Interview | Frankfurts Oberbürgermeister René Wilke
Der Frankfurter Oberbürgermeister René Wilke verließ im Juli die Linke und ist seitdem parteilos. Im Interview spricht er über die Kriegsängste von Polen und Deutschen und kritisiert ein "parteipolitisches Klein-Klein" vor der Bundestagswahl.
rbb|24: Herr Wilke, vor einem halben Jahr sind Sie bei den Linken ausgetreten. Es gab eine Entfremdung zu ihrer Partei, auch wegen des Ukraine-Krieges. Fühlen Sie sich jetzt besser?
René Wilke: Tatsächlich fühle ich mich gut mit der Entscheidung. Ich beobachte die Linke, aber auch andere Parteien mit einem gewissen Wohlwollen und auch Neugierde. Und ich fühle mich wohl in meiner Rolle als parteiloser Oberbürgermeister, weil das nach meinem Empfinden für die Art, wie ich die Arbeit mache, auch gut passt. Und es fühlt sich seitdem auch wieder stärker so an, dass ich in meiner Mitte bin und mit manchen inneren und äußeren Aushandlungsprozessen nicht mehr so herumkämpfen muss, wie das vorher der Fall war.
Der Ukraine-Krieg läuft seit über tausend Tagen nach diesem brutalen Angriff Russlands, was Sie persönlich sehr entsetzt hat. Sie sind selbst ja in Moskau aufgewachsen. Reflektieren sie diesen Krieg jetzt anders als vor zweieinhalb Jahren, als Sie ja auch schon wirklich sehr erschüttert waren?
Nein, daran hat sich nichts verändert. Ich glaube nach wie vor kann man sehr strittig zu dem Davor stehen. Aber was unstrittig sein sollte, ist, dass nichts von dem Davor einen derartigen Angriff gerechtfertigt hat. Dass nichts darüber hinwegtäuschen sollte, dass nur eine Seite mit Militär, Soldaten und Kriegsbestrebungen in ein anderes Land einmarschiert ist. Und von daher: Nein, es hat sich daran nichts geändert.
Spüren Sie persönlich eine Entfremdung zu den Frankfurtern mit dieser Ihrer Position? Bei den Landtagswahlen hat das BSW hier sehr stark abgeschnitten, die AfD noch viel stärker.
Also erstens weiß ich gar nicht, ob es wirklich so ist, dass alle, die diese Wahlentscheidung getroffen haben, zu 100 Prozent mit allen Positionen der Parteien übereinstimmen. Mir ging es zum Beispiel auch als Mitglied meiner Partei damals so, dass ich nie hätte sagen können: Ich stimme auch nur ansatzweise zu 100 Prozent überein.
Und zu der Entfremdung: Die spüre ich so gar nicht, weil ich glaube, dass das Bedürfnis der Menschen, dass sich daran vielleicht ausdrückt, total nachvollziehbar ist, nämlich in so furchtbar unsicheren Zeiten dann zu sagen, man wünscht sich Frieden. Dass es dann ein Dissens dazu geben kann, wie man zu einem solchen Frieden kommt und wie der Weg dorthin ist, da mag es Unterschiede geben.
Aber solange jemand empathisch ist mit dem Leid, das dort entsteht, solange Menschen sagen, sie wollen nicht, dass weiter gestorben wird, kann ich damit etwas anfangen. Ob nun keine Waffenlieferung dafür der Weg dann ist oder eben ein anderer Ansatz, das kann man politisch strittig diskutieren. Aber eine Entfremdung spüre ich daher nicht, weil das, was als artikuliertes Bedürfnis dahintersteckt, ja erstmal – ich glaube für fast alle – unstrittig ist.
Wie haben die Partner der Doppelstadt auf der polnischen Seite Ihnen gegenüber auf diese Wahlergebnisse reagiert? Polen hat ja eine viel stärkere und klare Haltung in der Unterstützung der Ukraine gegen Russland, weil sie auch selber reale Angst haben – und ein Stück Grenze direkt zu Russland.
Also wir haben in der Doppelstadt gelernt, nicht zu sehr unsere Debatten abhängig zu machen von den übergeordneten Debatten. Wir hatten ja auch lange Zeit eine PiS-Regierung in Polen. Wenn wir Deutschen uns an dem orientiert hätten und das zu sehr Einfluss hätten nehmen lassen auf unsere lokalen Beziehungen, wäre das ja auch nicht gut gewesen. Und deswegen messen wir uns eigentlich gegenseitig an dem, was wir lokal miteinander machen.
Die Slubicer Seite nimmt wahr, dass wir - als der Angriff in dieser zweiten Phase ging - den Ukrainern geholfen haben, dass wir am Bahnhof Herausragendes geleistet haben. Dass wir uns gegenseitig unterstützt haben dabei, diese Hilfe auch zu leisten. Dass es jetzt viele Ukrainerinnen und Ukrainer in Slubice, aber auch um Polen gibt, die hier gut aufgenommen wurden, die Teil der Stadtgesellschaft werden - das nehmen die Slubicer wahr als gemeinsame Basis hier vor Ort, und das stützt enorm viel.
Vor einem Jahr hat Polen eine autoritäre Regierung abgewählt. Hier in Frankfurt, in Brandenburg und überall werden autoritäre Kräfte stärker. Was nehmen Sie aus dieser polnischen Wahlentscheidung von vor einem Jahr in die politische Auseinandersetzung mit?
Vor allem die Hoffnung, dass es nicht zu weit gehen darf, dass es schon einen Kipppunkt gibt. Und den habe ich in Polen erlebt: dass die autoritären Kräfte ein Bedürfnis adressiert und auch erfolgreich aufgegriffen haben und dann aber in ihren Umsetzungsbestrebung so weit gegangen sind, dass das den gesellschaftlichen Konsens beschädigt hat und die Leute gesagt haben: 'Das akzeptieren wir nicht, wir wollen nicht, dass ihr aus diesem Land etwas so dermaßen anderes macht und wir den demokratischen Pfad verlassen.' Sie haben sich dann ausreichend dagegengestemmt und eine Veränderung organisiert, dass es eigentlich eines der starken Signale. Nun muss man es gar nicht erst so weit kommen lassen, finde ich.
Wir haben ja demnächst Bundestagswahlen...
Genau. Das ist vielleicht auch eine Lehre und ich hoffe sehr stark, dass diese Kräfte in unserem Land auch da sind. Ich glaube aber, nicht jede Person, die jetzt zur Wahl geht und anders abstimmt, als ich es tun würde, verbindet das mit dem Bild: 'Ich wähle jetzt eine Partei, die unser Land zu einem autoritären irgendwas umkrempelt.'
Ich glaube, die Wahlintentionen sind dann deutlich pragmatischer und – das ist nicht despektierlich gemeint – auch flacher. So intensiv ist die Auseinandersetzung nicht. Es ist eher manchmal sogar ein emotionales Bedürfnis, was damit artikuliert wird. Im Moment eher ein sehr starkes Sicherheitsbedürfnis und die Sorge vor Instabilität und Veränderung.
Was dürfen die Parteien der demokratischen Mitte auch der linken Parteien nicht tun, um diese Gefahr der autoritären Stärkung nicht zu erliegen?
Offen gesagt finde ich, dass diese Parteien, die eigentlich in dieser Wahl gestärkt hervorgehen wollen, gerade so ziemlich alles falsch machen, was man falsch machen kann. Zwar kenne ich niemanden, der sagt: 'Wir hoffen, dass die Ampel noch weiter macht.' Aber dass die Regierung auf diese unwürdige Art zerbricht, das trägt nicht zu Vertrauen bei.
Dass die Opposition und auch die FDP jetzt außerhalb der Regierung sagen: 'Ach, wir hatten da ein paar Kompromisse, aber die zählen jetzt nicht mehr.' Das ist eine Haltung, die sich gedanklich so sehr im parteipolitischen Klein-Klein befindet, wo alle denken, sie machen damit Punkte.
Die Menschen im Land wollen eigentlich doch nur sehen, dass es Unterschiede zwischen den Parteien gibt, aber an so entscheidenden Stellen schließen sie Kompromisse, raufen sich zusammen und kriegen das hin. Aber die Parteien werfen zugleich der Bevölkerung vor, sie sei gespalten und rau und aggressiv, aber sie leben dann selber genau das vor, sind kein besseres Beispiel.
Ich traue unserer Bevölkerung so viel zu – und das sollten, glaube ich, alle anderen auch tun –, dass sie sehr wohl unterscheiden können, ob Leute dazu verhelfen, dass gute Entscheidungen getroffen werden und Dinge passieren, oder ob das parteipolitisches Rumtaktieren ist. Also ja, ich glaube, dass derzeit da ganz viel mehr kaputt gemacht wird, als es angemessen und hilfreich ist.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wilke!
Das Interview führte Andreas Oppermann für rbb24 Inforadio. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine redigierte Fassung des Gesprächs mit Stefan Wolle.
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.11.2024, 11 Uhr
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