Kokain-Lieferdienste in Berlin
Vor die Bar, vor den Club, vor die Haustür: In Berlin kann Kokain problemlos über Messenger bestellt werden. Der Markt ist so lukrativ, dass "Kokstaxi"-Fahrer sogar öffentlich ihre Visitenkarten verteilen. Was ist aber, wenn die Bestellerin die Polizei ist? Von Hasan Gökkaya
Es wird getrunken, gequatscht, gelacht. An einer Kneipe an der Wühlischstraße in Berlin-Friedrichshain ist die Stimmung an einem Freitagabend ausgelassen. Die Tische und Stühle sind besetzt, Bier ist bestellt. Da nähert sich plötzlich ein junger Mann. Er legt Kärtchen auf die Tische und geht anschließend ohne nervös zu wirken weiter.
Die Kärtchen, das sind Visitenkarten. "Taxi BLN Drugs" ist zu lesen, dazu eine Telefonnummer und ein breites Angebot verschiedener Produkte: Kokain, Marihuana, Hasch, Ketamin, Speed, Ecstasy. Der Aufwand für den Kunden: gering. Eine Nachricht über Whatsapp - und die Drogen werden "in 20 Minuten" geliefert. Illegal, aber praktisch.
Auf der Rückseite der Visitenkarte stehen noch Details zwecks der Kundengewinnung. 20 Prozent Rabatt auf die erste Bestellung, heißt es. "Bring uns 3 Freunde und erhalt ein geschenkt von uns", "Kauf 4 und du erhältst ein gratis". Wer kein (nicht ganz korrektes) Deutsch versteht, für den ist auf dem Kärtchen auch eine Version auf Englisch aufgedruckt. In Deutschlands Hauptstadt Drogen kaufen, niemals zuvor war das einfacher.
Dass "Kokstaxis" in Berlin Drogen ausliefern, ist lange bekannt. Dealer legen ihre Kärtchen in Bars oder sprechen Leute sogar direkt auf der Straße an und drücken ihnen ihre Visitenkarten in die Hand; Koks, aber auch MDMA, Ecstasy und Ketamin können gekauft werden. Offenbar wird der Job des Dealers inzwischen als so "normal" empfunden, dass der Verkauf in der Öffentlichkeit nicht einmal besonders kaschiert wird. So einfach der Handel ist, sollte doch auch der Zugriff für die Polizei sein, wenn Dealer schon ihre Telefonnummern hinterlassen. Oder?
Eine Nachfrage bei der Polizei Berlin.
"Zur Ermittlungs- und Einsatztaktik der Polizei Berlin erteilen wir keine Auskünfte", antwortet die Polizei. Das Vorgehen der Ermittler bewege sich jedoch stets im Rahmen gesetzlicher Vorgaben, heißt es weiter.
Wie die Polizei vorgeht, will sie nicht kommentieren. Doch mit Blick auf den zunehmenden Handel und das immer offensivere Vorgehen der Drogenszene rückt eben auch die Frage in den Vordergrund, wieso Dealer Konsequenzen nicht fürchten.
Dabei geht die Polizei durchaus gegen den Drogenhandel vor. Ein Beispiel: Anfang November werden unter anderem in Schöneberg und Charlottenburg Wohnungen durchsucht, Drogen, Mobiltelefone und Bargeld im fünfstelligen Bereich gefunden. Ein 26-Jähriger und sein 38-jähriger Komplize sollen "Kokstaxis" betrieben haben.
Ein anderes Beispiel aus einer Polizeimeldung: Drei mutmaßliche Drogendealer in Berlin-Charlottenburg werden gefasst. Zwei gerade einmal 19 Jahre alte und ein 21-jähriger Verdächtiger wurden auf dem Kurfürstendamm ergriffen, nachdem Polizisten ein Fahrzeug auffiel. Im Auto wurden Drogen und Bargeld sichergestellt.
2024 gibt es bereits 520 Ermittlungsverfahren gegen "Kokstaxis". Während der Pandemie waren es deutlich weniger Verfahren. Zum Ende hin stieg die Zahl jedoch, wie die Polizei Berlin auf Nachfrage von rbb|24 mitteilt. Wurden in den Jahren 2020 und 2021 jeweils 277 und 260 Verfahren eingeleitet, waren es 2022 bereits 412 Verfahren. 2023 wurde ein Top-Wert mit 713 Ermittlungsverfahren wegen "Kokstaxis" erreicht, die die Polizei unter dem Fallmerkmal "Lieferservice" dokumentiert.
Der Markt wird seit Jahren mit Kokain regelrecht überschwemmt. 2023 wurden mehr als 40 Tonnen Kokain in Deutschland beschlagnahmt [WDR.de], so viel wie nie zuvor. Die Funde scheinen aber keine wirklichen Auswirkungen auf den Drogenmarkt zu haben. Weder Engpässe noch gestiegene Preise waren zu beobachten. Die Qualität, also der Reinheitsgehalt des Stoffs, ist hingegen in den letzten Jahren immer weiter angestiegen und bemerkenswert hoch, wie Proben zeigten.
Letztes Jahr verdeutlichte eine EU-Studie [emcdda.europa.eu], dass der Kokain-Konsum in Berlin in einer Spanne von fünf Jahren um 58 Prozent angestiegen ist. Wozu dies möglicherweise geführt hat, zeigt eine Auswertung des Barmer-Instituts für Gesundheitssystemforschung, die erst im November veröffentlicht wurde. Demnach hat sich die Zahl der Menschen, die wegen Kokainmissbrauchs in ärztlicher Behandlung sind, innerhalb von zehn Jahren mehr als verdreifacht. Waren es 2013 bundesweit 19.700 Patientinnen und Patienten, stieg die Zahl im Jahre 2023 auf 65.000. Die meisten Patienten sind aus Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Niedersachsen und Berlin mit 7.230 Patientinnen und Patienten.
"Kokstaxis" bringen den Stoff direkt vor die Haustür oder vor die Bar oder den Club, je nachdem wo man sich gerade befindet. Der Kontakt läuft meistens über Telegram oder Whatsapp, 0,5 Gramm Kokain sind meistens für 50 Euro erhältlich. Das Koks stammt in der Regel aus Südamerika und wird über den Seeweg nach Europa geschmuggelt. Trotz moderner Technik in Seehäfen kommen Behörden nicht hinterher. Zu groß und zu lukrativ ist das Geschäft für die Händler, trotz aller Risiken.
Wie groß ist das Risiko für die Männer, die "Kokstaxis" durch Berlin steuern, aber wirklich? Vor allem, wenn sie doch ihre Telefonnummern frei zur Verfügung stellen? Kann die Polizei einen Kauf einfach vortäuschen und beim Verkauf die Dealer fassen?
Tatsächlich hängt an der Frage juristisches Gewicht. Denn grundsätzlich soll die Polizei bei ihren Ermittlungen im Sinne der Strafverfolgung Verdächtige nicht zu kriminellen Taten aufstacheln - Kriminalität soll also nicht provoziert werden.
So entschied auch der Bundesgerichtshof (BGH) vor einigen Jahren zu Gunsten von zwei Brüdern, die ein paar Kilogramm Marihuana an einen Mann verkaufen wollten. Der vermeintliche Käufer war ein verdeckter Ermittler, die Brüder flogen auf und wurden zu Haftstrafen verurteilt. In der Revision sah der BGH im Vorgehen der Polizei aber ein Problem: Die Brüder hatten bisher nur Mengen im Grammbereich verkauft [lto.de], der Ermittler hatte sie jedoch - nach ersten Käufen - mehrfach aufgefordert, ihm deutlich größere Menge an Marihuana und Kokain zu verkaufen.
Das Gericht erklärte, dass die Polizei bereits einen Verdacht gehabt haben müsste, dass die Brüder auch in solchen Größenordnung Handel betreiben - statt sie zu einer Tat in dieser Größenordnung anzustiften. Zudem wies das Gericht darauf hin, dass auch zu klären sei, ob die Brüder irgendeiner Form von Druck durch den verdeckten Ermittler ausgesetzt waren. Um Scheinkäufe durch die Polizei für nicht rechtens zu erklären, bedarf es neben der Verhältnismäßigkeit auch eines Nachweises, dass der Polizist dem Dealer besondere Anreize gab. Das kann etwa mehr Geld sein.
Benedikt Mick von der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen hält eine klarere gesetzliche Regelung für erforderlich. Der Strafverteidiger habe grundsätzlich "erhebliche Bedenken" gegen Tatprovokationen aller Art, "weil der Staat ja zuvorderst Straftaten verhindern oder aufklären und diese nicht etwa gezielt verursachen soll", sagt er. Der Jurist betont aber auch, dass die Rechtsprechung durchaus Raum für den Einsatz verdeckter Ermittler schaffe. Die bisherige Rechtsprechung halte initiierte Anstiftungen für zulässig, wenn diese sich gegen Personen richten, "die zum Zeitpunkt der staatlichen Provokation einer vorangegangen oder einer andauernden Straftat verdächtig sind."
Beobachtet die Polizei eine Person, wie sie Drogen im Internet oder auf Messenger-Portalen anbietet, hat sie Grund anzunehmen, dass die Person tatgeneigt ist. Ein vorgetäuschter Anruf durch einen verdeckten Ermittler bei einem "Kokstaxi"-Fahrer wäre daher zulässig. "Die Grenze dürfte jedenfalls dort erreicht sein, wo der Provokateur (ein verdeckter Ermittler, Anmerkung d. Redaktion) darauf aus ist, die in Verdacht geratene Person zu einer Tat zu bewegen, deren Unrechtsgehalt über dem eigentlich ersichtlichen Vorhaben liegt", sagt Mick.
In der Praxis könnte die Polizei also einen Scheinkauf durchführen. Sie müsste aber darauf achten, dass die Menge an Drogen in etwa jener entspricht, wie sie dem Dealer vorwirft, bereits verkauft zu haben - und die Polizei darf den Dealer nicht zu der Tat gedrängt oder überredet, also keiner Form von Druck ausgesetzt haben.
Fraglich ist, ob sich solche Einsätze für die Polizei am Ende überhaupt lohnen. Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) glaubt zumindest nicht daran, dass eine "Politik der Nadelstiche" ohne behördenübergreifende Maßnahmen ausreicht, um die "Kokstaxi"-Szene einzustampfen. "Ein 'Gamechanger' an der Front wären auch Scheinkäufe durch die Polizei nicht. Schließlich geht es hier zwar um Dealer, aber nicht die Strukturen dahinter. Die Kuriere reden oft nicht über die im Hintergrund operierenden Täter, die sie mit Stoff versorgen", sagt Jendro. Ein Drogenkurier, der erwischt wird, werde schnell durch einen anderen ersetzt.
Eine spezielle Ermittlungsgruppe der Polizei würde laut Jendro im Kampf gegen diese Art von Drogenhandel etwas bringen. "Kokstaxis gibt es mittlerweile in Berlin wie Sand am Meer, weil hier relativ schnell viel Geld zu machen ist. Wenn solche Fahrzeuge angehalten werden, sind das meistens Zufallsbeobachtungen. Ohne die entsprechende Anzahl an Kollegen, die sich nur auf dieses Phänomen konzentrieren, wird sich wenig ändern. Personal aber brauchen wir in allen Bereichen."
Sendung: rbb88, 21.11.2024, 06:10 Uhr
Beitrag von Hasan Gökkaya
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