#Wiegehtesuns? | Die Arbeitssuchende
Keine Bewilligung der Weiterbildung, keine Job-Angebote, zwei kleine Kinder zu Hause, die Zeit im Nacken und die bohrende Angst, in Hartz IV abzurutschen - Protokoll einer Arbeitssuchenden zu Corona-Zeiten.
Das Coronavirus stellt unser Leben auf den Kopf. In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.
Selda A. [Name von der Red. geändert], 46 Jahre alt, ist Diplom-Betriebswirtin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern (5 und 8 Jahre) in Berlin-Charlottenburg. So geht es Selda:
Seit dem 1. März 2020 bin ich arbeitssuchend gemeldet. Ich habe vorher in Probezeit bei einem Start-Up im Vertrieb gearbeitet. Als klar war, dass sie meine Stelle nicht brauchen, hat mir das eigentlich gut gepasst. Ein Job im Sales, also im Vertrieb, ist oft verbunden mit Reisen, und das ist bei meiner familiären Situation schwierig. Ich habe zwei kleine Kinder. Also wollte ich die Gelegenheit nutzen, um mich beruflich umzuorientieren.
Ich bin 46, und das war eine der letzten Möglichkeiten, nochmals neu durchzustarten.
Direkt am 4. März habe ich ein vierwöchiges Coaching angefangen. Zu diesem Zeitpunkt war es nicht absehbar, welche Schwierigkeiten wegen des Coronavirus' auf uns zukommen werden. Das änderte sich schnell: Die letzten beiden Coachingstunden waren dann schon per Videokonferenz. Ich entschloss mich, eine Weiterbildung im Bereich Personalentwicklung zu machen, denn ich habe schon immer gerne mit Menschen gearbeitet. Ich suchte mir also ein passendes E-Learning-Angebot heraus. In der momentanen Situation hätte eine Online-Weiterbildung den Vorteil, dass ich flexibler darin bin, wann ich lerne. Denn wegen Corona muss ich mich tagsüber um meine Kinder kümmern.
Die Zeit, in der ich ALG I beziehe, wollte ich für die Weiterbildung nutzen. Diese beginnt im Mai und ist auch gar nicht teuer. Ich habe nur noch grünes Licht von der Agentur für Arbeit gebraucht. Doch das kam nicht. Auch Stellenangebote blieben aus. Ich hatte den Eindruck, die Agentur für Arbeit stellt sich tot und habe nachgehakt, was los ist. Mein Betreuer hat mich zurückgerufen und mir gesagt, dass er sich im Moment nicht um Leute wie mich kümmern kann. Denn verständlicherweise stellen gerade viele Leute Anträge auf Kurzarbeit. Deswegen sei die Bewilligungsabteilung komplett damit beschäftigt und habe keine Zeit für die Bewilligung von Weiterbildungen. Vor Herbst würde das nix.
Ich war total erschrocken. Denn im Spätherbst erlischt mein Anspruch auf Arbeitslosengeld I und ich würde in Hartz IV abrutschen. Das hat mir sehr viel Angst gemacht. Mein Mann ist noch in der Probezeit. Trotz der Kurzarbeit auf 80 Prozent arbeitet er gefühlte 120 Prozent, um sicherzustellen, dass er in der jetzigen Situation den Job nicht verliert. Denn dort sind Leute gekündigt worden. Hartz IV würde für uns ein Desaster bedeuten mit der hohen Miete und den Kosten, die wir haben.
Man hängt selbst so zwischen den Seilen und denkt sich: Eigentlich wollte ich doch meine Job-Chancen erhöhen, noch mal Weiterkommen im Leben. Aber ich habe mir dann gedacht: Vergiss die Weiterbildung und versuche, einen Job mit deiner Qualifikation zu finden, der nicht im Sales oder einem Start-Up ist – was in Berlin nicht so einfach ist. Solange die Kitas und Schulen zu sind, kann ich mich nur abends um Bewerbungen kümmern. Und das Angebot ist nicht groß. Es können auch keine direkten Gespräche und Einarbeitungen stattfinden. Viele Unternehmen hoffen, dass es im Juni und Juli wieder vorbei ist und verschieben die Rekrutierung auf die Zeit "nach der Pandemie" – aber wer weiß, wann das ist.
Es ist ein richtig schlimmer Rattenschwanz: Wegen Corona hat die Arbeitsagentur keine Zeit, Weiterbildungen zu bewilligen, Angebote bleiben aus. Gleichzeitig bleibt mir wegen der Kinderbetreuung nur wenig Zeit, mich selbst zu bewerben.
Mir sitzt die Zeit im Nacken, denn in einem guten halben Jahr läuft mein Arbeitslosengeld I aus. Jedenfalls habe ich der Agentur für Arbeit am 18. April einen Brief geschrieben und sie aufgefordert, "uns nicht auf die Wartebank zu setzen". Denn so wie die Unternehmen die Möglichkeit zur Kurzarbeit erhalten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sollte es auch für Arbeitssuchende Möglichkeiten geben, um zu verhindern, dass sie unverschuldet in ALG II rutschen. Jetzt warte ich seit rund zwei Wochen auf eine Rückmeldung.
Gesprächsprotokoll: Ula Brunner
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