nicht her, so Pappert. Der Funktionär war verloren, weil sein Zettel die geforderten Antworten nicht hergab: "Und genau das hat er dann auch so gesagt", sagt der Historiker und verweist zum Beleg für die beschriebene Hilflosigkeit auf Schabowskis Stammeln: "Das steht hier so."
Der Verlauf der Abend- und Nachtereignisse an der Bornholmer Straße in Ostberlin am 9. November 1989 nach genau dieser PK ist dokumentiert und unzählige Male wiederholt und berichtet. Die beiden Westsender ZDF und ARD vermeldeten - mit unterschiedlichem Formulierungsmut - die neu verfügte DDR-Reiseregelung. Und das, so Pappert, habe dann auch den Unterschied gemacht: "Der Inhalt von Schabowskis Aussagen war eigentlich kurz: Die Grenzen sind offen! Warum aber hat Schabowski eben genau das nicht gesagt?" Tagesthemen-Moderator Hajo Friedrichs formulierte drei Stunden nach der PK: "Der Reiseverkehr Richtung Westen ist frei." Sechs Wörter. Kein einziges "Äh".
Pappert sieht in Schabowskis Zettel einen Beleg für die Feigheit der Funktionäre, die ablasen, weil sie dann die Verantwortung nicht zu tragen brauchten. Sie trugen vor, was die Partei beschlossen hatte. So sei es auch für Schabowski an diesen Abend gewesen: "Den Zettel hatte er, weil er ihn brauchte - auch um die Verantwortung abgeben zu können. Denn damit war er draußen."
Pappert erzählt von dieser Pressekonferenz nicht in akademischen Schleifen. Kein "wenn" und kein "aber" und schon gar kein "allerdings" steckt in seinen Sätzen. Er war im DDR-Wehrdienst in dieser Zeit. Er war Anfang zwanzig und durfte im November und Dezember 1989, also den Wochen nach dieser PK, nicht die Kaserne verlassen, wie er berichtet. Erst wieder im Januar. Auch diese Haltung, die er dort in den Wochen nach dem 9. November erlebt habe, dass eben an der Kaserne "die LKW für den Einsatz innerhalb der DDR bereitstanden", sieht er in diesem Kontext. Irgendwo versteckten die Funktionäre in ihrem Phrasensprech sich immer eine Hintertür.
"Verantwortung übernehmen? - Selbst für diese Reiseregelung wollte Schabowski nicht", schlussfolgert Pappert und sagt dann etwas, das ihn eher als empörten Jugendlichen in der DDR ausweist denn als Wissenschaftler. 35 Jahre nach diesem Tag. "Unerträglich", sagt er.
Kurz darauf ist Pappert aber wieder analytisch: "Spannend wollte Schabowski das nicht machen. Es war die pure Unsicherheit. Und ich glaube auch nicht, dass er wusste, was er da - in der Konsequenz - verkündete." Denn wie später dokumentiert wurde, aber an diesem Abend und auch in den kommenden Tagen kein Thema mehr war, sah das neue Gesetz weiter sehr viel DDR-Bürokratie vor. "Gedacht war diese Reiseregelung anders als es Schabowski sagte: All das sollte eben nicht 'sofort', also an diesem Abend starten, sondern am 10. November. Und: Es sollte eine Regelung mit Reisepässen und Anträgen auf Visa geben."
Pappert begnügt sich nicht mit seiner Analyse der Sprache und Formulierungen. Er sagt, dass zu dieser verantwortungslosen Vorlesekultur der Funktionäre auch gehört habe, Stellungnahmen aus dem Weg zu gehen. "Schabowski war weg nach der PK. Er war nicht da, um all die tausend Fragen bei solch einer komplett neuen Regelung zu beantworten."
Schabowskis Zettel war lange verschollen in den Jahren nach der Wende, dann konnte das Haus der Geschichte in Bonn ihn 2015 erwerben. Der damalige Besitzer und Verkäufer wurde nicht bekannt gegeben. Schabowskis Notizen wurden dann vom Museum transkribiert. Heute kann so jeder nachlesen, was Schabowski niedergeschrieben hatte, um sich festzuhalten.
Eine Notiz auf diesem Zettel fällt ins Auge, wenn man nach dem DDR-Funktionärssprech sucht: "weisendes Konzept d. Erneuerung (Strat.)" steht da. Es ist ziemlich gut zu entziffern. "Strat." heißt natürlich "Strategie", ein Synonym für ganz große Idee. An das "weisende Konzept" von diesem Zettel wollte Schabowski bei seinem Vortrag ganz sicher noch ein "weg-" ranhängen. In der DDR war schließlich alles "wegweisend", wenn es von der Partei kam. Und zur "Erneuerung" gehörte für die Funktionäre immer das, was sie sich gerade ausgedacht hatten. Natürlich steckte außerdem hinter allem das große "Konzept".
Schabowski hatte sie dabei, die große SED-Floskellehre. Es war ihr letzter Gültigkeitstag. Am 10. November hatte sie ausgedient.
Sendung: rbb24 Radioeins, 09.11.2024, 07:10 Uhr
Beitrag von Stefan Ruwoldt
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