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Exklusiv statt inklusiv
Ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt ist für Menschen mit Behinderungen oft mit großen Hürden verbunden. In Berlin leben 25.500 Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung. Christel Jung ist eine von ihnen und macht den Selbsttest. Von Christina Rubarth
"Mausi, gerade!", ruft Christel Jung ihrer Blindenführhündin Jessy zu. Die beiden sind auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche unterwegs und suchen einen Glühweinstand.
Christel Jung hat nach einer Operation im Kindesalter ihre komplette Sehkraft verloren. "Wenn ich die Gläser klirren höre, dann weiß ich, da gibt es Glühwein", sagt sie. Doch statt an einem Glühweinstand landet sie am nächsten Blumentopf.
Sie und ihre Blindenführhündin Jessy sind eigentlich ein eingespieltes Team, aber laute Geräusche wie die auf Weihnachtsmärkten bringen das Duo aus dem Takt. So laufen sie am ersten Glühweinstand vorbei. "Bei der Lautstärke ist es mir überhaupt nicht möglich, mich zu orientieren", erzählt die 65-Jährige. Auf Weihnachtsmärkte geht die Frau aus Berlin-Marzahn deshalb nur selten.
Nur der Weihnachtsmarkt am S-Bahnhof Friedrichstraße fällt Christel Jung ein, bei dem es für Menschen mit Sehbeeinträchtigung leichter ist, denn dort gibt es viele freie Wegen. "Dort gibt es nur einen oder zwei Lautsprecher mit dezenter Musik. In der Regel ist es nicht voll und die Budeninhaber haben Zeit. Die rufen uns dann schon zu: 'Hier gibt es Bratwurst'." Die Budenbesitzer:innen, sagt Christel Jung, ließen sie dann auch alles anfassen. "Denn wir sehen ja mit den Händen", sagt sie in Bezug auf Menschen mit Sehbehinderungen.
Barrierefreie Weihnachtsmärkte zu finden, ist schwer. Die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe ist für den Berliner Weihnachtsmarkt-Finder [weihnachtsmaerkte.odis-berlin.de] verantwortlich. Märkte können in dem Online-Portal nach Öffnungszeiten, Themen oder kurzen Wegen gefiltert werden. Zudem gibt es eine Filtereinstellung, um gezielt nach barrierefreien Märkten zu suchen.
In dem Portal wird aber nur ein Markt als barrierefrei angezeigt: das "Weihnachtshaus" in der Villa Donnersmarck in Zehlendorf, geöffnet am 15. Dezember für drei Stunden. Es ist kein großer kommerzieller Markt, sondern der einer Stiftung, die sich für Inklusion stark macht.
Auf der Webseite des Schaustellerverbandes Berlin weist der Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche sich selbst als "barrierefreien Weihnachtsmarkt" aus - mit dem Bild eines Engels, der einen Menschen im Rollstuhl schiebt. Mit einem Rollstuhl ist der Markt befahrbar, aber bei allen anderen Behinderungen birgt er viele Hindernisse.
Christel Jung schafft es ohne Unterstützung nicht, bis zu einem Glühweinstand zu kommen. Stattdessen bleibt sie vor einer Bude stehen und fragt, was es wo gibt. Doch niemand antwortet ihr. Denn sie steht vor einer Plexiglasscheibe statt vor einem Menschen.
Es gibt weder einen Lageplan, an dem sich Menschen mit Sehbeeinträchtigung wie Christel Jung orientieren könnten, noch ruhigere Ecken oder sogenannte "Stille Stunden" ganz ohne Musik und flackernder Lichter, die einen Besuch beispielsweise für Menschen im Autismusspektrum möglich machen würden.
"Ich denke, das ist kein böser Wille, sondern einfach mangelnde Aufklärung, mangelndes Wissen", sagt Paloma Rändel vom Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein (ABSV) [absv.de] in Berlin. Die Ständebetreiber:innen seien sicherlich bereit, Menschen mit Beeinträchtigungen zu unterstützen, wenn sie wüssten wie. Möglicherweise müsste die Berechtigung von Weihnachtsmärkten auch an bestimmte Bedingungen gekoppelt werden, fordert Paloma Rädel und erklärt: "Dann wären die Betreiber auch gezwungen, zumindest darüber nachzudenken, wie man Märkte barrierefrei anbietet."
Der Verein ABSV vermittelt Ehrenamtliche, die Menschen mit einer Sehbehinderung unterstützen, sich auf dem Weihnachtsmarkt zurechtzufinden. Dass Märkte selten inklusiv gedacht werden - also für Menschen mit und ohne Behinderung - sei kein Berliner Phänomen, sagt Jonas Fischer vom Sozialverband Deutschland.
"Unter den online verzeichneten 2.432 Weihnachtsmärkten sind nur 19 als barrierefrei ausgewiesen", erläutert er und bemängelt: "Wir haben überall herumliegende Kabel, Treppen und Rampen, die zu einzelnen Ständen führen. Wir haben eben keine ruhigen Ecken für Menschen mit sensorischen Empfindlichkeiten oder im Autismusspektrum und auch selten nur taktile Leitsysteme für Sehbehinderte."
Das liege daran, dass Anbieter:innen nicht verpflichtet seien, ihre Märkte barrierefrei oder zumindest barrierefreier zu gestalten. Jonas Fischer sieht darin einen der größten Mängel. "Wir müssen nicht erwarten, dass die Gesellschaft - zumindest ist das die Erfahrung, die wir in den letzten Jahrzehnten gemacht haben - sich von selbst in eine barrierefreie Welt verwandelt. Wir brauchen aus unserer Sicht gesetzliche Maßnahmen, die dazu führen."
Menschen mit Behinderungen machen immerhin zehn Prozent der Bevölkerung aus und müssten deshalb ebenso ins Zentrum der Politik gestellt werden, fordert Jonas Fischer. "Wir wissen, dass Barrierefreiheit niemandem etwas wegnimmt, sondern für alle Menschen - ob mit oder ohne Behinderung - ein Zugewinn an Komfort und an Lebensqualität bedeutet." Zu oft stünden Profitinteressen im Vordergrund oder es gebe schlicht Unwissen.
Christel Jung hat es mit Unterstützung bis zum Glühweinstand geschafft und nippt nun an ihrer Tasse. "Ich habe das Gefühl, dass man unsere Zielgruppe nicht so auf der Rechnung hat. Also, dass wir mit unseren Bedürfnissen so ein bisschen hinten runterfallen." Vielleicht, weil sich keiner vorstellen könne, dass Blinde über den Weihnachtsmarkt gehen möchten, denkt die 65-jährige Berlinerin. Dabei wolle auch sie Geld auf dem Weihnachtsmarkt lassen.
Mit diesem Wunsch ist Christel Jung nicht allein. Ende 2023 lebten allein in Berlin 333.320 schwerbehinderte Menschen. 25.505 Menschen mit Sehbehinderung wurden gezählt, über 90.000 Menschen fielen unter die Rubrik Querschnittslähmung, zerebrale Störungen, geistig-seelische Behinderung oder Suchterkrankung. Nicht für alle von ihnen sind Weihnachtsmärkte eine Herausforderung, aber für viele.
Christel Jung würde sich Märkte wünschen, die ruhiger und weniger voll sind - nicht nur tagsüber, sondern auch abends. So könnte sie mit nicht-behinderten Menschen gemeinsam eine für alle schöne Weihnachtsmarktatmosphäre erleben. Bisher gibt es aber nur wenige Initiativen, die Marktbesuche zumindest etwas inklusiver gestalten wollen.
Im vergangenen Jahr hatten die "Stillen Stunden" auf dem Weihnachtsmarkt in Brandenburg an der Havel Premiere. Vier Stunden lang blieben die flackernden Lichter und die laute Musik aus. So konnten rund 150 Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen den Markt besuchen - darunter Menschen mit Autismus, die von den Geräuschen und bunten Lichtern sonst abgeschreckt werden.
Und auch die Schausteller waren begeistert. Für die "Stillen Stunden" reduzierten sie die Preise und ließen ihre Karussells und Buden lautlos und weitestgehend ohne schrille Discobeleuchtung laufen. Die Idee dazu kam von einer betroffenen Mutter, deren Tochter im Autismusspektrum ist und in ihrem Leben nur einmal einen Weihnachtsmarkt besuchte, weil sie die vielen Reize nicht verarbeiten konnte. In Brandenburg kam die Initiative in Zusammenarbeit der Stadtwerke mit der Beauftragten für Menschen mit Behinderungen zustanden. Die Schausteller setzten das Angebot dann um.
Damals halfen Ehrenamtliche, die an ihren leuchtend grünen Mützen erkennbar waren, den Menschen dabei, ins Karussell zu steigen oder die Bratwurst zu schneiden. Alle profitierten davon, denn der Markt war auch an einem Wochentag zur Mittagszeit voll.
Am 4. Dezember geht der reizarme Weihnachtsmarkt in diesem Jahr in die zweite Runde. Für vier Stunden bleiben Lichter und Musik aus. Das macht aus dem Weihnachtsmarkt in Brandenburg an der Havel [stadt-brandenburg.de] zwar noch keinen inklusiven, aber die "Stillen Stunden" sind ein kleiner Schritt für mehr Miteinander zwischen Menschen mit und ohne Behinderung.
Sendung: rbb24, 03.12.2024, 13:05 Uhr
Beitrag von Christina Rubarth
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