Häusliche Gewalt gegen Frauen
Arztpraxen und Krankenhäuser sind für gewaltbetroffene Frauen oft der erste Zufluchtsort. Doch hier wird häusliche Gewalt noch immer nicht ausreichend erkannt. Das Jüdische Krankenhaus in Berlin will dabei Vorreiter sein. Von Viktoria Kleber
Alice Westphal hat in ihrem Leben schon viel Gewalt erfahren. Sie hat einen Opa überlebt, der sie missbrauchte, einen Unbekannten, der sie im Park vergewaltigte und einen Partner, der sie immer wieder verprügelte, wie sie erzählt. "Sogar vor all seinen Kumpels hat er mich in der Männertoilette in Grund und Boden geschlagen." Das sei lange her, sagt Westphal, schon über 40 Jahre. Es sind Misshandlungen, die sie bis heute prägen.
Jede dritte Frau in der EU ist mindestens einmal in ihrem Leben von körperlicher oder sexueller Gewalt betroffen, so ein Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte von 2014 [/fra.europa.eu]. Häufig geht die Gewalt von der Familie oder vom eigenen Partner aus. Bei schweren Verletzungen sind laut dem Bericht in Deutschland Arztpraxen und auch Krankenhäuser für betroffene Frauen oft die ersten Anlaufstellen.
"Das ist eine Chance, Betroffene niedrigschwellig zu erreichen und zu vermitteln, dass Gewalt nie okay ist", sagt Karin Wieners vom Runden Tisch Berlin, einem Gremium von 31 Organisationen, das sich für die Gesundheitsversorgung bei häuslicher und sexualisierter Gewalt einsetzt. Der Berliner Senat hat den Runden Tisch Berlin 2019 eingerichtet. "In Krankenhäusern können wir damit starten, Wege in spezialisierte Hilfesysteme zu bahnen", sagt Wieners.
Karin Wieners wisse, dass die Hürde für gewaltbetroffene Frauen hoch ist, sich an andere Stellen zu wenden und auch, dass die Gewalt im Laufe der Zeit eskalieren kann, wenn es keine Unterbrechung gibt. "Gesundheitseinrichtungen sind unsere Chance, die Gewaltspirale frühzeitig zu unterbrechen", sagt Wieners. Doch noch immer werde häusliche Gewalt nicht gleich erkannt, weil Gesundheitspersonal nicht geschult sei, weil im Regelbetrieb oft die Zeit fehle.
Das Land Berlin will etwas dagegen tun. Im Krankenhausplan ist verankert, dass Kliniken der Notfallversorgung Konzepte vorlegen müssen, wie Betroffene von häuslicher und sexualisierter Gewalt versorgt werden. Das Jüdische Krankenhaus in Berlin will Vorreiter sein, hat 2022 ein Gewaltschutzteam eingeführt. Es soll das Bewusstsein für häusliche Gewalt als Ursache einer Krankheit ins gesamte Krankenhaus tragen. Seit das Team seine Arbeit aufgenommen hat, hätten sich die diagnostizierten Fälle von häuslicher Gewalt im Jüdischen Krankenhaus verdreifacht, erzählt Jörg Reuter, ärztlicher Leiter des Teams und der Zentralen Notaufnahme.
"Es geht darum, Warnsignale zu erkennen, wie beispielsweise Blutergüsse unterschiedlichen Alters", sagt Reuter. Auch schlecht verheilte Brüche, übermäßige Angst oder Erklärungen, die nicht zu den Verletzungen passen könnten Hinweise auf häusliche Gewalt sein. "Aufmerksam sollte man auch sein, wenn eine Betroffene in Anwesenheit ihres Partners kaum spricht, der Partner Unfallvorgänge beschreibt", erklärt Reuter. Zudem gäbe es auch chronische Krankheiten, die auf häusliche Gewalt zurückzuführen sind.
Jörg Reuter schult gemeinsam mit Dorothea Sautter vom Projekt "Koordinierung und Interventionsstelle bei häuslicher und sexualisierter Gewalt im Gesundheitsbereich" des Signal e.V. Pflegerinnen und Pfleger und Ärztinnen und Ärzte. Dabei geht es auch darum, gerichtsverwertbare Dokumentationen zu erstellen. "Manchmal entscheiden sich Frauen dazu, Täter anzuzeigen. Im Gerichtsverfahren können Verletzungen, die richtig dokumentiert wurden, eine große Rolle spielen", sagt Sautter.
Sautter hat früher selbst als Hebamme gearbeitet. Sie sagt, es falle Gesundheitspersonal oft schwer, mögliche Betroffene anzusprechen, aber gerade das sei wichtig. "Betroffene Frauen sehen dann, es gibt hier Menschen, die wissen um das Thema, die kennen die Schwere und das hilft ihnen das Tabu zu brechen und über ihre Erfahrungen zu sprechen." Wichtig dabei sei, ein geschützter Rahmen, Respekt und auch die Entscheidungen der Betroffenen zu akzeptieren. "Trennung ist ein langer Prozess", sagt Sautter, "gerade, wenn Kinder involviert sind, muss er reifen und kann sich über Jahre ziehen."
Damals aktiv angesprochen zu werden, hätte sich auch Alice Westphal gewünscht. Ihre Erklärung, sie sei die Treppe heruntergestürzt, wäre nicht hinterfragt worden. Ob sie auf Nachfrage geantwortet hätte? "Sicher nicht beim ersten Mal. Das Thema ist so mit Schuld und Scham besetzt", sagt Westphal. "Auch ich habe die Schuld bei mir gesucht und mir überlegt, was habe ich falsch gemacht, dass ich ihn so wütend gemacht habe." Gespräche mit Fachpersonal könnten aber Türen öffnen, um zu merken: So ergeht es vielen und auch um Täter und Opfer klar zu benennen. "Gewalt ist nie okay", sagt sie.
Alice Westphal ist heute als Trainerin in Krankenhäusern und Kliniken unterwegs, um Gesundheitspersonal zu sensibilisieren. Sie habe lange dafür gebraucht, um ihre Scham abzulegen, um zu erzählen, was sie überlebt hat. "Mein Genesungsprozess hat erst vor sechs Jahren begonnen", sagt die 68-Jährige. Als ihre Enkeltochter geboren wurde. "Ich habe mich entschieden, mein Schweigen zu brechen und mich zu engagieren, um aus der Welt auch für meine Enkeltochter eine sicherere zu machen."
Dieser Text ist zuerst auf tagesschau.de erschienen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.11.2024, 16:50 Uhr
Beitrag von Viktoria Kleber
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