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Audio: rbb24 Inforadio | 22.03.2025 | Yasser Speck | Quelle: picture alliance/dpa/Peter Kneffel

Interview | Fünf Jahre nach erstem Corona-Lockdown

"Das hat das Vertrauen in die Politik maßgeblich untergraben"

Fünf Jahre ist der erste Corona-Lockdown her, der letzte endete im Frühjahr 2021. Aufgearbeitet ist die Zeit nicht. Sollte sie aber werden, sagt die Berliner Soziologin Jutta Allmendinger. Auch, um für die nächste Pandemie vorbereitet zu sein.

rbb|24: Frau Allmendinger, fünf Jahre nach dem ersten Corona-Lockdown sprechen darüber, wie unsere Gesellschaft jetzt dasteht. Wie definiert man gesellschaftlichen Zusammenhalt und ist er messbar?

Jutta Allmendinger: Zunächst einmal verstehen wir unter gesellschaftlichem Zusammenhalt, dass man füreinander einsteht und einander hilft. Man kann das auf unterschiedliche Arten messen.

Dazu gibt es Experimente. Beispielsweise, dass man frankierte Briefumschläge fallen lässt und schaut, ob sie aufgehoben und in den Briefkasten geworfen werden. Oder ob einer Person, die hinfällt, geholfen wird. Auch ob man in bestimmten Situationen die Polizei ruft, erste Hilfe leistet oder ob man alte Damen oder Herren sich hinsetzen lässt. Da geht es also um die vielen kleinen und großen Gesten, die zeigen, dass man aufeinander achtet – im Guten wie im Schlechten.

Zur Person

Jutta Allmendinger

Es läuft also vor allem über Experimente?

Nicht nur. Wenn man statt der Experimente einfach fragt, ob die Menschen gesellschaftlichen Zusammenhalt fühlen, macht man das in drei Schritten: Erst fragt man, ob der Mensch denkt, dass er mit anderen Personen verbunden ist, ihm geholfen wird und er Solidarität verspürt. Dann fragt man weiter, ob der Mensch denkt, auch die nächsten Generationen würden das tun. Und dann fragt man noch, wie das wohl bei den anderen Menschen ist. So bekommt man schnell heraus, wo Risse sind. Wenn also jemand sagt, ja, aber nur er mache das - sonst keiner - kann man nicht von gesellschaftlichem Zusammenhalt reden.

Es gibt also unterschiedliche Möglichkeiten. Die Verhaltensexperimente sind super. Das haben wir schon sehr oft in Berlin gemacht. Da können wir auch sehen, in welchen Stadtteilen der gesellschaftliche Zusammenhalt größer oder kleiner ist. Und wir können sehen, ob es einen Unterschied macht, an wen so ein heruntergefallener Brief adressiert ist. Also ob die Hilfsbereitschaft sich anders darstellt, wenn er an einen deutschen oder einen nicht deutsch klingenden Namen adressiert ist.

Wenn wir jetzt ins Frühjahr 2020 schauen und auf den ersten Corona-Lockdown, könnte man salopp sagen, dass alle zuhause geblieben sind, um die alten Menschen und sich gegenseitig zu schützen. Wie stand es damals um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. War der so gut, wie das klingt?

Es wäre Quatsch, zu sagen, dass wir damals - vor der Corona-Zeit - in einer Welt des engen Miteinanders und der offenen Türen für Flüchtlinge, Ausländer und Migranten lebten. Es gab auch 2015 schon Risse in unserer Gesellschaft. Wir waren auch vor Corona nicht im Wunderland.

Was dann aber 2020 passierte, war zunächst einmal ein ganz wichtiger Schritt, der mich emotional sehr berührt hat. Als man nämlich kurz nach Pandemiebeginn sah, dass in den systemrelevanten Berufen so viel mehr als normalerweise gearbeitet werden musste. Und das in einer Hochrisiko-Situation - denn man wusste ja gar nicht, ob sich die Person dabei anstecken wird. Da gab es den Applaus der Menschen auf den Balkonen.

In diesen ersten paar Wochen hat man der Politik Folge geleistet und der Wissenschaft geglaubt. Es gab keine Fragezeichen. Wir waren alle in Schockstarre. Wir haben uns gefürchtet und haben in der Tat darauf gehofft, dass uns gesagt wird, wo es lang geht. Das hat sich nach einer Weile aus unterschiedlichen Gründen aufgelöst.

Was ist passiert?

Es sind Kommunikationsprobleme passiert. Wir bekamen jeden Morgen gesagt, wie die Inzidenzzahlen sind. Die schwankten erheblich und man wusste nicht, warum. Schließlich wurde klar, dass die einzelnen Gesundheitsämter das unterschiedlich meldeten. Das hat das Vertrauen in diese Zahlen erschüttert. Sie waren nur noch ein Angstmacher.

Dann wurden Maßnahmen getroffen, die sich nicht aus medizinischen Empfehlungen ableiten ließen. Teilweise gingen manche Leute noch zur Arbeit, die Schulen waren aber geschlossen. Das mag Gründe gehabt haben, aber sie wurden nicht ordentlich erklärt und waren nicht nachvollziehbar.

Als sich dann die Wissenschaft weiterentwickelt hat, wurden teilweise Dinge revidiert, die man vier Wochen zuvor gesagt hatte. Die Wissenschaft lebt von der Falsifikation [Anm. d. Redaktion: Wiederlegung]. Das und warum unterschiedliche Virologen unterschiedliche Maßnahmen empfohlen haben, hätte man viel besser erklären müssen. Auch bei der Frage, wer die Bundesregierung berät, gab es Unklarheiten.

Das wurde dann - insbesondere in der Phase des Lockdowns - ausgenutzt durch am Anfang wenige Stimmen, die durch die sozialen Netzwerke massiv an Impact [Anm. d. Red.: Einfluss] gewonnen haben. Da hieß es, es gäbe gar kein Corona, das sei alles eine Manifestation der Diktatur, in der wir lebten. Dann kam es zu ersten Problemen mit Impfungen, die auch in den Quantitäten nach oben gezogen wurden. Gleichermaßen wurde sich zu wenig gekümmert um die, die betroffen davon waren. Dann kam noch Long-Covid auf. Das alles hat das Vertrauen in die Politik maßgeblich untergraben. Wir sehen, dass in dieser Zeit auch die AfD viele Stimmen gewonnen hat.

Haben diese Kommunikationsprobleme eine Spaltung der Gesellschaft herbeigeführt?

Es hat Misstrauen untereinander gesät. Man war mit Menschen zusammen und konnte nicht wissen, ob sie geimpft sind oder nicht. Es kam auch zu Konflikten innerhalb von Familien wegen dieser Themen. Wir wissen, dass innerhalb dieser Familien bis heute jede zehnte nicht wieder zusammengefunden hat. Außerdem gab es die Sorgen um die Schulleistungen, sowie die physische und psychologische Situation der Kinder. Es gab die Überforderungen der Mütter, die im Mental Load steckten. Es gab viele Belastungen, die eigentlich absehbar waren, die aber viel zu wenig thematisiert wurden. Da saß auch am Anfang niemand in den Kommissionen, der sagte, wenn eine bestimmte Maßnahme aus medizinischen Gründen notwendig ist, hat sie mit großer Wahrscheinlichkeit diese oder jene sozialen oder individuellen Folgen – man müsste also eine Kosten-Nutzen-Abwägung machen. Diese Diskussionen gab es erst sehr spät.

Sind viele dieser gesellschaftlichen Brüche aus dieser Zeit unüberwindbar – oder sind viele längst überwunden?

Zu dieser Fragestellung gibt es einige Untersuchungen. Da konnte man sehen, dass es bei immerhin fast der Hälfte der Familien zu großen innerfamiliären Konflikten kam. Wenn man das näher spezifiziert hat, war es bei etwa einem Viertel davon auch ein Jahr nach der Pandemie noch schwierig. Und dann gibt es die erwähnten zehn Prozent, die es bis heute nicht geschafft haben, zueinander zurückzukehren.

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Es heißt jetzt immer wieder, man müsse aus der Pandemie lernen. Doch das scheint vielen schwerzufallen. Warum?

Das hat damit zu tun, dass die Risse aus der Corona-Zeit noch immer da sind. Sie sind da, weil die Menschen Angst haben, dass es, wenn man das Thema auch nur aufgreift, wieder zu diesem Corona-Bashing und zu allem, was gerade ein bisschen überwunden wurde, kommt. Ich fordere sehr, Corona aufzuarbeiten. Aber es geht mir nicht darum zu sagen, wo jemand Mist gebaut hat. Sondern dass man schaut, welche Maßnahmen nicht ergriffen wurden, obwohl man sie hätte ergreifen können. Damit man es das nächste Mal besser machen kann. Man sollte schauen, welche Länder und Bundesländer was gut gemacht haben, welche Kommissionen, auch zur wissenschaftlichen Beratung, man hätte aufstellen und eventuell anders besetzen sollen.

Es geht mir nicht um Bashing. Es geht mir darum, alles auf den Tisch zu legen, es zu sortieren und sich die Studienlagen, die sich mittlerweile ergeben haben, anzuschauen. Um dann zu sagen, wie wir besser vorbereitet wären, wenn die nächste Pandemie kommt. Und sie wird kommen. Wenn wir das nicht machen, kann man das wirklich niemandem erklären.

Die Corona-Zeit war rückblickend auch eine irgendwie kuriose Zeit. Menschen schneiderten sich Masken, man begrüßte sich nicht mehr mit Handschlag, sondern mit Ellbogencheck. Ab wann darf man anfangen, über diese Zeit auch zu lachen?

Wenn sie aufgearbeitet und entstigmatisiert ist. Wenn sie über der Decke liegt und nicht mehr sorgfältig unter der Decke begraben ist. Man kommt nicht über diese Zeit hinweg, wenn man sie einfach beerdigt. Das geht schon allein deswegen nicht, weil es viele Menschen gibt, die bis heute unter den Folgen zu leiden haben. Mein Bruder hat Long-Covid. Da ist aus einem herumtobenden Mann eine Person geworden, die maximal einen Tag im Monat aufstehen kann. Das ist kein Einzelfall, darüber muss gesprochen werden. Diese Menschen fühlen sich sonst total abgehängt.

Wir sehen ja auch, dass Kinder und besonders Jugendliche, die in einer so wichtigen Phase aus ihrem Leben und ihrer Community herausgeworfen wurden, ganz viele transformative Erfahrungen gar nicht machen konnten. Sie haben einen Schaden davongetragen. Und wir haben zu wenige Psychotherapeuten. Bis heute gibt es ewig lange Listen für Mutter-Kind-Kuren. Da muss man doch etwas tun. Und wenn das getan ist, kann man auch mal lachen. Ansonsten bleibt einem das Lachen im Munde stecken.

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Was braucht unsere Gesellschaft, um wieder zusammenzurücken?

Es ist zwar unbeliebt, das zu sagen, aber man müsste wieder mehr vom Homeoffice Abstand nehmen. Denn das nimmt uns die Häufigkeit des Aufeinandertreffens, des Miteinanderlebens und des Miteinander-auch-über-andere-Dinge-Redens. Wir brauchen viel mehr Orte der Begegnung. Wir brauchen jetzt alles, was uns zusammenbringt, uns einander nähern und uns kennenlernen lässt.

Eine Aufarbeitung wäre ein notwendiger Schritt in diese Richtung. Dafür würde ich auch in Kauf nehmen, dass Corona-Leugner und andere Verschwörungstheoretiker toben. Denn wir dürfen uns vor diesen Menschen nicht klein machen und kuschen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Yasser Speck für rbb24 Inforadio.

Sendung: rbb24 Inforadio, 22.03.2025, 7 Uhr

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